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Normale Version: reine vs. praktische Vernunft
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Gundi

Hallo Leute,

vieleicht kann mir jemand bei folgendem Zitat helfen, welches sich auf Kants Kritik der reinen Vernunft bezieht:

"Die Vernunft kann nur das an der Natur erkennen, was sie vorher in sie hinein denkt."

Dies sagt ja aus, dass das so genannte "Ding an sich" nicht von unserem Verstand erkannt werden kann, sondern lediglich,... äh, ja was eigentlich genau? Nur der Teil der unserem modellhaften Denken (mit Raum und Zeit) zugänglich ist? Und dieser Teil bildet dann den praktischen Verstand, wohingegen das "Ding an sich", also die reine Vernunft uns verschlossen bleibt?
Wie darf man das konkret verstehen?
Können wir Dinge daher nicht als "an sich" begreifen weil unser Verstand ganz automatisch Begriffe wie Raum und Zeit u.a. mit diesem Ding in Verbindung bringt (als Erkenntnis vor jeder Sinneswahrnehmung)?
Falls jemand sich zutraut das verständlich zu erklären wäre ich seeeehr froh :icon_cheesygrin:
Was Kant hier meint, ist etwas, das in nahezu allen Wissenschafttheorien wieder auftaucht auf die Frage: Was können wir wissen?
Das Einzige, was wir wissen können, sind die Modelle, die wir uns von den Dingen außerhalb von uns selbst machen - einschließlich des Selbstmodells (Ich-Bewusstsein). Aus der parallelen Funktion des Modells (in unserem Wissen) und dem Ausgang vieler Experimente (Reaktion der Außenwelt) folgt kein Wissen über die Außenwelt.

Angesichts des Erfolges vieler - keineswegs aller - Modelle postulieren wir lediglich die Existenz einer objektiven Welt. Wir reden nur so, als seien Welt und Modell identisch. Das ist in den Standardfällen praktisch, aber nicht korrekt. Optische und akustische Täuschungen beruhen auf dieser Tatsache, ebenso das permanente Versagen unserer Modelle in Grenzsituationen (u. a. ganz riesig, ganz klein, ganz schnell, bei enormer Gravitation).

Gundi

(19-05-2010, 17:48)Ekkard schrieb: [ -> ]Was Kant hier meint, ist etwas, das in nahezu allen Wissenschafttheorien wieder auftaucht auf die Frage: Was können wir wissen?
Das Einzige, was wir wissen können, sind die Modelle, die wir uns von den Dingen außerhalb von uns selbst machen - einschließlich des Selbstmodells (Ich-Bewusstsein).

Ja, soweit habe ich das auch verstanden.

(19-05-2010, 17:48)Ekkard schrieb: [ -> ]Aus der parallelen Funktion des Modells (in unserem Wissen) und dem Ausgang vieler Experimente (Reaktion der Außenwelt) folgt kein Wissen über die Außenwelt.

Hier habe ich meine Probleme. Wenn wir über die Außenwelt (das Ding an sich) nichts erfahren, worüber dann? Darüber wie dieses Ding sich zu unserem Modell verhält? Aber das sagt doch dann auch etwas über das Ding aus, oder? Nur eben nicht im Ganzen... (grübel Eusa_think)

(19-05-2010, 17:48)Ekkard schrieb: [ -> ]Angesichts des Erfolges vieler - keineswegs aller - Modelle postulieren wir lediglich die Existenz einer objektiven Welt. Wir reden nur so, als seien Welt und Modell identisch. Das ist in den Standardfällen praktisch, aber nicht korrekt. Optische und akustische Täuschungen beruhen auf dieser Tatsache, ebenso das permanente Versagen unserer Modelle in Grenzsituationen (u. a. ganz riesig, ganz klein, ganz schnell, bei enormer Gravitation).

Hm... das klingt ja so als ob wir theoretisch nur das richtige Modell finden müssten, welches eben auch die Spezialfälle erklärt. Laut Kant werden wir aber niemals bis zur "reinen Vernunft" vorstoßen können, weil unser Verstand selbst uns schon Grenzen aufweist (zb.Raum und Zeit).
Vielleich hilft Dir dieser Dialog aus "Sophies Welt" weiter?

Kant: Würden Sie freundlicherweise durch dieses Teleskop blicken? Was sehen Sie?

Sophie: Einen Fleck. Einen blass-blauen runden Fleck. Ein leuchtender Stern? Nein, da sind

Schatten ... Ah! Ein Planet ... Moment, da sind so Ausbuchtungen, nein das sind Ringe ...

Ah, das ist der Saturn!

Kant: Sehen Sie: Die Begriffe Fleck, Stern, Planet, Ringe und auch der Name Saturn hat Ihr Verstand produziert. Das, was Sie als Saturn bezeichnen, hat sich nach Ihrem Verstand gerichtet. Der Saturn an sich hat sich nicht geändert.

Sophie: Ist das das berühmte "Ding an sich"?

