Ulan schrieb:Trotzdem bleibt es mir, wenn ich mir die "Datenlage" so anschaue, unverstaendlich, wie man aus rationaler Erwaegung einen Glaubensschritt wie diesen tut.
Über Glaubensinhalte zu philosophieren ist in meinem Verständnis kein rationaler Vorgang, egal, mit wie viel (innerer) Logik man da herangeht. Rational wäre z.B. die Abwägung, welche Gemeinschaft mir - rein utilitaristisch gedacht – die meisten „Vorteile“ brächte, ob ich also mein Selbstwertgefühl durch eine starke Betonung der persönlichen Erfahrung steigern könnte oder über die engen persönlichen Beziehungen innerhalb der Gruppe leichter an Jobs käme. Bei mir waren es aber theologische Gründe.
Ulan schrieb:Sich dazu noch etwas aus einem fremden Kulturkreis auszusuchen, hat so etwas davon, dem Reiz des Exotischen zu erliegen, was Du ja auch ansprichst.
Ich kann an der Bahá'í-Religion wenig Exotisches finden. Die Glaubenspraxis ist bewusst so aufgebaut, dass sie kulturell unterschiedlich mit Leben gefüllt werden kann. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, kommt auch die arabisch-persische Ursprungssprache im Glaubensalltag nicht vor. Wo sie das doch tut, sind es kleine Versatzstücke wie „Allahu-Abhá“, die mir aber auch nicht exotischer vorkommen als das hebräische „Amen“ oder „Halleluja“. Die Sprache der Schriften ist zwar sehr bildhaft und orientalisch im Stil, das sind die Evangelien aber genauso. Ein wesentlicher Teil der verwendeten Sprache lässt sich außerdem über die islamische Mystik zurückverfolgen bis ins syrische Christentum. Sollte ich also das syrische Christentum als „exotisch“ betrachten? Der „Reiz des Fremden“ ist also definitiv für mich keine Kategorie, nach der ich eine Religion aussuche. Da hätte es schon ISKCON oder Baghwan sein müssen.
Ulan schrieb:Dieser Satz soll uebrigens nicht "exotische" Kulturen irgendwie negativ erscheinen lassen, sondern ich beziehe mich dabei auf den Verlust des kulturell Verbindenden und sozial Einbettenden, das die einheimischen Grosskirchen bieten, zumindest theoretisch.
Ich fühle mich nach wie vor kulturell mit dem Christentum verbunden. Ich gehe Weihnachten mit meinen Eltern in den Gottesdienst und feiere mit der Familie meiner Schwägerin Ostern. Die Hintergrundgeschichten zu allen wichtigen christlichen Feiertagen tauchen auch in den Bahá'í-Schriften auf und sind daher, auch wenn wir sie nicht mehr explizit feiern, Teil der Bahá'í-Lehre bzw. werden darin aufgegriffen. An Heiligabend feiern meine Frau und ich eine Bahá'í-Andacht aus Anlass der Geburt Jesu , die sich vollständig aus Bahá'í-Texten zusammenbauen lässt, die sich entweder konkret mit der Geburt oder allgemeiner mit der Bedeutung Jesu befassen. Auf der anderen Seite feiere ich mit meinem jüdischen Freunden Pessach.
Sozial eingebettet bin ich durch das Bahá'í-Sein auch nicht weniger. Freundschaften, die ich innerhalb der christlichen Gemeinden hatte, hat das nicht berührt. Das Verhältnis zu „meinem“ Pastor ebensowenig. Ein nicht unerheblicher Teil meines Freundeskreises fühlt sich im Christnetum ohnehin nicht beheimatet und kann meist mit Glauben im Allgemeinen wenig anfangen. Da war's sowieso schon mal völlig egal, an was ich jetzt konkret glaube.
Ich bin aber sehr aktiv im Interreligiösen Dialog und dort entstehen viele Bekannt- und Freundschaften gerade über die inhaltlichen Unterschiede hinaus.
Ulan schrieb:Wobei kleinere Religionsgemeinschaften eventuell intensivere Kontakte bieten, noch dazu wegen der Wagenburg-Mentalitaet, die dort oft aufkommt.
