Uns sind von den Germanen mindestens 8 Totenreiche bekannt: Hel, Walhall, Sessrumnir, Bilskirnir, Ran, Gimle, Sindri und Gefjons Gefolge.
Würde man die alten Sagen, die uns überliefert sind, grundlegend
unreflektiert betrachten, so bekämen die Totenreiche folgende Funktionen:
- Hel ist erstmal das Standard-Totenreich. Ein unterirdisches Land, dessen Eingang im hohen Norden liegt. Hel ist weder ein Ort der Bestrafung (vgl. Hölle) noch ein Ort der Heiterkeit (vgl. Himmel), sondern ein Ort wie unsere Welt auch - wertneutral. Einfach das Land der Toten. Dort leben sie wie wir, betreiben Feldbau, feiern, et cetera... nur ein Strand unten in Hel, dort gelangen Meuchelmörder und Diebe hin, und dort ist das Leben gar nicht angenehm. Klar, sie werden nicht bis in die Ewigkeit gefoltert, aber wo giftige Gase wabern und Schlangen in den Häusern hausen, da ist es nicht schön. Desweiteren gibt es noch Nifhel, das ist der dunkelste, nebeligste und tiefste Ort Hels. Dort hin gelangen jene, die selbst in Hel noch einmal gestorben sind! Ein entkommen von dort ist schier unmöglich...
- Stirbst du allerdings in einer Schlacht, wirst du von den Walküren - weiblichen Geistwesen - nach Asgard, dem Götterland im Nordhimmel gebracht. Als erstes begleitet man dich nach Sessrumnir - es ist die Fest-Halle der Liebesgöttin Freyja auf ihrem Hof Folkwang. Entweder sie wählt dich, bei ihr zu bleiben, oder schickt dich hinfort.
- In diesem Falle gelangst du in die höchstgelegene und ehrenhafteste aller Hallen - Walhall. Der Gastgeber hier ist Götterfürst und Herr der Geisterwelt Odin. Wer hier hin gelangt wird ein sog. "Einherjer" - tags über trainieren sie sich im Kampfe, nachts feiern sie ausgiebige Feste.
- Stirbst du aber auf hoher See, in dem du über Bord gehst und ertrinkst, dann gehst du der Riesin Ran in die Falle, die in den dunklen Tiefen mit ihrem Netz lauert und auf solche wie dich wartet. Sie zieht dich dann hinunter auf den Grund des Meeres, wo du in ihrem nassen Reich, das so heißt wie sie, verbleibst.
- Warst du dein ganzes Leben lang Knecht oder Magd, so gelangst du im Tode wiederum in die Halle Bilskirnir, dort auf dem Hofe des Gottes Thor, der u.a. der Gott des einfachen Bauern ist. Bilskirnir ist das gewaltigste Gebäude aller Welten.
- Wenn du aber unverheiratet oder gar als Jungfrau stirbst, so wirst du im Tode in das Gefolge der Gefjon, einer Fruchtbarkeits-Göttin, einziehen. Auf ihren Wanderschaften durch die Lande wird sie von ihrem Gefolge stets
begleitet.
- Sindri wird erst nach dem finalen Schicksal der Götter Ragnarok - quasi sowas wie ein Weltuntergang - erbaut werden. Hel wird ohne Führung und zerrüttet sein, daher werden die Götter für all die menschlichen Opfer der apokalyptischen Katastrophen Hels, die reinen Herzens sind, eine Halle ganz in der Nähe bauen, nahe dem Land der Zwerge.
- Gimle wird zur selben Zeit erbaut werden, aber hoch oben im Himmel. Die Überlebenden Ragnaroks, die auf Seiten der Götter gekämpft haben werden, werden dort die Ewigkeit in paradiesischen Verhältnissen zubringen.
Allerdings ist das reine Vertrauen auf die Sagen, ohne sie reflektiert und im Kontext zu sehen, äußerst narrenhaft. Anderen Religionen geht es da ja ähnlich, denke ich.
