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Normale Version: Das Orakel von Delphi
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Tarkesch

Um 800 BCE wurde das Heiligtum von Delphi, worauf Grabungsfunde hinweisen, auf den Überresten eines archaischen Orakel-Heiligtums errichtet, das der Göttin Themis geweiht war, die ihre Funktion von ihrer Mutter, der ursprünglichen Orakelgöttin Gaia übernommen hatte, der Erdgöttin der indigenen Population und Mutter der Schlange Python, die nach dem ältesten bekannten Python-Mythos weiblich war, später aber transgendert wurde. Dass Gaia und Themis die ursprünglichen Orakelgöttinnen von Delphi waren, gilt seit Bachofen und Rohde als gesichert.

Das Vorbild für eine griechische Orakelgöttin könnte die ägyptische Kobragöttin Wadjet gewesen sein, deren Orakeltempel in Buto stand. Laut Herodot hat sich die Idee einer institutionalisierten Orakelgöttin von Ägypten nach Griechenland verbreitet. Dass als Orakelurheber- und verkünder Göttinnen und Priesterinnen fungierten, hatte auch in Mesopotamien eine lange Tradition, die im Alten Orient bis ins frühe 2. Jt. BCE zurückreicht, als die Könige von Assyrien und Mari in allen wichtigen politischen Fragen Orakel der Göttin Ischtar einholten, die ihnen durch Ischtar-Priesterinnen in Ich-Form vermittelt wurden.

Zu bedenken ist, dass es sich in Delphi nicht ausschließlich um einen Apollo-Tempel handelt, sondern um den Tempel zweier Götter, Apollo und Dionysos. Die Herkunft des Apollo ist ungewiss, wahrscheinlich war er ein indoeuropäischer Import, vielleicht kam er auch aus dem Vorderen Orient. Dionysos´ Ursprung ist mit Sicherheit in Thrakien zu verorten. Delphi war nach Athen und Theben der wichtigste Kultort des Dionysos, vor allem ab dem 4. Jh. BCE, als im Zuge des Tempelneubaus der östliche Giebel dem Apollo und der westliche dem Dionysos gewidmet wurde. Ihre Verbindung erklärt sich aus der Gemeinsamkeit des Ekstatischen im apollinischen Orakelkult und im Dionysoskult. Der Tempel diente somit beiden Göttern.

Tatian berichtet von einem ´Grab´ des Dionysos unter dem Omphalos, dem Herdfeuer der Göttin Hestia im delphischen Tempel, und dass sich die Götter den Aufenthalt im Tempel teilten: Dionysos im Winter, wenn Apollo bei den Hyperboräern weilte, und Apollo während des restlichen Jahres. Das ´Grab´ enthielt die von Zeus an Apollo übergebenen Überreste des von den Titanen zerrissenen Dionysos, dessen Auferstehung im zweijährigen Turnus im Winter in den nahe Delphi gelegenen Wäldern des Berges Parnass gefeiert wurde, wenn Apollo ´außer Haus´ war. Dabei wurde das Schicksal des Gottes re-enacted, d.h. die aus Athen und Delphi herbeigekommenen Thyiaden (Anhängerinnen des Dionysoskults) verleibten sich nach der Rückkehr des Gottes von seinem zweijährigen Aufenthalt im Totenreich der Persephone die Kraft des Gottes ein, indem sie im rauschhaften Zustand das Fleisch einer in Stücke gerissenen Ziege verzehrten, die den zerstückelten Gott repräsentierte.

Zurück zum delphischen Orakel. Das Folgende ist allgemein bekannt: Die Pythia, die Orakelpriesterin, saß im Tempel auf einem Stuhl, dessen drei Beine für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft standen und unter dem aus einer Erdspalte Dämpfe entwichen, die, nebst den Lorbeerblättern, die die Seherin kaute, ihren ekstatischen Zustand verursachten. Die Befragungen wurden in der Regel am 7. Tag des Monats durchgeführt. Für weniger Betuchte waren nur Ja-Nein-Fragen möglich, Reiche durften mit komplexeren Antworten rechnen. Allerdings waren die Äußerungen der Pythia so kryptisch, dass die männlichen Priester sie in verständliche Botschaften ´übersetzen´ mussten. An diesem Punkt hakte gelegentlich schon in der Antike Kritik ein: Geargwöhnt wird und wurde, dass die Priesterschaft sich von Fragestellern bestechen ließ, um Auskünfte zu liefern, mit denen vom Fragesteller gewünschte Entscheidungen legitimiert werden konnten, wobei die Formulierungen aber nie so eindeutig ausfielen, dass der Betrug offensichtlich war. Zu vermuten ist auch, dass die Priesterschaft eine Art Geheimdienst beschäftigte, der ihr ständig relevante politische Informationen zutrug.

Ein mögliches Beispiel für Korruption ist folgendes: 480 BCE standen die Perser kurz davor, Athen zu erobern. Ein erstes delphisches Orakel riet zur Flucht. Die Athener unter Themistokles, davon wenig begeistert, gaben ein zweites Orakel in Auftrag, welches den Athenern den Bau von "hölzernen Mauern" empfahl. Auch vom "göttlichen Salamis" war die Rede. Daraufhin ließ Themistokles Schiffe (= hölzerne Mauern) bauen und besiegte die Perser in einer Seeschlacht bei Salamis. Man kann vermuten, dass der griechische Feldherr die Seeschlacht von vornherein geplant hatte und, um den Effekt des inopportunen ersten Orakels aufzuheben, seinen Plan der Bevölkerung mithilfe der Priester als zweites "delphisches Orakel" verkaufte.

Ich will damit nicht sagen, dass alle Orakel von den Priestern manipuliert wurden; auf diese Weise hätte sich Delphi nicht über mehrere Jahrhunderte seinen Ruf als religiöse Autorität bewahren können. Unzweifelhaft ist aber, dass die Priesterschaft einen beträchtlichen politischen Einfluss ausübte.
Vielen Dank für die Geschichte des Orakels von Delphi bzw. seiner Auffrischung!

(18-10-2016, 12:49)Tarkesch schrieb: [ -> ]Ich will damit nicht sagen, dass alle Orakel von den Priestern manipuliert wurden; auf diese Weise hätte sich Delphi nicht über mehrere Jahrhunderte seinen Ruf als religiöse Autorität bewahren können. Unzweifelhaft ist aber, dass die Priesterschaft einen beträchtlichen politischen Einfluss ausübte.
Das kann ich nur unterstreichen: In gesellschaftsrelevanten Dingen (Software des Systems "menschliche Gesellschaft") gibt es keine Wahrheit, sondern nur den Widerstreit der Interessen oder die Einigung auf eine gemeinsame Ansicht, Religion oder allgemeiner Weltanschauung. Somit steht unzweifelhaft fest, dass das Orakel interessengeleitet "sprach" - welche, sei dahingestellt. Dass die Priesterschaft damit politischen Einfluss hatte und beeinflusst wurde, dürfte somit also auch feststehen.
Ein paar ergänzende Bemerkungen zum Thema:

(18-10-2016, 12:49)Tarkesch schrieb: [ -> ]Dass Gaia und Themis die ursprünglichen Orakelgöttinnen von Delphi waren, gilt seit Bachofen und Rohde als gesichert.

Die Griechen der Antike hatten daran nie Zweifel. (Vgl. Aischylos, Eum. 2-5).

(18-10-2016, 12:49)Tarkesch schrieb: [ -> ]Laut Herodot hat sich die Idee einer institutionalisierten Orakelgöttin von Ägypten nach Griechenland verbreitet.

Ja. In welchem Umfang antike Berichte zum Orakelheiligtum von Delphi historische Sachverhalte wiedergeben, ist aber, soviel ich weiß, nicht unumstritten. Offensichtlich ist auch viel Legendäres eingewoben. Beispielsweise die Geschichte der Gesetzgebung für Sparta, über die Herodot (1,65) und ausführlicher Plutarch (Lykurg 6) berichtet.

(18-10-2016, 12:49)Tarkesch schrieb: [ -> ]Zu bedenken ist, dass es sich in Delphi nicht ausschließlich um einen Apollo-Tempel handelt, sondern um den Tempel zweier Götter, Apollo und Dionysos.

Pausanias erzählt, dass die Delpher behauptet hätten, auch eine Sibylle habe einst in Delphi auf einem Felsen stehend geweissagt (Paus. 10,12,1ff.).

(18-10-2016, 12:49)Tarkesch schrieb: [ -> ]Die Pythia, die Orakelpriesterin, saß im Tempel auf einem Stuhl, ... unter dem aus einer Erdspalte Dämpfe entwichen, die … ihren ekstatischen Zustand verursachten.

So ist es in vielen Beschreibungen zu lesen.

W. Burkert hingegen meint dazu, sich (mittels einer Fußnote) auf die Ausführungen Plutarchs beziehend:

Zitat:Von keinem Orakel ist so viel bekannt, ist freilich auch so viel umstritten wie von Pytho, dem Heiligtum der Delpher.
[...]
Hier steht der Omphalos, hier ist, über einer runden, brunnenartigen Öffnung im Boden, der Dreifußkessel aufgestellt, mit einem Deckel verschlossen, auf dem die Pythia Platz nimmt. Über dem Abgrund sitzend, vom aufsteigenden Dunst umhüllt, einen frisch geschnittenen Lorbeerzweig schüttelnd, verfallt sie in Trance.

Die hellenistische Theorie, dass ein Dampf aus der Erde aufstieg, ist haltlos, auch wenn sie gelegentlich wieder aufgegriffen wird.
[…]
Freilich hielt man es auch für möglich, die Pythia zu bestechen. Die Äußerungen der Pythia werden von den Priestern dann in der gemeingriechischen literarischen Form, im homerischen Hexameter, fixiert.

W. Burkert. Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, 2. Aufl. 2011 Stuttgart, Verl. W. Kohlhammer
(18-10-2016, 12:49)Tarkesch schrieb: [ -> ]1.)  Um 800 BCE wurde das Heiligtum von Delphi, worauf Grabungsfunde hinweisen, auf den Überresten eines archaischen Orakel-Heiligtums errichtet, das der Göttin Themis geweiht war, die ihre Funktion von ihrer Mutter, der ursprünglichen Orakelgöttin Gaia übernommen hatte, der Erdgöttin der indigenen Population und Mutter der Schlange Python, die nach dem ältesten bekannten Python-Mythos weiblich war, später aber transgendert wurde. Dass Gaia und Themis die ursprünglichen Orakelgöttinnen von Delphi waren, gilt seit Bachofen und Rohde als gesichert.

2.)  Das Vorbild für eine griechische Orakelgöttin könnte die ägyptische Kobragöttin Wadjet gewesen sein, deren Orakeltempel in Buto stand. Laut Herodot hat sich die Idee einer institutionalisierten Orakelgöttin von Ägypten nach Griechenland verbreitet. Dass als Orakelurheber- und verkünder Göttinnen und Priesterinnen fungierten, hatte auch in Mesopotamien eine lange Tradition, die im Alten Orient bis ins frühe 2. Jt. BCE zurückreicht, als die Könige von Assyrien und Mari in allen wichtigen politischen Fragen Orakel der Göttin Ischtar einholten, die ihnen durch Ischtar-Priesterinnen in Ich-Form vermittelt wurden.

3.)  Zu bedenken ist, dass es sich in Delphi nicht ausschließlich um einen Apollo-Tempel handelt, sondern um den Tempel zweier Götter, Apollo und Dionysos.

ad 3)  Das ist sehr interessant.
Apollo (indogermanischer Kult) und Dionysos (vorindogermanischer Kult)
Wie im Alten Rom !   Mit seinen Latinern und Etruskern.
Zu Delphi: Auch hier ein verschmelzen zweier Wurzeln zu einem synkretistischen Kult ... warum nicht ?  Klingt nicht unplausibel.
Diese Hypothese sollte nun geprüft werden.

ad 1)  Die Sache mit der Erdgöttin würde in dieselbe Richtung (vorindogermanischer Kult) weisen.

ad 2)  Niltal und Mesopotamien.  Auch dies interessante Aspekte.

Das östliche Mittelmeer samt Küstenstreifen war eine Region des Aufeinanderprallens unterschiedlichster Kulturen.
Die Sache mit dem Dionysos-Kult in Delphi ist interessant. Frueher (meine erster Kontakt mit diesen Fragen war in Herbert J. Rose's "Griechische Mythologie") galt Dionysos als der spaetere Import als Apollon, da die Dionysos-Mythos viele Beispiele der Ablehnung des Gottes durch die Griechen enthaelt. Er muss seine Stellung dort erst beweisen. Den Delphi-Tempel im Winter zu uebernehmen, war im Prinzip erst einmal kein grosser Erfolg. Der praktische Grund, warum der Apollon-Kult und das Orakel im Winter ruhten, war schlicht, dass es da oben in Delphi im Winter sehr ungemuetlich ist und deshalb kaum Pilger vorbeischauten. Der Dionysus-Kult wurde dann erst spaeter aufgewertet.

Gibt es zur Herkunft des Apollon von indogermanischen Wurzeln heutzutage mehr Quellen als der etwas vage Zusammenhang mit der Hyperboraeer-Prozession? So rein von der Summe der (mir bekannten) Indizien her finde ich vorderasiatische Urspruenge etwas einleuchtender. Die Verbindung mit Leto scheint alt zu sein. Diese selbst ist eine Art Muttergoettin, eventuell aus Lykien (sie war Hauptgottheit der lykischen Konfoederation) mit chthonischen Bezuegen, z.B. als Waechterin der Graeber. Apollon selbst hat im westlichen Anatolien auch chthonische Bezuege. Ihm geweiht waren dort kuenstliche Heilgrotten (Charoneia oder Plutoneia), wo er fuer die Heilung verantwortlich gemacht wurde.

Von da ist es nicht weit eine Verbindung zum orientalischen Gott Nergal zu sehen, einem Gott der Unterwelt und der Pestilenz (Burkert 1985, Kingsley 1999, Bivar 1975). Beide haben eine Beziehung zum Tod, schiessen Pfeile um Krankheiten zu uebertragen, sind Heiler, haben Raben als ihre Symboltiere, sind mit Palmen, Schlangen und Loewen assoziiert und repraesentieren teilweise die Sonne in der Unterwelt, wie es Martin Schwartz (2005) zusammenfasst. Natuerlich ist es immer schwierig, von solchen Aehnlichkeiten auch auf gleiche Ursrpuenge zu schliessen; aehnliche Portfolios bedingen zum Teil auch aehnliche Aspekte.

Was Orakel angeht, ist es wohl auch bei dem aeltesten griechischen Orakel in Dodona (dem zweitbedeutendsten griechischen Orakel) so, dass dort ein maennlicher Gott eine Erd-/Muttergoettin beerbt hat, hier Zeus und Dione.
Interessant.

Bitte um mehr Auskünfte zu den Themen:
Hyperboraeer-Prozession
Nergal

Da ist die Quellenlage sehr dürftig