Themabewertung:
  • 0 Bewertung(en) - 0 im Durchschnitt
  • 1
  • 2
  • 3
  • 4
  • 5
Markusevangelium 2,1-12 - "Heilung des Gelähmten"
#1
Die nachfolgend zitierte Perikope Mk 2,1-12 ("Heilung des Gelähmten") gibt Gelegenheit, an einem Beispiel die Arbeitsweise und Motivation markinischer/vormarkinischer Redaktion zu analysieren sowie einige im Text erscheinende christliche Motive ansatzweise zu untersuchen: Wunder, Sünde und Vergebung. Um den Beitrag nicht zu überladen, vertiefe ich diese Themen in weiteren Beiträgen und gehe dort auch auf die geschichtlichen Zusammenhänge anderer in der Perikope auftretenden Motive ein, nämlich ´Vollmacht´ (griech. exousia), ´Glaube´ (griech. pistis) und ´Sohn des Menschen´.
 
Mk 2:
 
(durch markinische oder vormarkinische Redaktion mutmaßlich eingefügtes Streitgespräch fettmarkiert)

Zitat:
1 Und nach etlichen Tagen ging er wieder nach Kapernaum; und als man hörte, dass er im Haus sei, 2 da versammelten sich sogleich viele, so dass kein Platz mehr war, auch nicht draußen bei der Tür; und er verkündigte ihnen das Wort. 3 Und etliche kamen zu ihm und brachten einen Gelähmten, der von vier Leuten getragen wurde. 4 Und da sie wegen der Menge nicht zu ihm her­ankommen konnten, deckten sie dort, wo er war, das Dach ab, und nachdem sie es aufgebrochen hatten, ließen sie die Liegematte herab, auf dem der Gelähmte lag. 5 Als aber Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!
6 Es saßen aber dort etliche von den Schriftgelehr­ten, die dachten in ihren Herzen: 7 Was redet die­ser solche Lästerung? Wer kann Sünden vergeben als nur Gott allein? 8 Und sogleich erkannte Jesus in seinem Geist, dass sie so bei sich dachten, und sprach zu ihnen: Warum denkt ihr dies in euren Herzen? 9 Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind die Sünden vergeben! oder zu sagen: Steh auf und nimm deine Liegematte und geh umher? 10 Damit ihr aber wisst, dass der Sohn des Menschen Vollmacht hat, auf Erden Sünden zu vergeben – sprach er zu dem Gelähmten: 11 Ich sage dir, steh auf und nimm deine Liegematte und geh heim! 12 Und er stand sogleich auf, nahm seine Liegematte und ging vor aller Augen hinaus, so dass sie alle erstaunten, Gott priesen und sprachen: So etwas haben wir noch nie gesehen!

Das sich um Sündenvergebung drehende (halb ´telepathische´) Streitgespräch dürfte seinen Ursprung in Konflikten der Urgemeinden mit ihrem jüdischen Umfeld in der Frage der gemeindlich praktizierten Sündenvergebung haben. Solche Konflikte werden - wie von Bultmann auch in anderen Zusammenhängen aufgezeigt - fiktiv auf Jesus rückprojiziert, um ein klärendes Wort ´von höchster Stelle´ zu konstruieren, das jüdischen Gegnern vorgehalten werden kann. In theologischen Kreisen nennt man die historisch-praktische Situation, aus der heraus eine Lehranschauung ursprünglich entwickelt wurde und in ihr dann dogmatische Verwendung fand, den ´Sitz im Leben´ (engl. life situation). Im 19. Jh. hatte Hermann Gunkel, der Begründer der formgeschichtlichen Methode, diesen Begriff in Bezug auf das AT geprägt, von Bultmann wurde er auf das NT übertragen. Die Überlieferungskette bis zum fertigen Mk sähe dementsprechend so aus:
 
(1) Konflikte frühester Gemeinden mit Judentum - (2) Entwicklung apologetischer Lehranschauungen - (3) orale Tradierung dieser Anschauungen - (4) erste Verschriftlichungsstufe (einzelne Perikopen) - (5) (evtl.) vormarkinische Redaktion dieser Stufe - (6) Aufnahme ins Mk, wobei theologisch-christologische Anschauungen des Redaktors Markus in das bearbeitete Material einfließen (was auch bei Matthäus, bei Lukas und besonders bei Johannes zu beobachten ist).
 
