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Existentialismus nach Jean Paul Sartre (atheistisches Weltbild)
#16
(14-11-2009, 17:08)humanist schrieb: Zum atheistischen Weltbild kann ich noch anmerken, dass viele Atheisten ihre Argumente auf wissenschaftlichen Prinzipien und Logik aufbauen.
Ich denke, daher rührt auch die Ablehnung von Religion. Man möchte Beweise sehen.
Solche Menschen sind eine Folge der aufgeklärten, modernen und wissenden Gesellschaft.

Ja, das sehe ich ganz genau so. Man kann auch so etwas aufstellen wie eine kleine Geschichte des Atheismus, indem man historisch wichtige Positionen der Aufklärung herausarbeitet. Mit solchen Aussagen bewegt man sich aber nah an einer Vereinheitlichung des Atheismus im Abendland. Man kriegt schnell Haue, wenn man diese Gedanken als Christ äußert :icon_cheesygrin:
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#17
Ich fasse zusammen:
Du fasst die Bibel als Zusammenspiel moralischer Regeln und kultureller Geborgenheit auf. Ich behaupte, zweiteres folgt indirekt aus ersterem, aufgrund der Aufmachung.
Du sagst, je nach Zeitgeist interpretiert der Mensch die Bibel. Ich versuche objektiv die damalige Intention, die Bibel zu verfassen, zu betrachten.

Ich finde es verwerflich, Leuten eine angeborene Sünde zu propagieren. Der Mensch kommt als unbeschriebenes Blatt Papier auf die Welt und entwickelt sich anhand seiner Gene und der Umwelteinflüsse. Für mich neben der Hölle eine pädagogisch problematische Erfindung der Religion.

Heinrich schrieb:Zeitweilig wurde die Erbsünde sicher als solche Masche verwendet. Und mit zeitweilig meine ich Jahrhunderte lang. Dahinter steckten oft finanzielle oder politische Interessen der kirchlichen Machthaber.
Die Erbsünde jedoch darauf zu begrenzen, scheint mir eine gewagte These zu sein. Schließt dein Verständnis doch aufrechten Glauben nahezu aus oder diskreditiert ihn als Naivität.
Auf diese Folgerung könnte man in der Tat kommen. Ich lehne ja nicht den Mensch ab, jeder Mensch ist mir heilig.
Als was wird die Erbsünde, deiner Meinung nach, heutzutage erachtet?
Den Zusammenhand zur Psychologie habe ich nicht ganz verstanden.
"What can be asserted without proof can be dismissed without proof." [Christopher Hitchens]
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#18
Nunja, Christen versuchen gerne den Atheismus als eigene Religion zu verfremden.
Ein Fehler wie ich finde.
Nirgendwo sind soviele Individualisten und Freidenker zu finden, wie unter Atheisten.
"What can be asserted without proof can be dismissed without proof." [Christopher Hitchens]
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#19
(14-11-2009, 17:20)Heinrich schrieb:
(14-11-2009, 16:48)humanist schrieb: Ich empfinde keine existentielle Sünde. Woher auch. Das ist doch nur eine Masche den Leuten einzureden: Heh ihr da, ihr seid Sünder! Lebt nach der Bibel, dann werdet ihr Erlösung finden.
Existentielle Angst vor dem Tod: In meinem Alter noch nicht. Die bekommt sicher jeder irgendwann.

Zeitweilig wurde die Erbsünde sicher als solche Masche verwendet. Und mit zeitweilig meine ich Jahrhunderte lang. Dahinter steckten oft finanzielle oder politische Interessen der kirchlichen Machthaber.
Die Erbsünde jedoch darauf zu begrenzen, scheint mir eine gewagte These zu sein. Schließt dein Verständnis doch aufrechten Glauben nahezu aus oder diskreditiert ihn als Naivität

da ich die sache mit der erbsünde genauso sehe wie humanist, möchte ich doch fragen, was du unter "aufrechtem glauben" verstehen willst und inwiefern die ablehnung einer "sünde ohne tat" (dafür verantwortlich gemacht zu werden, was andere getan haben) diesen diskreditiert

