(10-01-2022, 11:20)Thomas der Ungläubige schrieb: [ -> ]Ich persönlich habe Jesus immer als linken Pazifisten eingeordnet. Deshalb ist für mich das Phänomen der christlichen Rechten
unverständlich. Kann mir jemand helfen?
Zur Beantwortung der Frage müsste man sich erst darüber verständigen, was man unter "links" und "rechts" verstehen will. Pazifismus ist sicher kein Definitionsmerkmal der Linken, da es auch zahlreiche linke Bellizisten gibt, und ebenso wenig ist Populismus etwas per se spezifisch Rechtes (viele Konservative verabscheuen ihn, und es gibt auch jede Menge linke Populisten). Die wirtschaftspolitische Position ist ein wichtiges Kriterium, aber den Gegensatz links/rechts auf Meinungsverschiedenheiten über die Verteilung materieller Güter oder den Besitz von Produktionsmitteln zu reduzieren ist arg banal und wird der Wirklichkeit nicht gerecht. Links und rechts sind weltanschauliche und kulturelle Grundhaltungen.
Fragt man nun, wie Jesus da einzuordnen ist, wobei natürlich der kerygmatische Jesus gemeint ist, so ist zunächst zu klären, ob es überhaupt legitim sein kann, solche moderne Terminologie auf Personen des Altertums anzuwenden. Meine Meinung: In einer wissenschaftlichen Publikation sollte man das unterlassen, aber in einem Essay darf man es und da kann es auch nützlich sein: Weil die Begriffe "links" und "rechts" auch epochenübergreifend zwei kulturelle Grundhaltungen des homo sapiens bezeichnen, ist es sinnvoll, auch einmal essayistisch - jenseits des streng positivistisch Beweisbaren - darauf hinzuweisen, dass es schon in der Antike typische "Linke" und "Rechte" gegeben hat. Und zwar nicht nur wo es um politische Macht und das liebe Geld geht, wo Optimaten rechts sind und Popularen links, sondern auch in einem weiteren kulturhistorischen Sinn, wo man feststellen kann: Aischylos und Sophokles waren Rechte, Euripides war ein Linker (ebenso wie der unbekannte Verfasser des Prometheus desmotes). In diesem Sinn wäre die Frage auch hinsichtlich Jesus zu stellen.
Jesus (gewiss auch der historische) rechnete ganz fest mit dem bald bevorstehenden Untergang der Welt, in der er lebte, durch das Eingreifen Gottes, worauf völlig neue Verhältnisse entstehen würden und er selbst als Stellvertreter seines göttlichen Vaters die Macht übernehmen würde. Vor diesem Hintergrund ergab sich für ihn zwangsläufig die Irrelevanz aller machtpolitischen, wirtschaftspolitischen und rüstungspolitischen Fragen in der bereits dem Untergang geweihten Welt. Das erschwert seine Einordnung in das Schema links/rechts. Dennoch zeigen sich beim kerygmatischen Jesus eindeutig Züge, die für eine "rechte" Grundhaltung charakteristisch sind. Er tritt für das Almosengeben ein und sagt: "Arme werdet ihr immer unter euch haben" (Markus 14,7). Diese Einstellung ist durch und durch rechts und den Linken verhasst: Linke postulieren ein Recht der Armen auf Wohlstand und sehen in Mildtätigkeit ein verachtenswertes Ablenkungs- und Beschwichtigungsmanöver der Reichen, denen ihr unrechtmäßiger Reichtum gar nicht zustehe. Vor allem sind sie zutiefst überzeugt, dass Armut fundamental beseitigt werden kann, muss und wird, also Arme keineswegs immer unter uns sein werden. Jesus hingegen betrachtet die Armut, also einen markanten sozial-ökonomischen Unterschied, offensichtlich als unabänderliche Naturgegebenheit, so wie es Rechte tun. Für eine rechte Grundhaltung spricht auch seine scharfe Trennung zwischen der quasi "aristokratischen" Elite seiner Jünger und Anhänger (wenngleich diese einfacher Herkunft sind) und der breiten Masse, dem Pöbel, der hoffnungslos unbelehrbar ist und daher letztlich in der Hölle landen wird (Markus 4,11-12; Matthäus 13,11-17; Lukas 8,10). Verachtung der breiten Masse ist rechts - Linke haben ein positives Verhältnis zur Masse der Bevölkerung (oder behaupten das wenigstens), sie wollen die Massen erziehen und bilden, und alles Elitäre ist ihnen suspekt oder verhasst. Jesus sagt: "Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt." Auf so eine Idee - dass es von vornherein schicksalhaft Auserwählte gibt - käme ein Linker niemals. Ein Linker würde ein solches Vorsehungskonzept und Elitedenken scharf ablehnen. Oder betrachte Matthäus 13,12: "Wer hat, dem wird gegeben und überreichlich gewährt werden; wer aber nicht hat, von dem wird selbst, was er hat, genommen werden" - eine Aussage über Gottes Vorsehung, die rechter Mentalität gewiss eher einleuchtet als linker.
Daraus ergibt sich für mich: Jesus ist seinen Instinkten nach, seiner sozialen Grundhaltung nach rechts - auch und gerade dort, wo er für die Armen eintritt. Er baut das aber nicht zu einer konsequent rechten Weltanschauung aus, da ihn wesentliche Bereiche wie Staatsform, Wirtschafts- und Rüstungspolitik gar nicht interessieren.
Vielleicht ist dir unter diesen Gesichtspunkten das Phänomen der christlichen Rechten besser verständlich, also der Umstand, dass Christentum für Rechte attraktiv sein kann. Wobei natürlich stets zu beachten ist: Jeder bastelt sich sein Christusbild selbst; für Rechte muss der Heiland und Erlöser rechts sein, für Linke links. Ich bin da völlig unbefangen, da ich kein persönliches Verhältnis zur Christusgestalt habe.
t“