Viele Sagen sind uns von christlichen Gelehrten wie dem Isländer Snorri Sturluson überliefert, die ihr christlichen Weltbild integrierten, das das heidnische ganz und gar verfälscht. Viele Sagen geben auch überhaupt nicht den richtigen Glauben der Menschen wider, sondern sind lediglich zur Unterhaltung geschrieben, demnach ist da vieles hinzu gedichtet. Erst wenn man die germanische - und indogermanische! - Kultur im Ganzen betrachtet, gelingt es nach und nach herauszufiltern, was denn gelebter Glaube, und was nicht, gewesen sein
könnte.
Bei den Totenreichen
Gimle und
Sindri springt es einem schon in's Auge, dass es sich hierbei um christliche Einflüsse handelt. Selbiges gilt für diesen Strand des Elends in Hel. Ein gutes Herz zu haben, die Zahl und Schwere der Sünden, das sind typisch christliche Kriterien für das Totenreich.
Bilskirnir als Totenreich dagegen mag wohl eher eine dichterische Erfindung sein, stammt die Annahme doch aus einer Sage, in der Odin und Thor stellvertretend für den Edelmann/Krieger und den kleinen Mann/Bauern mit einander zanken. Und da Odin als Gastgeber der gefallenen Krieger gilt, so steht Thor hier als Souverän der toten Bauern - bis in den Tod.
Die Sage von
Ran kann zwar durchaus bereits in heidnischer Zeit bestanden haben, wird aber wohl lediglich von den wenigen Seeleuten wirklich geglaubt wurden sein. Zum Großteil waren die Germanen Bauern, ob auf Island oder im Hainich. Sie hätten keinen Grund gehabt, an eine Meeres-Toten-Riesin zu glauben.
Walhall mag es zwar auch gegeben haben, doch auch dieser Glaube wird für die meisten Germanen kaum Relevanz gehabt haben. Lediglich im seltenen Falle eines Krieges, oder innerhalb einiger Krieger-Bünde, wird dieser Glaube großartig Geltung gehabt haben, und das auch erst im Mittelalter.
Es kommt also darauf hinaus, dass
Hel das Totenreich der Germanen war. es wird auch wohl kaum ein Land des Schreckens, des Elends oder so gewesen sein, so wissen wir z.B. von muslimischen Reisenden, aber auch aus Pendants z.B. bei den Kelten, dass Hel eher wie unsere Welt gedacht wurde. Inklusive Wäldern, Wiesen, Flüssen und Dörfern. Dieser Glaube war für fast alle Germanen der einzig relevante bezüglich Totenreich, und Bion schrieb ja auch: Nach Hel kommen war ein Synonym für sterben. Der Glaube war so fest verwurzelt in der Bevölkerung - nicht nur, dass unser heutiges Wort für das unterirdische Totenreich Hölle auf Hel zurück geht, sondern auch, dass z.B. noch der hochmittelalterliche Kaiser Barbarossa sein Totendasein in der Erde, im Kyffhäuser, pflichtet.
Wahrscheinlich hatte das Totenreich auch eine Herrin, eine Göttin, die Mutterschaft aber eben auch den Tod in sich vereinte - Holda, Frija, oder auch Frau Holle genannt. Schon das Märchen erzählt von einem schönen unterirdischen Land, das der Guten gehört. Aber auch sonst gibt es recht viele Gemeinsamkeiten von spätgermanischen Göttinnen wie Frigg, Freyja, Hella oder Gefjon zur Gestalt, die wir heute Frau Holle nennen - diese Göttinen werden wohl aus der Holle hervor gegangen sein oder sind zumindest verwandt mit ihr. So wird
Gefjons Gefolge sicherlich auch aus der weiblichen Totengöttin, die auch Fruchtbarkeit bringt, hervor gegangen sein, und
Sessrumnir wird ein weibliches Pendant zu Walhall sein, das noch - quasi - der alten Totengöttin Holle untersteht.