(14-11-2009, 17:20)Heinrich schrieb: Im Christentum wird das Problem solcher Empfindungen auf überraschend wirksame Weise gelöst. Lösungen werden erdacht, die sich prinzipiell von Verfahren moderner Psychotherapie wenig unterscheiden. Lösungen, die jedoch allein auf christlichen Inhalten referieren, also christlichen Ausdrucksweisen verhaftet bleiben

du scheinst davon auszugehen, daß der mensch natürlicher weise solche empfindungen einer "urschuld" hat. ich seh das eher so, daß das christentum hier eine lösung für ein problem hat, das es selber erst geschaffen hat
einen gott, den es gibt, gibt es nicht (bonhoeffer)
einen gott, den es nicht gibt, braucht es nicht (petronius)
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#20
(14-11-2009, 17:41)humanist schrieb: Ich fasse zusammen:
Du fasst die Bibel als Zusammenspiel moralischer Regeln und kultureller Geborgenheit auf. Ich behaupte, zweiteres folgt indirekt aus ersterem, aufgrund der Aufmachung.
Du sagst, je nach Zeitgeist interpretiert der Mensch die Bibel. Ich versuche objektiv die damalige Intention, die Bibel zu verfassen, zu betrachten.

Die Bibel wurde von verschiedenen Autoren zu verschiedenen Zeiten verfasst. Von einer einheitlichen Intention auszugehen halte ich eher dann für erforderlich, wenn man eine göttliche Inspiration belegen will.
Im Bereich der Auslegung von Texten allgemein lehne ich es ab von einer ursprünglichen Intention des Autors auszugehen, die so etwas wie den wahren Inhalt des Textes ausmachen soll. Man begibt sich bei der Auslegung von Texten in den Bereich der Spekulation. Spekulationen als wahren Inhalt von Texten darzustellen empfinde ich als unangebracht.

Ich sehe noch weitere Funktionen von heiligen Texten als nur moralische Regeln und kulturelle Geborgenheit, z.B. Regeln zum Leben innerhalb der Gemeinde und zur Gottesdienstgestaltung (was ja keine moralischen Regeln sind), reine Unterhaltung, Beantwortung existentieller Fragen (Anfang und Ende der Welt, Leben nach dem Tod), etc...
Zwischen diesen Funktionen bestehen Wechselwirkungen. Von einem Primat auszugehen, das die anderen bestimmt, halte ich für schwierig. Mir genügt es zu erkennen, dass Wechselwirkungen bestehen und welche das sind.
Natürlich standen manche Funktionen besonders oft im Vordergrund der zeitgenössischen Betrachtung und natürlich haben diese Funktionen unser Verständnis von Religion entscheidend geprägt. Ich stimme auch zu, dass moralische Regeln zu den zentralsten Funktionen gehören. Ob sie wichtiger sind als kulturelle Geborgenheit, darüber mag ich nicht streiten. Ich weiß es nämlich nicht. Momentan scheint mir persönlich Geborgenheit etwas wichtiger zu sein. An deinen Überlegungen zum Thema bin ich aber sehr interessiert.


(14-11-2009, 17:41)humanist schrieb: Ich finde es verwerflich, Leuten eine angeborene Sünde zu propagieren. Der Mensch kommt als unbeschriebenes Blatt Papier auf die Welt und entwickelt sich anhand seiner Gene und der Umwelteinflüsse. Für mich neben der Hölle eine pädagogisch problematische Erfindung der Religion.

Ich denke, dass weniger die Propaganda im Vordergrund stand als die Erklärungsnot für gewisse Befindlichkeiten.
Dass es nicht zum guten Ton gehört jemanden Schuld einzureden um ihn für seine eigenen Ideen begeistern zu können, sehe ich ähnlich wie du.


(14-11-2009, 17:41)humanist schrieb: Auf diese Folgerung könnte man in der Tat kommen. Ich lehne ja nicht den Mensch ab, jeder Mensch ist mir heilig.
Als was wird die Erbsünde, deiner Meinung nach, heutzutage erachtet?
Den Zusammenhand zur Psychologie habe ich nicht ganz verstanden.

Zu aller erst ist die Erbsünde das theologische Konzept, das du durch ein Zitat erläutert hast. Die Frage ist: was bezeichnet es?
Da leuchtet mir die Erklärung: "Etwas, das es nicht gibt", nicht ein. Wie sollte man etwas bezeichnen können, was es nicht gibt?

Ich suche also nach inneren Zuständen, Gemütslagen, Gedanken, die mit Erbsünde gemeint sein können. Es gibt nur eine Möglichkeit diese Suche anzugehen: Nach ähnlichen Konzepten/ Begriffen suchen.

Ein Konzept existentieller Schuld begegnet mir in der Literatur Kafkas. Besonders eindrücklich finde ich seinen Roman "Der Prozeß", der mit dem prägnanten ersten Satz beginnt: "Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet."

