(20-04-2017, 23:42)Sinai schrieb: [ -> ]Ich lade dazu ein, einen Befund zu machen, welche Sichtweisen zur Erdgestalt es neben dem kopernikanischen Weltbild gab und gibt.
Wie Ekkard schon sagte, hat das kopernikanische Weltbild hat nichts mit dem Thema "Erdgestalt" zu tun. Wie ich oben ausgefuehrt habe, war die Diskussion ueber die Kugelgestalt der Erde 2000 Jahre davor weitgehend abgeschlossen. Da der Platonismus und die darauf aufbauenden Philosophien (Mittelplatonismus, Neuplatonismus) die Kugelgestalt der Erde lehrten, und da die christliche Kirche, obwohl sie immer wieder gegen Philosophen polemisierte, stark von platonischen Vorstellungen beeinflusst war und diese weitgehend uebernahm, war diese Frage mehr oder weniger schon vor Christi Geburt erledigt.
Ausnahmen habe ich auch genannt. Die sumerisch-babylonische (und damit juedische) Vorstellung der flachen Erde wird in der Bibel an einigen Stellen noch bemueht (allerdings mehr oder weniger indirekt), und einige fruehe Kirchenvaeter haben noch versucht, dies als christliche Vorstellung von der Erde zu etablieren, aber letztlich erfolglos; die Mehrheit der Kirche verwarf solche Versuche schon damals, wie man an den einflussreichen fruehmittelalterlichen Enzyklopaedien sehen kann, die sich in diesem Punkt einig sind.
Bei nichtschriftlichen Kulturen herauszufinden, was diese frueher einmal dachten, ist extrem schwierig. Wenn sie nicht irgendwie anders Aufzeichnungen hinterlassen haben, z.B. als Bilder, laesst sich so etwas nur sehr schwer klaeren. Was die Aegypter angeht, kennt man genug Beschreibungen. Diese sind den babylonischen Vorstellungen sehr aehnlich. Der Erdgott Geb liegt flach ausgestreckt da und bildet die Ebene, auf der wir leben; die Himmelsgoettin Nut stand als riesige Kuh ueber der Erde oder bildete als junge Frau einen Bogen ueber Geb. Die Vorstellung mit den vier Saeulen, gegabelten Staendern oder Bergen, die den Himmel tragen, war auch dort praevalent.
Da man zwar sagen kann, dass die Bibel den sumerisch-babylonischen Vorstellungen in dieser Hinsicht weitgehend folgt, die Aussagen aber meist so vage sind, dass man sie auch gutwillig anders interpretieren kann (z.B. die "vier Ecken der Erde" einfach als "sehr weit weg"), war das fuer die Kirche nur selten ein Problem.
Warum aber haben wir solch eine Diskussion hier ueberhaupt? Im Prinzip sehen wir hier die Nachwirkung der zum Teil aeusserst polemisch gefuehrten Kaempfe waehrend der Umwaelzungen, die unser Bild von der Welt im 19. Jahrhundert drastisch veraenderten. Dazu gehoeren auch die ganzen Debatten zwischen religioesen und wissenschaftlichen Vorstellungen in der Zeit. Heute hoert man oft, dass Kolumbus die unwissende Menschheit endlich von der Angst befreit haette, sie koennte bei der Seefahrt ueber den Rand der Erdscheibe herunterfallen, aber das ist, wie bereits gesagt, reine Polemik aus dem 19. Jhdt., da die Menschen es auch damals besser wussten.
Ironischerweise wurden diese Polemiken gerade von religioes-kreationistischer Seite beliefert. In ihrem Eifer, die wissenschaftlichen Umwaelzungen zu bekaempfen, gab es einige sehr erfolgreiche kreationistische Rhetoriker, die der eigentlich toten Idee von der flachen Erde neues Leben einhauchten. Der erste dieser Art war
Samuel Birley Rowbotham, der unter dem Pseudonym "Parallax" im Rahmen der damals sehr beliebten, bezahlten oeffentlichen Vortraege und Diskussionsveranstaltungen seine These von der flachen Erde z.B. in ganz England und Irland verbreitete. Er war dabei rhetorisch so geschickt, dass er es oft genug schaffte, das Publikum auf seine Seite zu ziehen, und selbst angesehene Wissenschaftler der Zeit in der Debatte auszustechen. Wohlgemerkt, das lag nicht an seinen Argumenten, sondern an seinen ausgezeichneten rhetorischen Faehigkeiten. Fachleute heute sind sich immer noch nicht darueber im Klaren, ob er diese Ansichten, die er verbreitete, eigentlich selbst glaubte. Die Vortraege waren gut bezahlt, und er bezog sein Einkommen daraus; er scheint sich also mehr oder weniger das absurdeste Thema ausgesucht zu haben, das die Sensationsgier der Menschen bediente, um damit Massen anzuziehen.
"Parallax" hatte viele Nachfolger, und das Thema ging nie ganz weg. Das ist kulturhistorisch meiner Meinung nach sehr interessant, zeigt es doch an einem Extrembeispiel auf, wie kreationistische Rhetorik ihre Wirkung entfaltet. Das ist auch deshalb so ein schoenes Thema, da wohl nur die wenigsten Menschen ein Problem damit haben werden, zu akzeptieren, dass die Erde weitgehend rund ist; deshalb kann man sich darauf konzentrieren, wie solche Menschen es verstanden, ihr Publikum von dieser selbst zu ihrer Zeit vollkommen absurden Idee zu ueberzeugen (die Mechanismen sind uebrigens immer noch dieselben, wie Kreationisten sie heutzutage anwenden). Wen das Ganze naeher interessiert, dem kann ich das Buch "Flat Earth - The History of an Infamous Idea" von Christine Garwood empfehlen.