Die Bahá'í kennen kein starres Wir-Die-Schema, wie das z.B. Jehovas Zeugen oder andere Gruppen haben. Im Gegenteil sind die Bahá'í dazu aufgerufen, auf Menschen anderen Glaubens zuzugehen und mit ihnen Freundschaft zu schließen. Dass die Kontakte trotzdem intensiver sind, liegt einfach daran, dass es nicht allzu viele Bahá'í gibt und daher die Wahrscheinlichkeit, einen Großteil der Gemeinde zu kennen, relativ hoch ist. Das ist aber z.B. in einer kleinen jüdischen Gemeinde mit 15 Mitgliedern auch nicht anders.
Ulan schrieb:Den Schritt zum eigentlichen Glauben (also, wirklich die Lehren diesr Religionsgemeinschaften als wahre Offenbarungen zu begreifen) bleibt mir aber weiterhin nicht verstaendlich. Wurde da ein vorhandener Glaube "umgeformt"?
Im Wesentlichen war mein Weg der hin zu einer Gemeinschaft, in der ich meine eigenen theologischen Gedanken eher wiedergefunden habe als in jeder mir bekannten christlichen Kirche. Und letztendlich war die Anerkennung Bahá'u'lláhs nur die logische Folge meiner Überzeugung, dass Gott die Welt in den letzten 2000 Jahren nicht allein gelassen haben konnte.
sanctus schrieb:Ich denke mir, dass jemand der auch das christliche "Wir glauben" ernst nimmt, irgendwann sich eine andere Religion schon deshalb suchen wird, weil im Christentum eine immer stärkere Vereinzelung stattfindet.
Ich wollte auch nicht einfach irgendeiner Gruppe angehören, deren (offizielle) Lehre ich nicht teilen kann, nur weil das Soziale so nett ist. Und ich fänd's schade, wenn Glaube sich in gemütlichem Miteinander erschöpft, aber keine Reflexion über den Glauben stattfindet. Ich habe leider oft erleben müssen, dass Christsein sich in „Wir haben uns alle ganz doll lieb“ erschöpft hat. Ein gemeinsames Wachsen im Glauben war da nicht im Blick. In anderen Fällen haben kirchlich Verantwortliche versucht, mit künstlicher Coolness Jugendliche in den Gottesdienst zu kriegen. Das war dann einfach nur noch peinlich. Der Superintendent hat z.B. in einem Gottesdienst vor dem Altar ein Trampolin aufgebaut und jeder durfte im Gottesdienst drauf rumhüpfen. Von einer würdevollen Veranstaltung war da nix mehr übrig. Das soll jetzt keine Pauschalkritik am Christentum sein. Ich weiß, dass es auch andere Gemeinden und Mentalitäten gibt. Das waren nur damals sehr prägende Eindrücke.
sanctus schrieb:Konversion hingegen hieße bildlich, Jesus den Rücken zuzudrehen. Das hat in dem Fall nicht zugetroffen.
Ich hätte auch niemals Bahá'í werden können, wenn ich dafür Jesus hätte aufgeben müssen.
Ulan schrieb:Gerade in Lateinamerika oder auf den Philippinen ist geradezu eine Massenbewegung weg von der Katholischen Kirche hin zu Kirchen wie den Adventisten zu sehen, weil den Menschen in der Grosskirche die Gemeinschaft fehlt. Auch dort spielen oft irgendwelche "Propheten" eine Rolle.
Hier muss man noch einmal ganz grundsätzlich unterscheiden zwischen dem Prophetieverständnis bestimmter Freikirchen und der Theologie der Bahá'í. In letzterer gibt es eine Trennung zwischen den sogenannten „Manifestationen Gottes“, durch die Gott in der Welt erfahrbar wird und wirken kann, und gewöhnlichen Propheten, die zwar auch den Willen Gottes übermitteln, aber keine umfassende Vollmacht verliehen bekommen haben. Die Manifestationen Gottes sind souverän, stiften eine neue Religion, offenbaren „Heilige Schriften“ und erlassen Gesetze. Gewöhnliche Propheten berufen sich auf eine bereits vorhandene und ausformulierte Religion und versuchen, dieser Geltung zu verschaffen. In diesem Sinne ist Bahá'u'lláh ebenso wenig „irgendein Prophet“ wie Mohammed oder Jesus.
