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Normale Version: Scharia
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Scharia ist die Gesamtheit göttlicher Beurteilungen menschlicher Handlungen (Lohlker 2012, 101).

Im Sinne von "Gesetz" kommt der Begriff im ↗Koran nicht vor. Als Wort ist "Scharia" ein einziges Mal, und zwar in Sure 45:18 vorzufinden:

Durch Gabriel wird Mohammed versichert: "…haben wir dich […] auf einen Weg zur Errettung (scharia1) festgelegt…"

Erst nachdem sich die ↗Hadithliteratur einigermaßen entwickelt hatte, gewann der Begriff "scharia" eine juristische Bedeutung. In der Gesamtheit der göttlichen Kategorien menschlichen Handelns2  wird mitgeteilt, was zu missbilligen und zu bestrafen sei.

Die Scharia beinhaltet Rechtselemente aber auch solche Elemente, die dem Oberbegriff "Recht" nicht zuzuordnen sind. Für die islamische Rechtswissenschaft (figh) ist sie die gottgegebene Richtschnur zur Auffindung und Auslegung von Rechtsnormen.

Die Beurteilung menschlichen Handelns vollzieht sich im Rahmen von fünf Kategorien (Lohlker 2008, 66):

1. Verpflichtend (waǧib, farḍ)
2. Empfehlenswert (mandūb, mustaḥabb)
3. Neutral (mubāh)
4. Abzulehnen (makrūh)
5. Verboten (ḥarām, muḥarram, maḥẓur)

Zwei dieser Kategorien lassen sich unter dem Oberbegriff "Recht" einordnen: "verpflichtend und verboten". Die drei anderen sind nicht rechtsrelevant, sie sind keine Regeln. Dennoch sind sie Teil der Scharia.

Für die Entwicklung des islamischen Rechtssystems war es nötig, ein tragfähiges Fundament zu schaffen. Die Rechtsgelehrten waren (und sind) sich einig, dass sich die Rechtsprechung auf autoritative Texte stützen müsse. Dafür bot sich vor allem der Koran an, dessen Authentizität nicht bezweifelt werden darf. Dazu noch Hadithe. Diese dürfen (in gut begründeten Fällen) durchaus bezweifelt werden, sind aber dennoch in immer höherem Maß in die Ausgestaltung islamischer Rechtssätze eingebunden.

Da nicht zu allen Dingen (insbesondere zu jenen der modernen Welt) Entscheidungen mit Begründung durch autoritative Texte möglich sind, waren weitere Rechtsquellen zu erschließen. So sind theoretische Abhandlungen zum Analogieschluss und über die Präzedenzwirkung von Fatwa-Sammlungen schon früh in Rechtshandbüchern vorzufinden.

Es überrascht nicht, dass die verschiedenen ↗Rechtsschulen aufgrund abweichender Verfahren der Rechtssuche zu oft unterschiedlichen Ergebnissen in der Beurteilung von Rechtsfragen kommen. Umso mehr wurde der Konsens der Rechtsschulen zu einem gewichtigen Element schariatischer Rechtsfindung.

Die Scharia ist kein Gesetzbuch, so wie wir das aus der europäischen Tradition kennen, sondern eine "lebendige Methode der Rechtsfindung", die im Bedarfsfall erweitert werden kann bzw. muss.

Auszüge aus der Scharia kann es daher nicht geben! Auch keine schriftlichen Vorgaben, wie sie richtig anzuwenden sei.

Reichlich vorhanden hingegen sind rechtsmethodische Werke (usul al-fiqh), die, wenn sie verschiedenen Rechtsschulen zuzuordnen sind, in der Beurteilung von Sachverhalten und deren Rechtsfolgen teilweise nicht unerheblich voneinander abweichen.

Quellen der Scharia sind:

1. Der Koran
2. Der Hadith

Die beiden wichtigsten Hadithsammlungen sind jene von ↗Bukhari und ↗Muslim.

Daneben haben es auch die von ↗Ibn Madscha, ↗Abu Dawud, ↗at-Tirmidi und ↗an-Nasa’i zu "kanonischem" Rang (Sunan) gebracht.

Die in die "kanonischen" Hadithsammlungen aufgenommenen Aussprüche des Propheten wurden aus frühen Vermerken herausgefiltert. ZB aus solchen, die bereits ↗Malik ibn Anas oder ↗Ahmad ibn Hanbal gesammelt hatten und oft absurde, nicht selten auch politisch motivierte Prophetenaussprüche behaupteten.

3. Die Madhhab (Rechtsschulen)

Neben der Tradition hat, wie schon angemerkt, der Konsens der Rechtsgelehrten bzw. Rechtsschulen (idschma) hohe Bedeutung in der Rechtsfindung3.