Kant: Exakt. Wir können über die Gegenstände an sich nichts Sicheres sagen. Sie gehören zu den Dingen an sich, die dem Menschen nie zur Verfügung stehen werden.

Sophie: Heißt das, der Mensch kann sie weder mit seinen Sinnen noch mit seiner Vernunft je begreifen?

Kant: Ja. Die Vernunft kann nur das an der Natur erkennen, was sie vorher in sie hineindenkt!
(19-05-2010, 18:04)Gundi schrieb: [ -> ]Hier habe ich meine Probleme. Wenn wir über die Außenwelt (das Ding an sich) nichts erfahren, worüber dann? Darüber wie dieses Ding sich zu unserem Modell verhält? Aber das sagt doch dann auch etwas über das Ding aus, oder? Nur eben nicht im Ganzen ...
Deine Vermutung stimmt so nicht. Hingegen ist die Frage berechtigt: Worüber dann.
Wir erfahren durch unsere Modellvorstellungen und deren Funktionsweise etwas über die Beziehungen diverser Teile zueinander. Nehmen wir die Differenzialgleichung, die zur "Wurfparabel" führt. Wir erfahren etwas über den Zusammenhang von 3 Formvariablen (Anfangswinkel, Spannweite und maximale Höhe) zueinander. Hinreichendes Wissen über die Differenzialrechnung und Integration vorausgesetzt und Vorgabe gewisser Anfangswerte reproduziert Messreihen.

Normalerweise gibt man sich damit zufrieden und sagt: Ein Steinwurf gehorcht der Bewegungsgleichung. Genau genommen stimmt das alles nicht. Weder Bewegungsgleichung noch irgendeiner andern physikalischen Formel kommt irgendeine Realität "an sich" zu. Es handelt sich lediglich um ein mathematisches Konstrukt menschlichen Geistes. Auch die Reproduktion von Messreihen geschieht im Übrigen gar nicht so exakt, wie dies die klassische Bewegungsgleichung vorschreibt. So sind für die Satellitennavigation ein Reihe von "relativistischen" Korrekturen erforderlich, damit wir auf einige Meter genau an unser Ziel kommen.

(19-05-2010, 18:04)Gundi schrieb: [ -> ]... das klingt ja so als ob wir theoretisch nur das richtige Modell finden müssten, welches eben auch die Spezialfälle erklärt.
Was ist ein "richtiges" Modell? Die "Richtigkeit" macht aus einem Modell nicht die Realität. Diese könnte für menschlichen Geist dermaßen abstrakt sein, dass wir keine Beschreibungsformen dafür haben.

Die "Richtigkeit" ist ja nur durch eine hinreichende (dem menschlichen Geist für seine Zwecke ausreichend erscheinende) Reproduktion von Daten definiert. Unsere Beschreibungsformen (also z. B. die allgemein relativistischen Bewegungsgleichungen) dienen allein unseren Zwecken.

Beispiel: Neuronale Netzwerke können ebenfalls Bewegungsabläufe iniziieren und steuern. Sie machen dies völlig anders als durch Lösen der Bewegungsgleichung. Beide Verfahren sind im vorstehenden Sinne "richtig", weil sie Erfahrungen reproduzieren, wobei das neuronale Netzwerk der Integration sogar überlegen ist, obwohl diese Art der Steuerung ziemlich "doof" ist. Ist deshalb die parametrische Steuerung neuronaler Netzwerke realer als die Bewegungsgleichung? Sicher nicht!

(19-05-2010, 18:04)Gundi schrieb: [ -> ]Laut Kant werden wir aber niemals bis zur "reinen Vernunft" vorstoßen können, weil unser Verstand selbst uns schon Grenzen aufweist (zb.Raum und Zeit).
Korrekt: Raum und Zeit wurden von Kant als vorgeprägte Vorstellungen entlarvt.
Die moderne Philosophie beruft sich allerdings auf die Evolutionsbiologie und sagt: Da der Mensch mit diesen Vorstellungen überleben konnte, müssen wir davon ausgehen, dass diese Vorstellungen der Realität angepasst sind - also zu adäquatem Verhalten führt.

Aber selbt dabei bleibt offen, was Raum und Zeit "an sich" sind. Sicher ist nur, dass das darauf begründete Verhalten erfolgreich ist. Und diese Aussage gilt auch für unsere sonstigen Modellvorstellungen.

Gundi

Lieber Ekkard, lieber Bion, liebe Zahira,

vielen Dank für eure Erklärungsversuche.
Hatte jetzt einige Zeit um mich näher mit den Gedanken Kants auseinanderzusetzen und denke dass ich jetzt grob (!!!) verstehen was er meint.
Muss ehrlich sagen, dass mir seine Art zu philosophieren nicht unsympatisch ist und er wirklich sehr interessante Ideen hat.

Habe z.b. erfahren dass Kant selbst religiös war (was ja eigentlich im Gegensatz zu seiner Lehre steht), dies aber vornehmlich aus praktischen Gründen. Das er also der Meinung war der Mensch braucht Religion um eine funktionierende und moralische Gesellschaft aufrecht zu erhalten.