(28-12-2012, 18:48)Lelinda schrieb: [ -> ]Einer der Unterschiede zwischen Religion und Naturwissenschaften ist, dass es in der Naturwissenschaft kein Dogma gibt;
Damit wäre ich vorsichtig, Lelinda,
abgesehen davon, dass es selbstverständlich auch im Wissenschaftsbetrieb die Bildung von Schulen und das quasi-dogmatische Festhalten an etablierten Hypothesen und Anschauungen gibt, kommt man natürlich auch hier nicht ohne ein Stück Metaphysik aus, sprich: Auch die Naturwissenschaft basiert auf Annahmen, die grundsätzlich nicht weiter begründ- und beweisbar sind.
Ich würde das in dem von Mustafa zitierten Artikel dargestellte Problem allerdings etwas anders beschreiben.
Wenn man "Wissenschaft" betrachtet als den Versuch, Ursache-Wirkungs-Verhältnisse zwischen den Erscheinungen der Welt zu beschreiben, dann muss man m.E. folgende Prinzipien (meinetwegen auch "Dogmen") akzeptieren:
1. Es gibt eine von der Wahrnehmung des Menschen unabhängig existierende, objektive Wirklichkeit
2. Der menschlichen Erkenntnis ist (zumindest) ein Ausschnitt dieser Wirklichkeit zugänglich (das ist in meiner Lesart die "natürliche Welt")
3. Die "natürliche Welt" ist kausal geschlossen: Jedes Phänomen in dieser Welt kann hinreichend kausal erklärt werden durch ein oder mehrere andere Phänomene, die ebenfalls Teil dieser Welt sind.
Im dritten Satz steckt nun m.E. in der Tat ein Dilemma:
Wenn er
wahr ist, dann gibt es zwischen dem uns zugänglichen Teil der Wirklichkeit und dem "Rest" (also sozusagen dem "Jenseits") keinerlei Wechselwirkungen. Wir hätten also gewissermaßen zwei "Welten", die ohne irgend einen kausalen Zusammenhang quasi "nebeneinander" existierten. Diese Schlussfolgerung ist problematisch, weil nicht einzusehen ist, warum die Grenzen unserer Erkenntnis (deren Existenz uns übrigens imho keine Disziplin so plausibel erklärt wir die Naturwissenschaft selbst
) gleichzeitig eine prinzipielle Grenze kausaler Zusammenhänge markieren sollte.
Ist der Satz hingegen
falsch, dann fehlt uns eine essentielle Grundlage für wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn, weil wir nie sagen könnten, ob wir ein bestimmtes Phänomen einfach
noch nicht verstehen oder aber
prinzipiell nicht verstehen können. Die Frage "Warum ist das so?" ist nur sinnvoll zu stellen in der Annahme, dass sie prinzipiell beantwortbar ist; der Moment, in dem wir diese Idee aufgeben, wäre im Grunde das Ende jeden Fragens.
Das Problem des "weltanschaulichen" Naturalismus' besteht nun m.E. darin, dass man versucht, das beschriebene Dilemma durch eine Variation des 2. genannten Prinzips zu umgehen: In dieser Variante ist uns nicht mehr nur ein Teil , sondern die
ganze Wirklichkeit (zumindest "prinzipiell") zugänglich. Es gäbe demzufolge keine "zwei Welten" (den uns zugänglichen Teil und den Rest), sondern nur eine; wir hätten also das Problem der kausalen Abgrenzung eliminiert, allerdings wären damit Dinge, die uns prinzipiell nicht zugänglich sind, auch nicht Teil der "natürlichen" Welt und damit nicht existent.
Ich perönlich bin mit Mustafa (und, soweit ich ihn verstanden habe, dem Autor des in Rede stehenden Blog-Beitrags) der Auffassung, dass die letztgenannte Lösung dem Problem nicht wirklich gerecht wird: Wir haben sehr gute Gründe anzunehmen, dass es eine prinzipelle Grenze menschlichen Erkenntnisvermögens gibt, die
nicht identisch mit der Grenze der Wirklichkeit "an sich" ist, so dass wir das geschilderte Dilemma nicht wirklich befriedigend dadurch lösen, indem wir so tun, als gäbe es diese Divergenz nicht.
Allerdings bin ich ebenfalls der Überzeugung, dass Religionen ihrerseits nicht den geringsten Beitrag leisten können, dieses Dilemma aufzulösen. In diesem Fall müsste man nämlich nicht nur das dritte Prinzip aufgeben, sondern noch eine Fülle zusätzlicher (und zunehmend fragwürdiger) "Dogmen" akzeptieren, um zu einer gemeinsamen Grundlage für die verbindliche Beantwortung offener Fragen zu kommen.
Für das Christentum wären das zumindest mal die folgenden "Glaubenssätze":
3. (abgeändert): Der Wirklichkeitsbereich, der jenseits menschlichen Erkenntnisvermögens liegt, ist mit dem uns zugänglichen Bereich (der "natürlichen Welt") kausal verwoben.
4. Der Ursprung von (in vorgenanntem Sinne "jenseitig") initiierten Kausalketten ist "Gott".
5. Gott verfolgt Ziele und Absichten; er hat eine Vorstellung, wie "die Welt" sein sollte. Diese Ziele und Absichten sind - zumindest partiell - für Menschen verständlich
6. Gott teilt uns seine Ziele und Absichten mit und bedient sich dabei des Mittels der "Offenbarung".
7. Diese Offenbarungen finden sich in der Bibel.
Das sind imho alles Glaubenssätze, die man sich unhinterfragt zu eigen machen muss,
bevor man bspw. den Gedanken begründen kann, die 10 Gebote oder das Konzept der Nächstenliebe wären "höheren Urspungs" und damit die absolut geltenden Wurzeln unserer diesseitigen Moral.
Mit der abgewandelten Variante von Satz 3 kann ich persönlich, wie gesagt, noch leben; ab Satz 5 wird es problematisch, und mit Satz 6 beginnt für mich definitiv der Aberglaube.
So müssen wir uns nach meiner Überzeugung wohl oder übel damit abfinden, dass wir zwar den Vorhang sehen, aber keine Ahnung von dem haben können, was sich dahinter verbirgt.
Das ist bisweilen wohl frustrierend.
Aber aus meiner Sicht zumindest die intellektuell redlichste Haltung.
Gruß
Sangus