Die formgeschichtliche Methode im Gefolge von Gunkel und Bultmann versucht, ausgehend von der gegebenen Stufe 6, die Formen-Kette bis zur ursprünglichen Konfliktsituation ("Sitz im Leben") zu rekonstruieren.
 
Seit Wrede und, ihm darin folgend, Bultmann sind die meisten Exegeten davon überzeugt, dass die Verse 5b-10 (Streitgespräch) in die ursprünglich eigenständige Wundergeschichte 1-5a/11-12 eingefügt wurden (a / b bedeuten: erste / zweite Vershälfte), und zwar entweder von Markus selbst oder von Redaktoren in der vormarkinischen Tradition. Entnommen wurde das Streitgespräch vermutlich einer dem Redaktor vorliegenden Sammlung solcher Gespräche, die - nebenbei bemerkt - nicht aus Q stammen kann, da diese hypothetische Spruchsammlung, soweit rekonstruierbar, keine Streitgespräche enthalten zu haben scheint.
 
Exegeten wie Theißen, Berger, Schmithals und Klumbies nehmen im Gegensatz zur vorgenannten Position an, dass der Text einheitlich entstanden ist. Dabei müssen sie allerdings die mehr als zweifelhafte Voraussetzung machen, dass das "sie alle" in Vs.12 die Schriftgelehrten einschließt (siehe weiter unten).
 
Darüber hinaus verweisen einige Exegeten auf eine vermeintliche Diskrepanz zwischen 5b und 10 hinsichtlich des Vergebungsmodus, so dass auch 5b der Wundergeschichte zugerechnet werden könne, diese das Sündenvergebungsmotiv also ansatzweise schon enthalte (eine ebenfalls zweifelhafte Position, siehe auch dazu weiter unten).
 
Zunächst einmal ist evident, dass das Streitgespräch die Wundergeschichte in zwei Teile zerschneidet, was für diesen Geschichtentyp im Mk uncharakteristisch ist. Laut Wrede liegt der Zweck der Einfügung darin, dem zentralen Motiv der so konstruierten Perikope - die Sündenvergebung durch Jesus - durch das Vermögen des Jesus, Wunder zu vollbringen, eine beglaubigende Grundlage zu geben, d.h. wer solche Wunder zu leisten imstande ist, der vermag auch zu tun, was nur ´Gott´ vermag (7b: "Wer kann Sünden vergeben als nur Gott allein?"). Mehr noch: Das Heilungswunder dient als Beleg für den Vollzug der Vergebung, der ohne den Beleg für das szenische Publikum (sowie die Leser- und Hörerschaft der Perikope) nicht ´nachprüfbar´ wäre und eine bloße Behauptung des Jesus sein könnte. Das wird in Vs.9 angedeutet, wo Jesus darauf hinweist, dass es "leichter" sei, eine Sündenvergebung auszusprechen als einen Gelähmten zum Aufstehen aufzufordern, da - und das ist implizit wohl gemeint - nur der Erfolg des letzteren für Dritte nachprüfbar ist.
 
Dass die Heilung in damaliger Sicht als Beleg für eine erfolgte Sündenvergebung verstanden werden kann, ergibt sich aus der altorientalischen und vom Judentum übernommenen Auffassung von Krankheit als Strafe aufgrund einer Schuld, die aus einem verfehlten Gottesverhältnis resultiert. So bedeuten das griechische ´hamartia´ und das hebräische ´chatat´, die beide mit dem etwas irreführenden Wort ´Sünde´ übersetzt werden, das Verfehlen eines Ziels. Unter dem Ziel ist das harmonische Verhältnis eines Menschen zur göttlichen Instanz zu verstehen, welches im Judentum als Einhaltung der ´Gesetze´ definiert ist. Ein Verstoß gegen eines der Gesetze führt zur Störung des Verhältnisses Mensch-Gott und möglicherweise zur Bestrafung durch eine von ´Gott´ verhängte Krankheit. Nun sind diese Gesetze - es sind Hunderte - so vielfältig und kompliziert, dass es für Juden schon aus Gedächtnisgründen praktisch unmöglich ist, jedes von ihnen ständig einzuhalten, was unvermeidlich zur Schuldanhäufung führt. Als Schlupfloch aus diesem schwer erträglichen Dilemma wurde das Gnaden-Konzept, also die Sündenvergebung, entwickelt.
 