Ein weiteres Konzept ist ein Inhalt symptomatischer Erscheinungen des Krankheitsbildes der Depression (und anderer psychosomatischer Erkrankungen). Ein irrational übersteigertes Schuldgefühl, das den Erkrankten dazu veranlasst sich selbst keine Lebensfreude mehr zu gönnen. Er fühlt sich schuldig dafür, wenn er sich freut, weil er nicht sieht, dass er es verdient hat. Er fühlt sich teilweise sogar schuldig dafür, dass er überhaupt existiert.
Therapiert wird das oft indem in langen Gesprächen mit dem Therapeut ein neues Bewusstsein dafür geschaffen wird, dass man als Mensch überhaupt etwas wert ist, von Grund auf, ohne dafür eine Leistung erbringen zu müssen. Hierzu ist Überzeugungsarbeit nötig, denn der Erkrankte hat bereits Erklärungsmuster für sein Schuldempfinden gefunden, von denen er sich loslösen muss. Die christliche Erlösung durch den Opfertod Jesu Christi am Kreuz spielt imho nichts anderes auf symbolischer Ebene durch. Eine radikale Veränderung, die von der Erbsünde erlöst und damit einen neuen Menschen schafft.
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#21
Definiert man Atheismus allein durch die Abwesenheit des Glaubens an jedweden Gott, so bin ich Atheist. In erster Linie sehe ich mich aber als Agnostiker. Es gibt für mich nicht den Anlass die 'Aussage' "Es gibt keinen Gott", nicht einmal "Es gibt keinen Schöpfergott" zu vertreten. Ich habe einfach keine Erklärung für den Ursprung der Welt.

Hinter dem Gottesglauben des Einzelnen, sehe ich zuerst die Frage nach dem "Wieso": Die Frage nach dem Ursprung von Welt und Leben und die Frage nach dem Sinn der eigenen Existenz. Hier bietet der Glaube an einen Schöpfergott eine eindeutige Antwort und der Mensch bevorzugt m.E. eine klare Antwort, die er versteht (oder zu verstehen glaubt), gegenüber keiner Antwort.
Verbunden mit dem Glauben an einen solchen Schöpfergott ist es, wie ich finde, plausibel, dass Hoffnungen mit diesem Gott verbunden werden, wie die Hoffnung auf ein weiterleben nach dem Tod. (Auch die Frage "Was passiert, wenn jemand stirbt?" ist eine, die sich wohl fast alle Menschen, die mit Tod konfrontiert werden stellen) Der Glaube spendet so Trost beim Verlust emotional naher Personen. Auch die Hoffnung auf Gerechtigkeit -wo es augenscheinlich auf der Erde ungerecht zugeht- kann mit diesem Gott verbunden werden. Dies führt dann vielleicht zur Idee eines Strafenden/Belohnenden Gottes. Dieser muss aber dann auch ein Maß vorgeben, wonach er Menschen be/verurteilt. Aber woher soll dieses kommen? Die Gemeinschaft hat vielleicht einen geistigen Anführer, der diese Idee diese Gottes besonders gut vermitteln kann. Vielleicht fühlt er sich wirklich von Gott inspiriert, wenn er sein eigenes Wertesystem als das von Gott ansetzt. Vielleicht will er diesem dadurch nur autorität geben. Vielleicht lebt die Gemeinschaft nur nach diesen seinen Regeln und die Verbindung zu Gott beruht auf Legendenbildung um diesen ehemaligen geistigen Führer. Da gibt es wohl massenhaft Möglichkeiten. Die Regeln beruhen aber bei diesen jeweils auf den Vorstellungen einer oder mehrerer Personen der Gemeinschaft und mögen von den Mitgliedern als sehr weise angesehen werden. Es macht diese Vorstellungen und darauf beruhende Gesetze und Regeln nicht unumstößlich.

Meine Intention liegt nicht darin einen Gläubigen von einem Glauben an "seinen" Gott abzubringen, denn ich sehe durchaus einige positive Aspekte im Glauben. Wie Sartre -falls ich dies richtig verstanden habe- hielte ich es für Gut klare Begriffe von Gut und Böse zu haben, die unverrückbar sind (und allseits bekannt, möchte ich hinzufügen). Man kann aber tatsächlich nicht von einer gemeinsamen Basis aller Menschen ausgehen. So muss Gut und Böse in jeder Gesellschaft neu geklärt werden.

Es ist mir nicht möglich mein komplettes Weltbild zu vermitteln. Dieses ist mir selbst nicht bewusst. Bekannt ist mir, dass auch meine Moralvorstellungen einige Widersprüche mit sich bringen. Da vieles nicht ausformuliert ist, wird es nur im Einzellfall ersichtlich. Eine dieser Widersprüchlichkeiten wurde mir gestern noch einmal an konkretem Beispiel klar. (Um Missverständnisse zu vermeiden: dies war außerhalb dieses Forums!)
Thomas Paine: "As to the book called the bible, it is blasphemy to call it the Word of God. It is a book of lies and contradictions and a history of bad times and bad men."
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#22
Ich möchte in diesem Beitrag eine strukturierte Zusammenfassung bringen, zur Orientierung, worüber wir überhaupt diskutieren. Mir ist das nämlich nicht mehr so ganz klar. Auch möchte ich die Gesprächsrichtung ein bisschen moderieren.

