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Die "religio" einer Gesetzesreligion
#85
(08-03-2016, 00:48)Ekkard schrieb: Ehe die Debatte durch einen User in abstruse ethymologische Bahnen gelenkt wurde, klangen ein paar nützliche Ideen zum Verhältnis von Religion zu bürgerlichen Gesetzen an. Es wurde zwar ein Gegensatz gesehen, dem ich allerdings nicht zustimme. Denn Gesetze werden debattiert, beschlossen und erlassen auf den Grundlagen des geistig-kulturellen Lebens einer Gesellschaft, insbesondere des Staatsvolkes. Demnach liegen den Gesetzen Vorstellungen zugrunde, die allgemein akzeptiert sind oder sich im Laufe der Zeit herausbilden. Diese Vorstellungen reichen vom Wert des Lebens bis zum Umgang mit Eigentum, von dem, was als treu gilt bis zu dem, was Abscheu erzeugt und mehr. Es gibt somit einen Hintergrund an grundlegenden Vorstellungen jenseits formulierter, bürgerlicher Gesetze. In der historischen Dimension werden diese Vorstellungen in den Religionslehren tradiert - durch ihre Geschichten, Legenden und Mythen. Unser Menschenbild findet sich zwar in den Gesetzen wieder, stammt aber insbesondere aus den biblischen Erzählungen. Wir merken dies sehr deutlich, wenn wir Menschen anderer Religionen oder Weltanschauungen begegnen.


Ich bin jetzt auf diese hochinteressante Fragestellung gestoßen und möchte mich in diese Diskussion einklinken.
Beruflich bin ich Legist, das heißt ich habe schon mehrere Gesetze entworfen. Das ist aber kein einmaliger Vorgang, sondern man muß das Gesetz von der Entstehungsphase (Auftrag ein Gesetz für eine bestimmte Materie zu entwerfen) dann jahrelang begleiten, bis es von der gesetzgebenden Körperschaft beschlossen wird, und danach bei der Vollziehung mitwirken, das heißt in der Bescheiderstellung. Dann durchwandert alles seinen Instanzenzug, letztlich muß ich dann die letztinstanzlichen Bescheide erstellen und unterzeichnen (den Kopf selber hinhalten für das Gesetz das ich erstellt habe) und dann letztlich im Falle von Beschwerden das Gesetz beim Verfassungsgericht verteidigen.
Die Erfahrungen bei der Vollziehung (Bescheiderstellung) und bei den Verfassungsgerichtsverfahren muß ich dann wieder bei der Novellierung des Gesetzes einbringen. Ein kontinuierlicher Vorgang.
Bei der Erstellung jedes Gesetzesentwurfes sind die legistischen Richtlinien (detaillierte formale Bestimmungen und das Prozedere des mehrstufigen Begutachtungsverfahrens) zu beachten.

Wenn ich ein Gesetz entwerfe, muß ich mir  v o r h e r  den Kopf darüber zerbrechen, wem ich es verkaufen will. Wenn man so will, ist ein Gesetz ein Produkt. Der Gesetzesentwurf hat nur dann Aussicht auf Realisierung, wenn die erforderliche Mehrheit (je nach Gesetzescharakteristik einfache Mehrheit oder Zweidrittelmehrheit) in der gesetzgeben Körperschaft zustandekommt. Hier beginnt im Laufe der Hauptbegutachtung ein zerren und feilschen wie auf jedem "Markt".
Ich muß eine Mehrheit zuwegebringen, mit den beteiligten politischen Parteien Kontakt aufnehmen und  v e r h a n d e l n 

Dem einen entgegenkommen und einen Wunsch ins Gesetz hineinbasteln und dafür die Zusage für einen von ihm verabscheuten Punkt erkaufen. Dies ist die Kunst eines fähigen Legisten

Dabei geht es überwiegend um Themen des Menschenbildes
"Eigentum", "Strafe", "Gleichbehandlung", "Barmherzigkeit" sind  k o n t r o v e r s i e l l  wirkende Begriffe, die hier schon  v o r  Beginn des Begutachtungsverfahrens genauestens abzuwägen sind. Bereits bei der Erstellung des Erstentwurfes, sonst ist der Karren verfahren.