Ein weiteres Indiz für die Einfügung des Streitgesprächs ist für Bultmann, dem die meisten Exegeten auch in diesem Punkt folgen, die Spannung zwischen 5b-10 (skeptische Haltung der Schriftgelehrten) und Vs.12 (affirmative Haltung der Zuschauer nach vollbrachter Heilung). Nichts in Vs.12 weist spezifisch auf eine Reaktion der Schriftgelehrten hin, es heißt nur, dass "sie alle erstaunten und Gott priesen", was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Schriftgelehrten aber ausschließt, die im Mk eine durchweg skeptisch-negative Rolle zu spielen haben. Die oben erwähnten Theißen, Berger, Schmithals und Klumbies dürften mit ihrer kühnen Vermutung, dass Vs.12 mit seinem "sie alle" auch Jesus bejubelnde Schriftgelehrte involviert, daneben liegen.
 
Markus ist hier eine logische Unstimmigkeit unterlaufen (Widerspruch von "sie alle" und ausgeschlossenen Schriftgelehrten), da er den Schluss der Wundergeschichte nicht mit der eingefügten Passage verständlich abgeglichen hat, was auch dann seine Aufgabe gewesen wäre, wenn die Einfügung auf vormarkinische Redaktion zurückginge.
 
Ein letztes Indiz für eine Einfügung ist das doppelte Erscheinen von "sprach er zu dem Gelähmten" (5a und 10b), was auf ein nachträgliches Verkitten des Streitgesprächs mit der Wundergeschichte hinweist, deutlich zu erkennen an dem sprachlich inkorrekten Wechsel in Vs.10 von wörtlicher Rede ("damit ihr aber wisst...") zu erzählendem Bericht ("sprach er zu dem Gelähmten").
 
Im Matthäus-Evangelium erfährt die Legitimation zur gemeindlichen Sündenvergebung noch eine Zuspitzung, indem die Vollmacht zur Vergebung von Jesus explizit auf Petrus übertragen wird (direkt nach dem Petrusbekenntnis):
 
Mt 16:
 
Zitat:19 Und ich will dir die Schlüssel des Reiches der Himmel geben; und was du auf Erden binden wirst, das wird im Himmel gebunden sein; und was du auf Erden lösen wirst, das wird im Himmel gelöst sein.

Nun weisen manche Exegeten darauf hin, dass die Aussage in Mk 2,5b ("Sohn, deine Sünden sind dir vergeben", im griechischen Satz grammatisch eine im Moment des Sprechens vollzogene Handlung) ein ´passivum divinum´ (göttliches Passiv) darstellt, das in jüdisch-christlichen Texten eine Handlung durch ´Gott´ anzeigt. Diese Passivkonstruktion stünde, so die Exegeten, im Gegensatz zur aktiven Konstruktion in Vs. 10, der zufolge Jesus die Sünde vergibt, was zeige, dass 5b nicht Beginn des Streitgesprächs ist, da in einem Fall ´Gott´ und im andern Jesus das Handlungssubjekt sei.
 
Gegenargument:
 
Man beachte im Vergleichstext Mt 16,19 die Parallelisierung des aktiven Vergebens durch Petrus ("was du auf Erden lösen wirst") mit dem passivum divinum der Vergebung im Himmel ("das wird im Himmel gelöst sein"). Im gleichen Sinne dürfte das passivum divinum in Mk 2,5b als Parallelisierung von 10a zu deuten sein, d.h. Jesus, der als von ´Gott´ bevollmächtigt dasteht, ´löst auf Erden´, was ´auch im Himmel gelöst´ ist, oder anders: Der passive Modus (durch ´Gott´) und der aktive Modus (durch Jesus) des Vergebens sind zwei Seiten einer Medaille, denn in christlicher Sicht handelt ´Gott´ in Jesus.
 
Vers 5b ist von daher als Beginn des eingefügten Streitgesprächs zu verstehen.
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Markusevangelium 2,1-12 - "Heilung des Gelähmten" - von Tarkesch - 04-04-2017, 16:22

Möglicherweise verwandte Themen…
Thema Verfasser Antworten Ansichten Letzter Beitrag
  Markusevangelium Jule18 6 9052 19-04-2007, 07:53
Letzter Beitrag: Fritz7

Gehe zu:


Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste