Ich gehe mal von hinten nach vorne durch:
(28-05-2009, 21:29)Ekkard schrieb: [ -> ]Gibt es vielleicht eine Hierarchiebeziehung zwischen 1. und 2.?
Ich habe Schwierigkeit mit dem Wort "geben". Wie soll es sie "geben", bevor ich diese Hierarchie nicht
aufstelle? Das ist eben die berühmte "Wertigkeit", die der Mensch einzelnen Phänomenen zuordnet. Natürlich nicht unabhängig von der Praxis. „Wirklichkeiten“ werden zunächst ja meist nur empfunden, dann erst systematisiert.
Das ist aber - in erster Instanz - bei jedem Menschen anders. Jemand, der jeden Tag starke physische Schmerzen hat, wird vermutlich davon so beeinträchtigt, dass für ihn oberste Priorität hat, einen Arzt zu finden, der ihn davon befreien kann.
Wer als Kind über Jahre vergewaltigt worden ist, wird eventuell so von Albträumen nachts und auch im Wachen verfolgt, dass er berufsunfähig werden kann.
Da hätten wir dann das klassische Zweiermodell: Physis und Psyche. Aber es ist und bleibt ein Modell, eine Vereinfachung. Denn die Physis wird beeinträchtigt durch psychisches Leid, und physisches Leid schlägt sich auf die Psyche nieder.
Diese zwei "Realitätsebenen" sind künstlich voneinander getrennte, zunächst rein definitorisch. Hier eine allgemeingültige Hierarchisierung vorzunehmen, ist gefährlich. Denn dann meint man z.B., man habe genug getan, wenn man alte Menschen im Seiniorenheim „abfüttert“ und für Schmerztabletten sorgt. Die inneren Qualen werden gar nicht recht angegangen, wenn man die psychische Realitätsebene im Wertesystem ganz nach unten rangiert.
Ich bin allerdings der Meinung, dass eine Kultur es nicht so einfach schaffen kann, beide Realitätsebenen gleichzeitig zu „befriedigen“ und im Blick zu haben. Seit der Industrialisierung ging es erst einmal darum,
physisches Leid zu überwinden, vor dem Hunger zu schützen, vor dem Massensterben. Darum hat sich meines Erachtens zunächst die „physische“ oder „materielle“ Wisenschaft entwickelt, einfach, weil sie „not tat“.
Umschlagen tut es immer dann, wenn daraus dann a-historische Dominanzsysteme entstehen, Solche Wertesysteme sind immer historisch eingebunden, und was um 1750 richtig war, kann heute genau die Kultur drosseln, kann genau das Leid der Menschen vermehren, während es um 1750 dieses Leid linderte.
Die in unserer Kultur vernachlässigte „innere Realitätsebene“ hat dann bewirkt, dass sich Subkulturen entwickelten, wo besonders das Innen gepflegt wird: man machte Anleihen bei Buddha, dem Yoga, dem Zen etc. Das wird dann nicht selten wieder verabsolutiert, und diese Gruppierungen werden das Hierachiesystem ganz anders aufstellen.
Die momentane „Fantasybewegung“ (Rowling, Tolkien, früher M. Ende) gehört in diesen Prozess auch hinein, es wird das Imaginative und Schöpferische trainiert.
Wenn man das alles in Zusammenhang sieht, dann hätte die Wissenschaft die Aufgabe, alle diese „Realitätsebenen“, die sich je in den Bedürfnissen der Menschen widergespiegelt haben, zunächst einmal zu beschreiben, so präzise wie möglich. Und zwar, wie es die Wissenschaft verlangt, ohne von vornherein zu werten und zu hierarchisieren. Auch wenn das nie gänzlich gelingt – weil der einzelne Wissenschaftler seine Prämissen nicht ganz ablegen kann -,, so muss es doch das Ziel sein. Hier normativ vorzugehen, ist das ewige Elend, das sich so leicht in die Wissenschaften reinmogelt.
Zitat:Was aber ist mit Vorstellungen, die uns tyrannisieren? (das Alptraumbeispiel?) Oder umgekehrt, was ist mit Vorstellungen, die uns handeln lassen? Gehören die zu Nr. 2?
Vermutlich reicht da das Zweiermodell – Physis und Psyche – nicht mehr aus. Die Albträume kann man vielleicht noch in die psychische Realitätsebene einordnen, wenn man ein ganzeheitliches Menschenbild dabei versucht herzustellen.
Aber „die Vorstellungen, die uns handeln lassen“ fallen in eine weitere Kategorie, denke ich. Man nennt das ja manchmal „geistig“. Wörter und Begriffe sind nicht so wichtig, wenn man definiert, was man damit meint. Ohne „Vorstellungen“ kann der Mensch vermutlich gar nicht handeln. Innere Bilder und Abläufe gehen letztlich immer dem Handeln voraus. Aber wie kann man diese Welt der Imagination, die uns jede Sekunde begleitet, merkmalsmäßig beschreiben?
Da sie aber de facto vorhanden ist – kann man an sich selbst beobachten -, ist sie ein Teil der menschlichen Realität.
Umreißen kann man diese Realitätsebene vielleicht so, dass sie futuristische oder utopische oder transzendierende Vorgänge beinhaltet. Da gehören dann alle die Vorstellungen hinein, die das Hier und Jetzt nicht als ausreichend empfinden, sondern es stets transzendieren wollen, es erweitern wollen. Vermutlich kann man da viele der religiösen und der künstlerischen Entwürfe – die dann in bildhafte Darstellungen münden .- einordnen.
Dieses transzendierende Element ist offensichtlich ebenfalls Teil der menschlichen Realität. Und sie sucht sich ihren Gestaltungsweg. Vielleicht gehört sogar die Suche nach einem befriedigenden Beruf – früher oft auch „Berufung“ genannt - in diesen Bereich.
Zitat:Ist es also so, dass wir zwei Realitäten (=Wirklichkeiten) haben, denen beiden eine Beziehung zugrunde liegt:
1. die Realität, die durch messbare Wirkung gegeben ist und nicht ist, wenn diese fehlt (Beispiele: Teilchen, elektromagnetische Wellen, Materiebrocken, physikalische Kräfte)
2. die ontologische Realität, die durch menschliche Beziehung, durch Austausch von Nachrichten, Meinungen, Beschreibungen existiert? (das Merkel-Beispiel, eine literarische Figur, die Vorstellung eines Abgrundes)
Ich selber kann mit der ontologischen Realität wenig anfangen. Mein Ansatz ist der erkenntnistheoretische, da gibt es für mich kein „Sein“ unabhängig vom Erkennen und den Erkenntnisorganen. Auch befindet sich der Mensch – und seine Kultur – immer im Prozess, meiner Beobachtung nach, und darum ändern sich die Erkenntnisergebnisse auch. Und die Gewichtungen ändern sich. Darum sehe ich die Einbeziehung der historischen Entwicklung der Wertungssyseme als so zentral an.