4. Die sekundären Rechtsquellen

Sekundäre Quellen des islamischen Rechts sind die Analogie (qiyas), der Brauch ('urf), das Gewohnheitsrecht ('ada), das eigene Urteil (ra'y), das Für-Gut-Halten (istihsan), das Interesse der Gläubigen (maslaha) und das Bemühen um die Wahrung der Gerechtigkeit (insaf).

Das Rechtsinstitut der Scharia ist ein dermaßen kompliziertes Gebilde, dass es, wie schon erwähnt, keine "richtige" Anwendung desselben geben kann.

Brauch, Gewohnheitsrecht und Urteilsvermögen des Richters lassen für Frauen, die im Sudan, in Nigeria oder in kulturell-ideologisch vergleichbar entwickelten Gemeinschaften vor Gericht stehen, (insbesondere dann, wenn unzureichend gebildete Rechtsgelehrte am Werk sind) erhebliche Unwägbarkeiten offen!

Die Scharia steht in der westlichen Welt wegen archaisch anmutender Androhungen von Körperstrafen (Auspeitschen, Handabschneiden, Steinigen) in der Kritik. Vollzogen werden solche Strafen (hadd-Strafen) allerdings nur mehr in wenigen muslimischen Ländern (zB Saudi-Arabien, Jemen, Iran, Sudan, Nigeria). In einem guten Teil der muslimischen Länder findet die Scharia vornehmlich in familienrechtlichen Fragen Anwendung4.

Insbesondere für Frauen, die in den arabischen Stammesgesellschaften zuvor weitgehend rechtlos gewesen waren, war mit der Einrichtung der Scharia im historischen Rückblick eine erhebliche Verbesserung der Lebenssituation eingetreten5.


1. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes war: "die nie versiegende Quelle im ausgedörrten Land" bzw. "der Weg, der zu ihr hinführt". Mit dem Wort "Scharia" war also der gesicherte Weg zum Wasser verbunden, was für ein Wüstenvolk Heil und Leben bedeutete (vgl. Kadri 16).

2. Der Begriff "Scharia" umfasst die religiöse Praxis ebenso wie die Regelung menschlicher Beziehungen.

Enzyklopädie der islamischen Rechtswissenschaft (I, 5): "Die Scharia ist der Königsweg, die gerade Straße. Gott hat sie aus seinem Wissen gestiftet; er hat die Kenntnis von ihr auf den letzten seiner Propheten ... herabgesandt" (Nagel 3).

3. Der Grundsatz, wonach Rechtsfragen, die schon einmal im Konsens der Rechtsschulen entschieden wurden, im Ergebnis kritiklos zu übernehmen sind und Präzedenzwirkung für vergleichbare Fälle haben (taqlid), wird in der konservativ-sunnitischen Rechtspflege noch immer beachtet.

Dem steht die Ansicht vieler Juristen entgegen, dass das Recht den zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten anzupassen sei und Rechtsquellen, sofern sie nicht dem Koran oder der Sunna entnommen und eindeutig sind, modernen Interpretationen offen stehen müssen (idschtihad). Ein solcher Zugang bietet die Grundlage für die Weiterbildung materiellen Rechts (vgl. Rohe 191). Als Beispiele seien die Familienrechtsreformen in Marokko (2004) und Algerien (2005) genannt.

4. Anzumerken ist, dass Körperstrafen auch in nichtmuslimischen Gemeinschaften angewandt werden. Die Prügelstrafe in Singapur und die Todesstrafe selbst in Staaten, die als rechtsstaatlich verwaltet gelten (USA, Japan).

5. Vor Einführung islamischen Rechts galt: Das Familienoberhaupt hatte das Recht, unerwünschte Kinder zu töten. In der Regel waren das Mädchen (vgl. Sure 81:8f.). Das Erbe traten Söhne an, Töchter gingen leer aus.
Bei Eheschließungen ging der Brautpreis an den Brautvater bzw. an den Clan, dem das Mädchen entstammte. Erst mit der Einführung islamischen Rechts ging der Brautpreis als wirtschaftliche Absicherung in den Besitz der Frau über, und zwar zum Zeitpunkt des Vollzugs der Ehe. Zuvor waren hinterbliebene Ehefrauen nach altem Gewohnheitsrecht Teil der Verlassenschaft, galten als bewegliches Gut und zählten zur Erbmasse.


Literatur:
Sadakat Kadri. Himmel auf Erden. Eine Reise auf den Spuren der Scharia durch die Wüsten des alten Arabien zu den Straßen der muslimischen Moderne. 2014 Berlin. Matthes & Seitz Berlin Verlags-GesmbH.
Rüdiger Lohlker. Islam. Eine Ideengeschichte. 2008 Wien. Facultas-Verlag.
Rüdiger Lohlker. Islamisches Recht. 2012 Wien. Facultas-Verlag
Tilman Nagel. Das islamische Recht. 2001 Westhoven. Verlag Skulima.
Mathias Rohe. Das islamische Recht. 2009 München. Verlag C. H. Beck.


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