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Saadia Gaon
#1
Saadia ben Josef wurde 892 in Fajjum (Ägypten) geboren und war 928 durch den ↗Exilarchen David ben Sakkai zum Schuloberhaupt (↗Gaon) der ↗Talmud-Akademie in ↗Sura berufen worden, wo er bis zu seinem Tod (942) lehrte. Er war der bedeutendste jüdische Religionsgelehrte und Religionsphilosoph seiner Zeit.

Was die Oberhäupter der Akademien betraf, war Saadia eine Ausnahmeerscheinung. Er entstammte keiner der berühmten Geonimfamilien, was gemeinhin die Voraussetzung war, in dieses Amt zu gelangen. Durch seine überragende Gelehrsamkeit wurde der Mangel kompensiert1.

Mit der Übernahme des Amtes durch Saadia kam das Lehrhaus in Sura nochmals zu einer letzten Hochblüte.

Weil sich Saadia in einer Erbschaftsangelegenheit gegen den Exilarchen stellte, kam es zwischen den beiden zum Streit. Dieser Streit dauerte sieben Jahre lang und war außerordentlich heftig. Es kam zu gegenseitigen  Amtsenthebungen. Schließlich aber konnte der Streit durch Vermittlung einflussreicher Persönlichkeiten soweit ausgeräumt werden, dass man übereinkam, sich beim ↗Purimmahl zu treffen und zu versöhnen. Wer bei wem das Purimmahl einzunehmen hätte, wurde per Los entschieden. Saadia suchte den Exilarchen auf und blieb zwei Tage zu Gast bei ihm.

Die religionsphilosophischen Texte Saadias waren von der griechischen und arabischen Philosophie beeinflusst. Sein in Arabisch verfasstes Hauptwerk  "Emunot we-Deot" (Glaubenslehren und Vernunftansichten) war das erste von einem Juden begründete rationale Denksystem seit ↗Philo v. Alexandrien2.

Ein kurzes Textbeispiel aus: "Emunot we-Deot", III. Vernunftgebot und Offenbarungsgesetz:

Die auf die Erkenntnis und Verehrung Gottes bezüglichen Gebote sind ebenso wie die Gesetze der Moral, nach ihrem Wesen betrachtet, als Vernunftgebote anzusehen, d. h. als Pflichten, zu deren Erkenntnis die menschliche Vernunft bei fortschreitender Entwicklung auch ohne Offenbarung hätte gelangen müssen. Allein tatsächlich verdankt der Mensch die Erkenntnis dieser Pflichten einer ihm durch die Propheten vermittelten Offenbarung, deren er auch trotz der Vernunftgemäßheit jener Gebote gar nicht entraten konnte, weil er sonst in der langen Zeit, deren es bedurft hätte, bis er durch die fortschreitende Entwicklung seines Geistes zur Erkenntnis derselben gelangt wäre, jeder Richtschnur für sein religiöses und sittliches Verhalten würde entbehrt haben3.

Eines der Glaubensfundamente war für Saadia der menschliche Verstand. Der menschliche Verstand sei das Instrument, durch das der göttliche Wille offenbart wird. Daher sei die ↗Tora auch nicht die einzige Quelle "des Gesetzes und der Lehre", neben ihr, meinte er, gäbe es zwei weitere Quellen: Die eine Quelle sei die menschliche Vernunft, dieser gebühre der Vorrang, die andere, nachgeordnete Quelle, "die Ausströmung der Überlieferung"4.

Die Auseinandersetzung mit ↗karäischen und ↗islamischen Denkweisen brachte Saadia dazu, den Zugang zur ↗Bibel über den Wortsinn zu vermitteln. Nicht ↗Midraschim sollten den Sinn begreiflich machen, sondern ein ausführlicher philologischer Kommentar. Da er Midrasch zur Sinnfindung nicht völlig ausschloss, war seine neue Auslegungsmethode für weite Kreise annehmbar5.


1) Ben-Sasson, S. 522:
Theoretisch wählten sämtliche ständig dem Lehrhaus angehörenden Gelehrten gemeinsam den Gaon. In der Praxis jedoch wurden die Geonim meistens aus einer sehr begrenzten Zahl von "Geonimfamilien" ausgewählt; in ↗Babylonien waren es sechs. Eine dieser Familien konnte ihre Abstammung bis ins Haus ↗Davids zurückverfolgen, womit sie als Nebenlinie der Exilarchenfamilie galt; eine andere wiederum gehörte zu den Priesterfamilien. Auch in ↗Erez Israel gab es drei "Geonimfamilien". Eine davon führte ihre Abstammung auf die ↗Patriarchatsfamilie der ↗Römerzeit zurück, die Nachkommen ↗Hillels des Älteren, während die anderen beiden Familien priesterlicher Herkunft waren. Von diesen behauptete eine, dass sie von ↗Esra dem Schreiber abstamme. Wie wir sehen werden, drangen in Krisenzeiten bisweilen Outsider in diesen illustren Kreis ein. Saadia Gaon war einer der wenigen Nicht-Dazugehörigen, der Kraft seiner starken Persönlichkeit an die Führungsspitze gelangte. Als aber Rab ↗Scherira Gaon, der einer der Geonimfamilien entstammte, in seiner "Epistel" auf einen Gaon zu sprechen kommt, der keiner dieser Familien angehört, bemerkt er abfällig "doch war er nicht aus einer Gelehrtenfamilie, sondern von Kaufleuten".

2) Ben-Sasson, S. 545
3) Höxter, S. 126f.
4) Ben-Sasson, S. 545f.
5) Stemberger, 206f.


Lit.:
Haim Hillel Ben-Sasson, Geschichte des jüdischen Volkes, 2007 München, Verl. C. H. Beck
Julius Höxter, Quellen zur jüdischen Geschichte und Literatur, Neudruck 2009 Wiesbaden, Marix Verl.
Günter Stemberger, Midrasch, 1989 München, Verl. C. H. Beck



● Zum Inhaltsverzeichnis des Lexikons
MfG B.
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  Gaon Bion 0 2926 25-07-2015, 13:18
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