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Anarchie, Anarchismus
#1
Ursprünglich wurden die griechischen Ausdrücke ἀναρχία und ἄναρχος in der Bedeutung "ohne Anführer" (Hom. Il. II 703) und "ohne Heerführer" (Herod. Hist. IX 23) gebraucht. Von ↗Euripides wird mit ἄναρχος ein Zustand der Führerlosigkeit auf hoher See beschrieben (Eur. Iphg. A. 914). ↗Xenophon bezeichnet mit ἀναρχία jene Jahre, in denen es keinen ↗Archon gab.

Von ↗Platon wird ἄναρχος im Sinne von "ohne Regierung" (Plat. rep. 558 c) gebraucht.  Auf die ↗(attische) Demokratie bezogen, meinte er, diese sei ebenso  keine funktionierende Einheit wie ein Heer ohne Befehlshaber (Plat. leg. 942 a).

Im frühen ↗Mittelalter gewinnt der Begriff ἄναρχος neue Bedeutung. Da ἀρχή nunmehr überwiegend mit principium (Anfang) übersetzt wird, gebraucht man ἄν-αρχος für die Bezeichnung des absolut anfangslosen Wesen Gottes (↗Joh. v. Damaskus, MPG 94, 1209 c: "Christus ex patre anarchos id est sine principio, est genitus").

Erst mit der verstärkten Rezeption der aristotelischen Texte im Hochmittelalter gewinnt die antike Bedeutung von ἀναρχία wieder Gewicht. ↗Averroes gibt den Begriff mit "inordinatio" (Unordnung) und "licentia" (Ungebundenheit; Frechheit; Erlaubnis, nach Belieben zu handeln) wieder.

In der ↗Frühen Neuzeit wird der Anarchie-Begriff nur selten gebraucht. ↗Erasmus von Rotterdam bringt ihn mit den ↗Wiedertäufern in Verbindung und meint, dass ihre Art des Regierens noch schädlicher als die Tyrannei sei (E. v. Rotterdam, Opera Omnia 4, 594 e). Ähnlich äußerte sich auch ↗Calvin.

Mitte des 17. Jhs kam der Begriff "Anarchie" häufiger in Gebrauch. Durch J. Milton wurde er nunmehr auch als Bezeichnung für die an keine Gesetze gebundene absolute ("lawless and unbounded anarchy") Königsherrschaft verwendet. Im späten 18. Jh gewinnt die Auffassung Gewicht, wonach der Despotismus um vieles schlimmer als die Anarchie sei (↗Mirabeau). Die Anarchie sei es, aus der die Revolutionen erwachsen, die die Gesellschaften regenerieren.

"Anarchisten" der ersten Hälfte des 19. Jhs (P. J. Proudhon) erklärten die herrschenden hierarchischen Strukturen der Vergangenheit und Gegenwart für "Primitivgesellschaften" und die Anarchie zur "dem erwachsenen neuen Menschen" angemessenen Gesellschaftsform (sociétés adultes). Der Staat in seiner Garantie- und Schutzfunktion sei überflüssig, er könne abgeschafft werden. An seine Stelle solle die Anarchie treten, die nicht Unordnung, sondern das höchste Maß individueller Freiheit und Ordnung sei. Institutionen, die der Unterdrückung dienen (Regierung, Armee, Polizei), gehörten abgeschafft. An ihre Stelle sollten ökonomische Organisationformen treten, über die Arbeiter- und Bauernschaft ihrer Bedeutung entsprechend wirksam werden.

In seinen späten Schriften räumte Proudhon ein, dass die Anarchie, wie er sie sich vorstellte, ein Idealzustand sei, der nie ganz erreicht werden könne.

Ein aus den Ideen Prouthons weiterentwickelter Anarchismus wurde von M. ↗Bakunin vertreten.

Bakunin vertrat die Idee einer Diktatur, die von einer unsichtbaren revolutionären Kraft geleiteten revolutionären Anarchie gestützt sei (vgl. Bakunin, Werke 1,35; 3,96f.). Die neue, anarchistische Gesellschaft, sollte jedem Menschen "die Gleichheit des Ausgangspunktes", die die gleichmäßig für alle tatsächliche Möglichkeit bietet, sich zu den größten Höhen der Menschheit zu erheben, zuerst durch Erziehung und Unterricht, dann durch die eigene Arbeit eines jeden in freier Assoziation (Bakunin, Werke 3,76).

Die "neue Macht" sollte nach Bakunin eine soziale, antipolitische Macht sein, er stellte seine Ideen den Konzepten eines autoritären Staatssozialismus gegenüber (Bakunin, Werke 2,269). Damit geriet er in Konflikt zu den Ideologien, wie  sie von den revolutionären Sozialisten und autoritären Kommunisten seiner Zeit getragen wurden, insbesondere auch mit K. ↗Marx und F. ↗Engels, was schließlich 1872 zu seinem Ausschluss aus der "Internationalen" führte.

Mit Bakunin waren zweitweise extreme Fanatiker (zB  Netschajew) verbunden, die durch Gutheißen brutaler Gewalttaten die anarchistische Bewegung in Misskredit brachten. Das führte dazu, dass viele Kritiker Anarchisten mehr und mehr als kriminelle Elemente ansahen, die es konsequent zu bekämpfen galt.

Anfang des 20. Jhs hatte die Vision vom Anarchismus ihren Glanz verloren. Zwar waren die Ziele, die die Anarchisten vor Augen hatten, nach wie vor aktuell, um sie zu erreichen, wollte man aber andere Wege gehen. Bei aller Sympathie mit den Zielen der Anarchisten hält es B. ↗Russell nicht für wünschenswert,  auf den Staat als Schlichtungs- und Garantieinstanz zu verzichten (B. Russell: Roads to freedom. Socialism, anarchism and syndicalism 115. 130. 144). Sozialisten und Marxisten vertraten die Meinung, dass die Abschaffung des Staates erst am Ende des "sozialistischen Weges" stehen könne und nicht an dessen Anfang (Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassung 2, 604).

In Spanien gelangten anarchistische Vorstellungen von gemeinschaftlichem Leben in Teilen des Landes zur praktischen Anwendung. Die anarchistischen Bewegungen wurden aber von Kommunisten und später auch von der Falange heftig bekämpft und nach dem Bürgerkrieg durch Franco liquidiert.


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MfG B.
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