Das Thema wurde von mir gestartet um über Sartres Existentialismus als eine atheistische Weltanschauung zu sprechen. Die Interessenlage der auf den Startbeitrag folgenden Diskussion geht aber in eine andere Richtung; hier wird eher gefragt: Was können wir prinzipiell über theistische oder atheistische Weltbilder sagen?
Ich denke, dass wir beide Interessenlagen miteinander verknüpfen können.


Atheismus ist kein eigenständiges Weltbild

D.h. wir finden keine einheitliche Intention dazu ein atheistisches Weltbild zu haben. Humanist schreibt von einer Ausrichtung an neueren Trends der Philosophie: Aufklärung, Humanismus, aktueller Zeitgeist, usw. Manuel weist auf eine Unsicherheit bei solchen Fragen hin und bezeichnet sich eher als Agnostiker.
Im Vergleich zur Religion finden wir bei euch beiden eine Abgrenzung. Humanist geht davon aus, dass heilige Schriften eine eindeutige Funktion erfüllen: das Schaffen von verbindlichen moralischen Regeln. Im Vergleich zu säkularen Wertsystemen unterschieden sich nur die wesentlichen Inhalte? Manuel meint bei gläubigen Menschen eine Sicherheit zu erkennen, die der nicht-gläubige auf diese Weise nicht fühlt; mit Antworten fühlte man sich sicherer als mit offenen Fragen.
Ich verstehe euch beide (und auch die Antworten von Petronius) nun so, dass ihr bei atheistischen Weltbildern eine größere Freiheit bezüglich der Intention verorten würdet, hier sei die Intention weniger durch verbindliche Inhalte bestimmt.

Sartre, so meine ich, vertritt was die Intention angeht eine andere, eine radikalere Position. Auch argumentiert er weniger anhand von Inhalten der Religion oder anderer Weltbilder, seine Aussagen beziehen sich auf existentielle Bedingungen des Daseins.
Sartre meint, dass es überhaupt nicht etwas wie eine einheitliche Intention gibt, weder für religiöse noch für nicht-religiöse Menschen. Die existentielle Unsicherheit, "der Mensch ist Angst", erklärt er ja unter anderem an Abraham, dem Stammvater der drei großen monotheistischen Religionen, der als eine Art Prototyp für bedingungslosen Glauben gilt.
Sartre sagt, dass es letztenendes egal sei, ob es Gott gibt. Absolute Freiheit und die dadurch bedingte absolute Verantwortung gilt für Gläubige und für Nicht-Gläubige glecihermaßen. Für das, was wir sind, sind wir und nur wir durch unsere Entscheidungen verantwortlich, wer sich entschieden hat heiligen Texten zu folgen genau so wie der, der sich entschieden hat ihnen nicht zu folgen.


Funktionen der Religion

Vor allem in den Beiträgen von Humanist kam die Frage nach Funktionen der Religion auf, bei ihm mit der Antwort: moralische Regeln. Manuel und ich scheinen eine ganze Reihe mehr an Funktionen zu sehen, die wir auch gleichermaßen am Gebrauch festmachen, den die Leute mit Religion pflegen. Hierauf erwidert Humanist, dass es natürlich auch Nebenprodukte gäbe, die beim Schaffen moralischer Regeln beiläufig entstehen.

Sartre ergreift auch hierzu Position, wenn auch nicht so klar wie zur weltbildspezifischen Intention. Er sagt, dass es keinen Gott gibt sei sehr unangenehm, denn es gäbe dann kein verbindliches Wertsystem. Er sagt, Religion erfülle diese Funktion nicht, weil diese Funktion unerfüllbar sei.
Jeder, der denkt und handelt, tut dies nach eigenem Ermessen. Wenn ich eine Regel aufstelle, die für alle verbindlich sein soll, dann kann ich noch lange nicht garantieren, dass sich auch jeder daran hält. Selbst wenn es verbindliche Regeln gibt, entscheiden wir frei, ob wir sie befolgen.