Ulan schrieb:Sich einen entfernten Ableger des schiitischen Islam als Konversionsziel auszusuchen, sehe ich natuerlich als Konversion zu einem grundsaetzlich vom Christentum verschiedenen Glauben.
Die Bahá'í-Religion ist keine schiitische Sekte. Sie mag zwar ihre Wurzeln in der iranischen Schia haben, aber sie hat sich davon emanzipiert, wie sich das Christentum auch vom Judentum emanzipiert hat. Natürlich findet man noch verwandte Elemente – ist ja im Christentum auch nicht anders – aber so grundverschieden, wie du meinst, sind Bahá'í-Religion und Christentum nicht. Tatsächlich verwenden die Bahá'í-Schriften ab einem gewissen Zeitpunkt deutlich mehr christliche Begriffe und Symbole, als islamische. Wesentliche Teile der Lehrbildung vollziehen sich anhand christlicher Fragestellungen. Die christlichen Feiertage tauchen – im Gegensatz zu den islamischen – sämtlichst in den Bahá'í-Schriften auf. Jesus nimmt in den Schriften als Gottesoffenbarer einen prominenten Platz ein. Das Argument, die Bahá'í-Religion wäre ein Teil der Schia, ist heute weder religionswissenschaftlich noch theologisch noch haltbar.
Ulan schrieb:Soerens Kritikpunkte waren ja auch ausdruecklich an prinzipiell grundlegenden christlichen Glaubensgrundsaetzen festgemacht, also genau das, was eine Konversion ausmacht.
Also, nur weil Soeren das Verbindende zwischen Christentum und der Bahai-Religion explizit in den Vordergrund gestellt hat, macht das seinen Schritt jetzt nicht ploetzlich nicht zu einer Konversion.
Ich würde dir zustimmen, dass es sich rein definitorisch eindeutig um eine Konversion handelt. Ich bin ja schließlich trotzdem von einer Religionsgemeinschaft in eine andere gewechselt. Andererseits hatte ich die Probleme mit diversen christlichen Kernlehren auch schon in meiner Zeit als Christ.
Ulan schrieb:Jesus ist nicht das Christentum. Jesus spielt auch im Islam die Rolle des Richters der Endzeit. Sagen wir mal, Soeren hat das etwas "freundlich" ausgedrueckt. Du vergisst hier, dass seine Konversion beinhaltet, im Bahāʾullāh den wiedergekehrten Christus zu sehen. Hier wird zwar die Figur Christus bemueht, aber mit ganz anderen Inhalten gefuellt als im Christentum. Wenn man Deiner Logik folgt, waere auch ein Uebertritt zum Islam keine Konversion.
Da gibt es aber schon noch einen markanten Unterschied. Denn Jesus als Person ist nicht identisch mit Bahá'u'lláh. Der Name „Christus“ hingegen wird als Attribut verstanden, das Jesus wie Bahá'u'lláh gleichermaßen tragen, eben in ihrer Rolle als „Manifestationen Gottes“. Mit völlig neuen Inhalten wird dieses Konzept auch nicht gefüllt, da die Wiederkunft Christi eigentlich ja ein Kernthema der christlichen Theologie ist. Der Unterschied fängt erst da an, wo Theologen dieses Kernthema unterschiedlich deuten. Ebenfalls nicht mit neuen Inhalten gefüllt wird die Person Jesus von Nazareth. Das Neue Testament und dessen Berichte über das Wirken Jesu werden vollgültig anerkannt. Erst die Interpretation des Neuen Testaments begründet Unterschiede zwischen Christentum und Bahá'í-Religion. Insofern kann man natürlich, wenn man wollte, begrifflich trennen zwischen „der Offenbarung Jesu“ und „dem Christentum“, aber ich für meinen Teil halte irgendeine Theologie auch nicht für konstitutiv für „das Christentum“. Dazu gibt es davon zu viele.
Im Islam liegt der Fall insofern anders, als dass er auf einer völlig anderen Quellenbasis argumentiert. Das Neue Testament wird mehrheitlich als Fälschung verworfen und nur die Berichte im Koran als authentisch angesehen. Folglich ist das Jesusbild der Evangelien für den Islam völlig ohne Bedeutung. Ein Bahá'í könnte das Neue Testament nicht ausblenden, zum islamischen Verständnis Jesu gehört das aber konstitutiv dazu.