Bereits beim Erstentwurf muß jeder Satz des Gesetzestextes derart formuliert sein, daß davon ausgegangen werden kann, daß keine der maßgeblichen Gruppierungen sich daran stößt.

Ich muß meinen eigenen Entwurf aus der Sicht eines biblischen Menschen lesen und auf allfällige problematische Bestimmungen durchkämmen, am nächsten Tag muß ich das Ganze mit der Brille einer Emanze lesen, am nächsten Tag mit der Brille eines Patrioten, dann mit der Brille eines Gewerkschafters, dann mit der Brille eines Unternehmervertreters

Glaube mir  j e d e r  einzelne Satz ist Produkt tagelanger Überlegungen. Da ist nichts so hingestreut, da gibt es keine Spontaneität.

Nun gebe ich den Entwurf in die Vorbegutachtung, wo der Verfasungsdienst seine schriftliche Stellungnahme abgibt.
Ist keine große Hürde, da geht es um Formalfragen, die man aber als Legist bald intus hat.

Und dann kommt der Gesetzesentwurf in die Hauptbegutachtung.
Jetzt sind alle gesellschaftlich relevanten Kräfte der Republik eingebunden und sind eingeladen, ihre Stellungnahme abzugeben. Diese Stellen verteilen den Entwurf an ihre maßgeblichen Gremien, die ihn Satz für Satz analysieren, bewerten und dann kommentieren.

Schließlich kommen all die Stellungnahmen zum Legisten zurück, er bastelt die  S y n o p s e  das ist eine umfangreiche Textgegenüberstellung
mit  a l l e n   S t e l l u n g n a h m e n  zu jedem einzelnen Paragraphen.
Der Legist schreibt einen ausführlichen  M o t i v e n b e r i c h t  und das Ganze (Gesetzestext, Synopse, Motivenbericht) heißt nun "Gesetzesmaterialien" und wird nun der gesetzgebenden Körperschaft vorgelegt.

Nun gibt es wieder Rückmeldungen. Das Gezerre beginnt von Neuem. Partei X will den Abs 1 von § 17 anders formuliert haben. Ich beginne ein Tauschgeschäft. "Ich kann euch das machen, wenn ihr bereit seid, auf den Abs 5a von § 87 zu verzichten"
Nein ! Das kommt niemals in Frage.
Nach drei Monaten kommt es dann schon in Frage, mit der Maßgabe daß auch der Abs 2 von § 11 modifiziert wird.

Der fähige Legist verhandelt hier, kennt alle Knackpunkte und bemüht sich, einen  m e h r h e i t s f ä h i g e n  Entwurf zusammenzubringen.

So erfolgt die Gesetzwerdung im positiven Recht

Die Bibel hat selbstverständlich Null  f o r m a l e  Relevanz im Gesetzgebungsverfahren. Wir sind ja kein Gottesstaat.
Aber im Hinterkopf muß der Legist  s e h r  w o h l  darauf achten, daß ihre Werte berücksichtigt werden, bei einer Kollision ist der Gesetzesentwurf wertlos und zum Scheitern verurteilt.

Aber auch alle anderen gesellschaftspolitisch relevanten Wertesammlungen sind im Hinterkopf zu beachten:
Marxistische Werte, Emanzipatorische Werte, Pazifistische Werte, Liberale Werte, neuerdings ist auch der Koran im Hinterkopf zu beachten (in öffentlichen Spitälern muß schweinefleischlos gekocht werden, darf die Frau auf dem Passfoto einen Schleier aufhaben, wenn ja welchen Ausmaßes) etc etc

Aber auch Werte der EU müssen beachtet werden in diesem vielschichtigen Puzzlespiel

Und wenn eine Gesetzesbestimmung "tollpatschig" aussieht, so kannst Du mir glauben, daß dies kein Flüchtigkeitsfehler eines Legisten ist, sondern Absicht. Weil eben im Gezerre diese und nur diese Formulierung herausgekommen ist.

Oft wird über einen einzigen Halbsatz drei Monate lang gestritten und verhandelt
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Die "religio" einer Gesetzesreligion - von Gysi - 30-09-2014, 13:05
RE: Die "religio" einer Gesetzesreligion - von Harpya - 30-09-2014, 21:36
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