Ich sehe das ähnlich wie Sartre. Ich sage: Religion hat nicht rein regelaufstellende Funktion, weil sie diese Funktion unmöglich erfüllen kann. Ich sage: Wir brauchen ein anderes Instrumentarium zur Bestimmung von Funktionen der Religion, das sich nicht an der Intention einzelner sondern am Zusammenspiel der verschiedenen Intentionen vieler orientiert.
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#23
(14-11-2009, 18:30)Heinrich schrieb:
(14-11-2009, 17:41)humanist schrieb: Ich fasse zusammen:
Du fasst die Bibel als Zusammenspiel moralischer Regeln und kultureller Geborgenheit auf. Ich behaupte, zweiteres folgt indirekt aus ersterem, aufgrund der Aufmachung.
Du sagst, je nach Zeitgeist interpretiert der Mensch die Bibel. Ich versuche objektiv die damalige Intention, die Bibel zu verfassen, zu betrachten.

Die Bibel wurde von verschiedenen Autoren zu verschiedenen Zeiten verfasst. Von einer einheitlichen Intention auszugehen halte ich eher dann für erforderlich, wenn man eine göttliche Inspiration belegen will.
Im Bereich der Auslegung von Texten allgemein lehne ich es ab von einer ursprünglichen Intention des Autors auszugehen, die so etwas wie den wahren Inhalt des Textes ausmachen soll. Man begibt sich bei der Auslegung von Texten in den Bereich der Spekulation. Spekulationen als wahren Inhalt von Texten darzustellen empfinde ich als unangebracht.

Ich sehe noch weitere Funktionen von heiligen Texten als nur moralische Regeln und kulturelle Geborgenheit, z.B. Regeln zum Leben innerhalb der Gemeinde und zur Gottesdienstgestaltung (was ja keine moralischen Regeln sind), reine Unterhaltung, Beantwortung existentieller Fragen (Anfang und Ende der Welt, Leben nach dem Tod), etc...
Zwischen diesen Funktionen bestehen Wechselwirkungen. Von einem Primat auszugehen, das die anderen bestimmt, halte ich für schwierig. Mir genügt es zu erkennen, dass Wechselwirkungen bestehen und welche das sind.
Natürlich standen manche Funktionen besonders oft im Vordergrund der zeitgenössischen Betrachtung und natürlich haben diese Funktionen unser Verständnis von Religion entscheidend geprägt. Ich stimme auch zu, dass moralische Regeln zu den zentralsten Funktionen gehören. Ob sie wichtiger sind als kulturelle Geborgenheit, darüber mag ich nicht streiten. Ich weiß es nämlich nicht. Momentan scheint mir persönlich Geborgenheit etwas wichtiger zu sein. An deinen Überlegungen zum Thema bin ich aber sehr interessiert.

Ja, die Entstehung der Bibel war ein langwieriger Prozess, wobei die Autoren auf längst vergangene historische Gegebenheiten Bezug nahmen. Diese wurden durch Überlieferung Teils verfälscht oder gar zu Mythen stilisiert. Es gibt ja Vergleiche zwischen historischen Ereignissen und Bibelgeschichten, wo man merkt, dass die damaligen Autoren viel hineingedichtet haben.

Der Gottglaube war schon vor dem Christentum verbreitet. Die Autoren versuchten einfach vieles Gott zuzusprechen. Die Intention der Autoren würde ich gar nicht so sehr als nebulös abtun. Das waren damals einfach gestrickte Menschen, mit einer vagen Vorstellung von der Welt.

Leben innerhalb der Gemeinde und Gottesdienstgestaltung. Steht soetwas in der Bibel?

(14-11-2009, 18:30)Heinrich schrieb:
(14-11-2009, 17:41)humanist schrieb: Ich finde es verwerflich, Leuten eine angeborene Sünde zu propagieren. Der Mensch kommt als unbeschriebenes Blatt Papier auf die Welt und entwickelt sich anhand seiner Gene und der Umwelteinflüsse. Für mich neben der Hölle eine pädagogisch problematische Erfindung der Religion.

Ich denke, dass weniger die Propaganda im Vordergrund stand als die Erklärungsnot für gewisse Befindlichkeiten.
Dass es nicht zum guten Ton gehört jemanden Schuld einzureden um ihn für seine eigenen Ideen begeistern zu können, sehe ich ähnlich wie du.

Welche Erklärungsnot konkret? Ich verstehe die Erbsünde, wie gesagt, nur als Mittel zum Zweck; eine geniale Marketingstrategie. Gut, ob die damaligen Autoren schon so clever waren, oder ob die Erbsünde tatsächlich sinnbildlich gemeint war, kann ich nicht sagen.

