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Realität, Mythos und Wahrheit
#6
@Ekkard:

Zitat:Realität ist die Welt des sinnlich oder messtechnisch Erfahrbaren. Sie ist gekennzeichnet durch Wirkungen, die nicht oder nicht allein durch unsere Vorstellungen verursacht werden. Ob es eine „konforme Realität“ – also eine mit unseren Reaktionen und Vorstellungen übereinstimmende - Realität gibt, kann man nicht wissen. Allerdings spricht Vieles dafür, dass wir in überlebenswichtigen Einzelheiten ausreichende Vorstellungen (Repräsentationen von Realität) besitzen.

Ich denke, dass man hier differenzieren könnte, z.B. durch die Kategorien An-sich und Für-uns. Was du ansprichst, ist das Für-uns. Das An-sich nenne ich ´Wirklichkeit´, das Für-uns ´Realität´. Das, was du "konforme Realität" nennst, entspricht dem korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff, der von Kant gründlich dekonstruiert wurde. Kant sagte: Wir erfahren das An-sich nur vermittels der subjektiven Anschauungsformen von Raum und Zeit und der prästrukturierenden Verstandeskategorien. Wir erfahren es also ´für uns´. Heute können wir hinzufügen: Die Form unserer Erfahrung ist prädeterminiert durch die Funktionen der Sinnesorgane, durch unsere biologischen Bedürfnisse und durch unsere psychologische Struktur. Dem steht das transzendente An-sich gegenüber, welches Kant (allerdings nicht mit letzter Konsequenz) für unerkennbar hielt.

"Repräsentationen" des An-sich kann es natürlich nicht geben, da Repräsentationen sich nur auf Ereignisse/Zustände beziehen, die bereits vorstrukturiert sind, nämlich per Anschauungsformen und Verstand (um bei Kant zu bleiben). Repräsentationen sind innerpsychische Vorstellungen vermittels eines Symbolsystems, das Teil des transzendentalen pseudo-realitäts-konstruierenden Rasters ist

Das An-sich transzendiert die symbolische Ebene. Aber auch das Bewusstsein kann diese Ebene transzendieren. Die Disziplin, die sich theoretisch und praktisch damit befasst, ist - in Ost und West - die Mystik.

Zitat:Mythos ist die Erzählung über Glaubensinhalte, häufig aus ferner Vergangenheit. Für sich genommen ist ein Mythos eine (Ver-)Dichtung religiöser oder märchenhafter Erfahrungen und Vorstellungen dessen, was sein sollte.


Ich meine eher, dass ein Mythos Glaubensinhalte nicht vermittelt, sondern produziert. Ich halte es mit Jan Assmanns These, dass ein Mythos dazu dient, Rituale zu rechtfertigen. Mythen werden von Priestern geschaffen, wenn der Glaube an Rituale an Kraft verliert. Zweifelt der Mensch am Sinn eines Rituals (des Opfers, der Buße usw.), dann vermag ihm der Mythos die Begründung und damit den Sinn zu liefern. Der Mythos ´rationalisiert´ das Ritual, indem er dessen Sinn dem Verstand zugänglich macht. Allerdings ist in diesem Stadium der Verstand nicht fähig, den Mythos selbst zu hinterfragen, der noch als der Weisheit letzter Schluss gilt. Erst mit Hesiod, mit Parmenides und endgültig mit Platon entsteht eine Haltung, die den Mythos durch den Logos, die philosophische Unterscheidung von Sein und Schein, zu ersetzen beginnt.

Dass Rituale eine frühere Schicht bilden als die Mythen, darüber besteht in der Religionswissenschaft weitgehend Konsens (Assmann z.B. bezieht sich auf mehrere Vorgänger wie Schott und Otto).

@Bion:

Zitat:(...) stellt S. Freud u.a. zusammenfassend fest:

(...) Religion ist ein Versuch, die Sinneswelt, in die wir gestellt sind, mittels der Wunschwelt zu bewältigen, die wir infolge biologischer und psychologischer Notwendigkeiten in uns entwickelt haben.
[…]
Ihre Lehren tragen das Gepräge der Zeiten, in denen sie entstanden sind, der unwissenden Kinderzeiten der Menschheit.

Für die Theologie, wie sie an den Universitäten heute betrieben wird, ist diese Aussage überholt. Niemand dort glaubt an einen Gott, wie er in der Bibel beschrieben ist.

Ich meine, dass man sich von der intellektualisierenden Oberfläche der Theologie nicht täuschen lassen sollte dahingehend, der christliche Glaube habe durch sie zu einer reiferen, das Infantile transzendierenden Form gefunden. Theologie ist eine Oberflächenstruktur, die seit Justins philosophischer Hellenisierung des biblischen Glaubens immer komplexer geworden ist, ohne die biblische Tiefenstruktur abschütteln zu können oder auch nur zu wollen. Der Glaube an Gottes Wille und der Glaube an seine Güte und Allmacht und an seine Offenbarung durch den Gottessohn Jesus bilden für jeden Theologen das Gerüst seines Glaubens. Wäre es nicht so, wäre er kein Christ. Also ist Freuds Theorie auch auf die Theologie bzw. auf Theologen anwendbar.

@Ekkard:

Zitat:Ich bin persönlich der Meinung, dass es nicht um 'Wahrheit' geht, sondern um 'Zusammenleben'. Was so genannte "Heilige Schriften" verkünden, hat im weitesten Sinne etwas mit der Seinsweise des Menschen und sozialen Problemen zu tun, auch wenn sich diese Probleme in der Vorstellungswelt abspielen.

Du scheinst ein Anhänger des funktionalistischen Religionsbegriffs zu sein. Ich reduziere Religion keineswegs auf ihre soziale Funktion. Diese ist, meine ich, nur einer ihrer Aspekte, der wiederum in Gemeinschaftsfunktion und Herrschaftsfunktion differenzierbar ist.

@Noumenon:

Zitat:(...) die seitens vieler Religionen aufgestellten und auf die Wirklichkeit bezogenen Aussagen, also die, über die tatsächlich-reale Existenz einer Art Gottes (Weltschöpfers), Jenseits oder Seele, sind zunächst einmal schlicht naturphilosophische Hypothesen, nicht mehr und nicht weniger.

Die religiös motivierten Mythendichter kannten weder den Begriff der Natur noch den der Philosophie noch den der Hypothese. Die von dir gemeinten Aussagen sind ohnehin keineswegs "hypothetisch" gemeint, sondern kategorisch. Hypothesen sind vorläufige und falsifizierbare Annahmen über Ursache-Wirkungs-Verhältnisse. Erst wenn eine Hypothese sich hartnäckig der Falsifizierung widersetzt, mutiert sie zum (Natur-)Gesetz. Selbst dann ist sie potentiell noch falsifizierbar.

Was also haben Hypothesen mit religiösen Aussagen zu tun? Nichts.
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RE: Realität, Mythos und Wahrheit - von Ekkard - 24-03-2013, 21:48
RE: Realität, Mythos und Wahrheit - von Bion - 25-03-2013, 17:03

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