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Jeschiwa (pl. Jeschiwot)
#1
Jüdische Religionsschule.

Wie jüdische Lehrhäuser der ↗Antike und Talmud-Akademien (Talmud-Hochschulen) in ↗Babylonien genannt wurden, ist unsicher. Der ↗Talmud gibt dazu unzureichend Auskunft. Dort ist die übliche Schulbezeichnung "he raw" (= Haus des Meisters), sehr oft verbunden mit Beifügung des Namens des Meisters. In historischen jüdischen Texten gibt es auch andere Bezeichnungen für jüdische Religionsschulen, zB "bet ha-midrasch".

Dessen ungeachtet werden heute die Talmud-Akademien ↗Palästinas und Babyloniens in der wissenschaftlichen Literatur in der Regel "Jeschiwot" genannt1.

In der Gründungszeit der Akademien Babyloniens wird wohl eine Vielzahl kleiner Jüngerkreise, die sich um einen Lehrer geschart hatten, existiert haben. Unterrichtet wurde in den Wohnhäusern der jeweiligen Meister. Mit dem Tod des Meisters waren solche Lehrhäuser wieder aufgelöst. In ↗Sura, ↗ Nehardea und ↗Pumbedita wirkten im 3. Jh nC überdurchschnittlich viele, über ihre Region hinaus hochangesehene Meister. Zu Talmud-Hochschulen zusammengewachsen waren diese  Lehrhäuser aber erst in der Zeit der ↗islamischen Herrschaft über Babylonien2.

Das, was in Lehrbüchern zur Geschichte des ↗rabbinischen Lehrwesens von den Anfängen bis zum 10./11. Jahrhundert zu finden ist, geht nahezu ausschließlich auf die Beantwortung einer Anfrage der jüdischen Gemeinde von Kairowan (Kairouan, Tunesien) an die Akademie von Pumbedita zurück. Die Auskunft wurde vom Schuloberhaupt, Rab ↗Scherira Gaon, 986 mittels eines Briefes (in der wissenschaftlichen Literatur mit ISG = Iggeret Rab Scherira Gaon, abgekürzt) erteilt3. Von einigen Fachgelehrten wird angenommen, dass die gaonäische Schulorganisation in die Anfangszeit der Akademien rückprojiziert wurde.

Nach Niedergang der Lehrhäuser in Babylonien im 11. Jh, traten bedeutende Jeschiwot in ↗Spanien, im deutschen Sprachraum (zB die Lehrhäuser in Mainz, Speyer und Worms) und etwas später im Osten Europas an deren Stelle, ohne dass die Oberhäupter dieser Lehrhäuser mit derselben überragenden gesellschaftlichen Position ausgestattet gewesen wären wie ehemals die ↗Geonim. Schließlich entstanden Jeschiwot in nahezu allen größeren jüdischen Gemeinden Europas. Spätestens im ↗Spätmittelalter stand es in ↗Aschkenas ordinierten ↗Rabbinern4 offen, nach Belieben Lehrhäuser zu gründen und zu betreiben5.


1) dazu Ben-Sasson, S. 521:
In den islamischen Ländern, in Babylonien wie in ↗Erez Israel, nahmen die Lehrhäuser in der Führung des Volkes eine zentrale Stellung ein. Sie fühlten sich einer Reihe von Aufgaben verpflichtet. Ihre erzieherische Funktion erstreckte sich nicht nur auf die Lernenden, sondern auf das gesamte Volk. Darüber hinaus fällten sie rechtliche Entscheidungen in allen Fragen und Problemen des täglichen Lebens. Die Gelehrten und Weisen der Lehrhäuser waren es, die die kanonische Literatur interpretierten und kommentierten, und ihre Ausdeutungen waren bindend für alle. Eine solche Jeschiwa bestand aus mehreren Schulen von unterschiedlichem Niveau, deren höchste eine Tora-Hochschule war. Die an dieser Akademie unterrichtenden qualifizierten Gelehrten fungierten zugleich als Oberstes Gericht, dessen Gesetzescode für ganz Israel verbindlich wurde.

2) Stemberger 2008, S. 25

3) Stemberger 1992, S. 21

4) Martha Keil, in Geschichte der österreichischen Juden, S. 61:
Etwa 1380 führten die aschkenasischen Autoritäten eine Neuorganisation des Rabbinerstandes ein. Die Rabbinerausbildung erfolgte zwar wie schon im Hochmittelalter an einer oder mehreren Jeschiwot, doch galt die abschließende Zeremonie der Rabbinerbefugnis (Semicha, wortlich: Handauflegen) nicht mehr nur für den internen Lernbetrieb, sondern der Student wurde mit einem Rabbinerdiplom und der Verleihung des Titels "Unser Lehrer, der Meister" (Morenu ha-Raw, in deutschen Urkunden mit "Meister“ übersetzt) offiziell als professioneller Rabbiner autorisiert.


5) M. Keil, in Geschichte der österreichischen Juden, S. 61f.:
Die einzige überlieferte aschkenasische Formel zur Rabbinerernennung ist die von Israel Isserlein für seinen Schüler und späteren Wiener Neustädter Gerichtsvorsitzenden Eisak Levi:
"Es sei allen verkündet, das mein Kollege Herr Izchak bar Joel ha-Levi bei mir viele  Tage gedient und sich jahrelang mit Andacht mit der Tora beschäftigt und die mündliche Tora genauestens gelernt hat, bis er groß genug wurde, um geeignet zu sein, an der Spitze zu sitzen und zu richten und zu lehren. Seht, er wurde bereits vor einigen Jahren durch meinen Willen ordiniert, beim Titel he-Chawer [Gelehrter, Geselle] gerufen zu werden, und nun sei ihm Macht und Ehre hinzugefugt, und es sei ihm die Kraft und Autorität, Leiter einer Jeschiwa zu sein an jedem Ort, der ihm geeignet erscheint, und man soll ihn beim Aufrufen und Lesen der Tora beim Titel Morenu ha-Raw nennen und so auch bei allen Gelegenheiten, bei denen man ihn erwähnt und ruft. Und er soll lehren und richten und sich mit den Angelegenheiten der Gitin [Scheidebriefe] und Kidduschin [Hochzeiten] und Chaliza [Befreiung aus der Schwagerehe] beschäftigen und die Aguna [gebundene, verlassene Frau] zur Wiederverheiratung zulassen. Das Allgemeine soll er dem Einzelfall hinzufügen, damit ihm die ganze Tora des Führers, Richters und Lehrers der Lehre in Israel verliehen sei.
[...]
Spruch des Kleinen und Geringen in Israel [= Israel Isserlein]."



Literatur:
Eveline Brugger u.a. Geschichte der österreichischen Juden. 2006 Wien. Verl. C. Ueberreuter
Haim Hillel Ben-Sasson. Geschichte des jüdischen Volkes. 2007 München. Verlag C. H. Beck
Günter Stemberger. Einführung in Talmud und Midrasch. 1992 München. Verlag C. H. Beck
Günter Stemberger. Der Talmud. 2008 München. Verlag C. H. Beck




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MfG B.
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