(14-11-2009, 18:30)Heinrich schrieb:
(14-11-2009, 17:41)humanist schrieb: Auf diese Folgerung könnte man in der Tat kommen. Ich lehne ja nicht den Mensch ab, jeder Mensch ist mir heilig.
Als was wird die Erbsünde, deiner Meinung nach, heutzutage erachtet?
Den Zusammenhand zur Psychologie habe ich nicht ganz verstanden.

Zu aller erst ist die Erbsünde das theologische Konzept, das du durch ein Zitat erläutert hast. Die Frage ist: was bezeichnet es?
Da leuchtet mir die Erklärung: "Etwas, das es nicht gibt", nicht ein. Wie sollte man etwas bezeichnen können, was es nicht gibt?

Ich suche also nach inneren Zuständen, Gemütslagen, Gedanken, die mit Erbsünde gemeint sein können. Es gibt nur eine Möglichkeit diese Suche anzugehen: Nach ähnlichen Konzepten/ Begriffen suchen.

Ein Konzept existentieller Schuld begegnet mir in der Literatur Kafkas. Besonders eindrücklich finde ich seinen Roman "Der Prozeß", der mit dem prägnanten ersten Satz beginnt: "Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet."

Ein weiteres Konzept ist ein Inhalt symptomatischer Erscheinungen des Krankheitsbildes der Depression (und anderer psychosomatischer Erkrankungen). Ein irrational übersteigertes Schuldgefühl, das den Erkrankten dazu veranlasst sich selbst keine Lebensfreude mehr zu gönnen. Er fühlt sich schuldig dafür, wenn er sich freut, weil er nicht sieht, dass er es verdient hat. Er fühlt sich teilweise sogar schuldig dafür, dass er überhaupt existiert.
Therapiert wird das oft indem in langen Gesprächen mit dem Therapeut ein neues Bewusstsein dafür geschaffen wird, dass man als Mensch überhaupt etwas wert ist, von Grund auf, ohne dafür eine Leistung erbringen zu müssen. Hierzu ist Überzeugungsarbeit nötig, denn der Erkrankte hat bereits Erklärungsmuster für sein Schuldempfinden gefunden, von denen er sich loslösen muss. Die christliche Erlösung durch den Opfertod Jesu Christi am Kreuz spielt imho nichts anderes auf symbolischer Ebene durch. Eine radikale Veränderung, die von der Erbsünde erlöst und damit einen neuen Menschen schafft.

Ehrlich gesagt, sind diese Erklärungen für micht nicht befriedigend. Das ist zu weit ab vom Offensichtlichen. Die meisten Menschen verspüren kein ursachenloses Schuldgefühl.
"What can be asserted without proof can be dismissed without proof." [Christopher Hitchens]
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#24
Lieber Manuel,

Offenkundig ist Gottglaube stark mit Sinnfragen verknüpft.
Wo komme ich her (Ursprung). Wo gehe ich hin (Leben nach dem Tod). Warum bin ich (Existenz).
Als Atheist bietet mir die Evolutionstheorie Antworten auf diese Fragen:
Ich gehöre zu einer Art, die sich aufgrund evolutionärer Vorteile gebildet hat.
Wenn ich sterbe, endet meine Existenz.
Ich bin ein Zufallsprodukt.
Akzeptiert man ersteinmal diese Tatsachen, können sich neue Konzepte bzgl. Sinn des Lebens bilden.
Die Natur selbst kann diesen Sinn nicht vermitteln.
"What can be asserted without proof can be dismissed without proof." [Christopher Hitchens]
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#25
@Heinrich
Kannst du bitte noch erläutern, warum Religion nicht die Funktion eines verbindlichen Wertesystems erfüllt!
"What can be asserted without proof can be dismissed without proof." [Christopher Hitchens]
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#26
(15-11-2009, 15:33)humanist schrieb: Lieber Manuel,

Offenkundig ist Gottglaube stark mit Sinnfragen verknüpft.
Wo komme ich her (Ursprung). Wo gehe ich hin (Leben nach dem Tod). Warum bin ich (Existenz).
Als Atheist bietet mir die Evolutionstheorie Antworten auf diese Fragen:
Ich gehöre zu einer Art, die sich aufgrund evolutionärer Vorteile gebildet hat.
Wenn ich sterbe, endet meine Existenz.
Ich bin ein Zufallsprodukt.
Akzeptiert man ersteinmal diese Tatsachen, können sich neue Konzepte bzgl. Sinn des Lebens bilden.
Die Natur selbst kann diesen Sinn nicht vermitteln.

Die Evolutionstheorie mag Dir plausible Antworten bieten, sie bleibt eine Theorie. Daten, die zur Fundierung der Theorie herangezogen werden, mögen noch als Tatsache durchgehen, aber wohl nicht die Theorie selbst. Die Theorie bietet auch erstmal nur mögliche Erklärungen für Fragen der Biologie. Ein Wertfundament auf der Aussage "Ich bin ein Zufallsprodukt!" aufzubauen ist m.E. wenig sinnvoll. Für die Beantwortung der Frage nach dem Sinn des Lebens und nach der geeigneten Organisation der Gesellschaft spielt m.E. die persönliche Einstellung zur Richtigkeit der Evolutionstheorie erst einmal gar keine Rolle.
Thomas Paine: "As to the book called the bible, it is blasphemy to call it the Word of God. It is a book of lies and contradictions and a history of bad times and bad men."
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#27
(15-11-2009, 15:21)humanist schrieb: Ja, die Entstehung der Bibel war ein langwieriger Prozess, wobei die Autoren auf längst vergangene historische Gegebenheiten Bezug nahmen. Diese wurden durch Überlieferung Teils verfälscht oder gar zu Mythen stilisiert. Es gibt ja Vergleiche zwischen historischen Ereignissen und Bibelgeschichten, wo man merkt, dass die damaligen Autoren viel hineingedichtet haben.

Verfälschung und Stilisierung zu Mythen sind Urteile, die du auf Grundlage heutiger Ansichten fällst.
Faktenorientierte Information ist erst seit der Neuzeit Interesse der Geschichtsschreibung. Erst seitdem wir ein Verständnis von Wahrheit vertreten, das sich an rationalistischen Gesichtspunkten orientiert, die vor allem durch die cartesianische Schule Einfluss in unser allgemeines Bewusstsein fanden.
Descartes sagte unter anderem, dass er nicht davon ausgehen könne, dass etwas wahr sei nur weil es in Büchern steht. Für uns ist das eine Selbstverständlichkeit. Vor Descartes aber nicht. Dass etwas geschrieben stand, galt oft als unumstößliches Kriterium für Wahrheit.

Schreiber von Bibelgeschichten, sofern diese überhaupt historische Ereignisse thematisieren, haben die "Wahrheit" wahrscheinlicher dargestellt, haben sie herausgearbeitet. Zum Beispiel Eingriffe Gottes in eine Schlacht als solche hervorgehoben.
Schreiben zu können bedeutete Autorität. "Wahrheit" hatte viel mit Autorität zu tun. Etwas war "wahr", weil eine bestimmte Person es sagte (z.B. der Pharao in Ägypten, z.B. der biblische Gott). Dass ein Moses zwischen Pharao und jüdischem Gott stand, verlieh ihm eine ganz enorme Autorität. Thematisiert wird im Exodus ein Bruch der ägyptischen und der jüdischen Kultur. Der biblische Gott ist stärker als der Pharao, weil die Juden aus Ägypten entkommen konnten, und die Berichte der Bibel sind wahr, weil der biblische Gott sich als der Stärkere erwiesen hat.

(15-11-2009, 15:21)humanist schrieb: Ich denke eben nicht, dass die Menschen damals einfache gestrickt waren. Ich denke, dass sie ähnlich kompliziert wie heute waren unter anderen kulturellen Bedingungen.

Ich denke, dass sie genau so kompliziert waren wie heute unter kulturellen Bedingungen, die uns fremd sind.


(15-11-2009, 15:21)humanist schrieb: Leben innerhalb der Gemeinde und Gottesdienstgestaltung. Steht soetwas in der Bibel?

Ja, z.B. wenn Frauen ein Kopftuch im Gottesdienst tragen sollen, sehe ich darin keine moralische Regel.


(14-11-2009, 17:41)humanist schrieb: Welche Erklärungsnot konkret? Ich verstehe die Erbsünde, wie gesagt, nur als Mittel zum Zweck; eine geniale Marketingstrategie. Gut, ob die damaligen Autoren schon so clever waren, oder ob die Erbsünde tatsächlich sinnbildlich gemeint war, kann ich nicht sagen.

Eben. Wir können es nicht sagen. Können wir an etwas, das wir nicht sagen können die Intention von Leuten festmachen, die wir nicht kennen?


(14-11-2009, 17:41)humanist schrieb: Ehrlich gesagt, sind diese Erklärungen für micht nicht befriedigend. Das ist zu weit ab vom Offensichtlichen. Die meisten Menschen verspüren kein ursachenloses Schuldgefühl.

Warum ist es wichtig, dass die meisten Menschen sich so fühlen? Religiöse Führer sind normalerweise ganz besondere Charaktere, die sich von ihren Mitmenschen entschieden abheben. Wer kommt schon auf die Idee 40 Tage in der Wüste zu verbringen?

Das entscheidende an meiner Schilderung ist, dass derjenige, der ein solch enormes Schuldgefühl empfindet, lange Zeit darüber nachgrübelt, alles andere als die Grübelei zur Nebensache erklärt und erst wieder ins Leben zurück findet, wenn die Grübelei gelöst ist.

Mit etwas, das niemand empfindet, kann man nicht einmal Marketing betreiben.
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#28
(15-11-2009, 15:41)humanist schrieb: @Heinrich
Kannst du bitte noch erläutern, warum Religion nicht die Funktion eines verbindlichen Wertesystems erfüllt!

Weil es jedem frei steht sich daran zu halten oder nicht. Die Entscheidung, dass man sich daran hält und dass alle anderen sich gefälligst auch daran halten sollen, macht die Verbindlichkeit aus, nicht das Wertesystem selbst.

Sartre kämpfte z.B. in der Resistance gegen die Nazis. Er sagte, auch wenn die uns zwingen wollen uns auf bestimmte Art und Weise zu verhalten, treffen wir unsere Entscheidungen frei. Wenn wir ihnen folgen, sind wir genau so verantwortlich für das, was wir getan haben, als wäre es auf unserem eigenen Mist gewachsen.

Die Argumentation hat zwei Seiten:
1.) Wenn wir ein Wertesystem schaffen oder einem bestehendem Wertesystem folgen, können wir nicht dafür garantieren, dass andere das auch tun.
2.) Die Entscheidung, ein Wertesystem anzunehmen oder nicht, steht uns frei. Für diese Entscheidung sind wir selbst, nicht das Wertesystem verantwortlich.
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#29
(15-11-2009, 16:21)Manuel schrieb:
(15-11-2009, 15:33)humanist schrieb: Lieber Manuel,

Offenkundig ist Gottglaube stark mit Sinnfragen verknüpft.
Wo komme ich her (Ursprung). Wo gehe ich hin (Leben nach dem Tod). Warum bin ich (Existenz).
Als Atheist bietet mir die Evolutionstheorie Antworten auf diese Fragen:
Ich gehöre zu einer Art, die sich aufgrund evolutionärer Vorteile gebildet hat.
Wenn ich sterbe, endet meine Existenz.
Ich bin ein Zufallsprodukt.
Akzeptiert man ersteinmal diese Tatsachen, können sich neue Konzepte bzgl. Sinn des Lebens bilden.
Die Natur selbst kann diesen Sinn nicht vermitteln.

Die Evolutionstheorie mag Dir plausible Antworten bieten, sie bleibt eine Theorie. Daten, die zur Fundierung der Theorie herangezogen werden, mögen noch als Tatsache durchgehen, aber wohl nicht die Theorie selbst. Die Theorie bietet auch erstmal nur mögliche Erklärungen für Fragen der Biologie. Ein Wertfundament auf der Aussage "Ich bin ein Zufallsprodukt!" aufzubauen ist m.E. wenig sinnvoll. Für die Beantwortung der Frage nach dem Sinn des Lebens und nach der geeigneten Organisation der Gesellschaft spielt m.E. die persönliche Einstellung zur Richtigkeit der Evolutionstheorie erst einmal gar keine Rolle.

Für mich tut sie das. Ich erkenne mich als unbedeutendes Sandkorn im Universum. Das ist der Punkt.
Auf dieser Bescheidenheit aufbauend, muss ich mir einen eigenen Sinn konstruieren. Das beste aus meinem endlichen Leben machen, grob gesagt.
"What can be asserted without proof can be dismissed without proof." [Christopher Hitchens]
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#30
Warum darf man mit dem heutigen Wissen und Denken nicht die damalige Sichtweise überprüfen?
Wie du sagtest, baute das damalige Wissen stark auf Autoritäten auf.
Wenn ich keine göttliche Inspiration voraussetze, muss ich mir die Denkweise der Autoren vor Augen führen.

Mit einfach gestrickt meinte ich: Menschen ohne fundierte Wissensbasis und ohne durchgängig logische Denkweise.
Mit der heutigen Bildung hätten die Autoren sicher einiges anders geschrieben.

Wenn die Erbsünde für alle Menschen gleichermaßen gelten soll, ist es wichtig, dass alle diese auch fühlen.
Weil Jesus soetwas gefühlt hatte, sehe ich nicht als Grund an, dies zu verallgemeinern.
Vielleicht hätte er, platt gesprochen, mal zum Psychiater gehen sollen. Ich denke auch nicht, dass Jesus
die Erbsünde ins Spiel gebracht hat, sondern eher die nachfolgenden Autoren.
"What can be asserted without proof can be dismissed without proof." [Christopher Hitchens]
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