(01-07-2016, 06:51)Reisender schrieb: Am Ende des Buches kommt der große Widerspruch, so fängt Benoist an zu bemängeln, dass die Auflösung aller Grenzen keine Heimat mehr biete, dass sich der Mensch nicht mehr sicher sein kann, dort, wo er lebt, eine bestimmte Geisteshaltung oder ein bestimmtes Umfeld vorzufinden.
Vorweg gesagt, ich kenne Alain Benoist jetzt nicht naeher und beziehe mich jetzt nur auf das bisschen, was Du geschrieben hast. Zunaechst einmal, so wie der Satz da steht, ist er sicherlich richtig. Ich sage das als jemand, der im Laufe seines Lebens oefter umgezogen ist und sich als Resultat eigentlich nirgendwo mehr zu Hause fuehlt. Als Heimatloser fuehle ich mich eigentlich am wohlsten unter anderen Heimatlosen. Die moegen zwar ganz andere Erfahrungen als ich haben, aber sie wissen, was es heisst, unter Fremden zu leben. Und Fremder bleibt man fast ueberall, wo man hinzieht. Ich bin auch in meiner Heimat nun Fremder, wegen der ganzen "komischen Ideen", die ich woanders aufgeschnappt habe. Im Westen der USA war das uebrigens am wenigsten ein Problem, da da fast jedermann Zugereister erster oder zweiter Generation war. Dadurch wurde man am ehesten so akzeptiert, wie man ist. Im Osten der USA ist das wiederum ganz anders.
Wenn man sich die Grafiken zur Unterstuetzung rechter Ideologien waehrend Wahlen so anschaut, werden diese Muster erkennbar. Klar, diese Unterstuetzung gibt's auch in Gegenden, die einen starken wirtschaftlichen Niedergang erlebt haben. Andererseits sind es aber oft genau die Gegenden, wo eigentlich kaum Fremde hingehen, weil sie weder fuer Touristen noch fuer andere Buerger desselben Landes irgendwie attraktiv sind. Beim Brexit waren das Gegenden im Osten Englands, wo's ausser Landschaft nichts anzuschauen gibt. Im Osten Deutschlands sind das zum Gutteil Gegenden, wo's nicht mal zu DDR-Zeiten West-Fernsehen gab. Es sind Gegenden, wo seit vielen Generationen dieselben Menschen leben und ihre Eigenarten pflegen, wo kaum einer hinzieht und die eher unternehmungslustige Jugend wegzieht. Das ist sicherlich stark identitaetsstiftend. Fuer erstrebenswert halte ich das aber nicht.
Es ist ein bisschen schade, dass die Integration der Regionen erst ueber den Nationengedanken gehen musste. Wenn man sich vorstellt, wie viel lokale Identitaet das Nationenprinzip zerstoert hat, sieht man, wo eigentlich Identitaet verloren ging. All die verschiedenen deutschen Sprachen sind mehr oder weniger tot, seit es Schule auf Hochdeutsch gibt, und natuerlich heute auch Fersehen (dieser Prozess lief schon in den 1920er und 1930er Jahren). Da wurde also schon einmal Identitaet getauscht, die Identitaet der eigentlichen Heimat in der Region gegen eine nationale Identitaet. Der Europa-Gedanke geht jetzt den naechsten Schritt; er will nationale Identitaet gegen europaeische Identitaet tauschen. Der Widerstand kommt jetzt vor allem von dort, wo der erste Schritt noch nicht ganz getan und die Wahrnehmung des Verlusts noch am hoechsten ist, auch wenn nicht ganz realisiert wird, was da eigentlich verloren geht, und an wen. Ansonsten wuerde ein Einwohner aus East Anglia nicht auf die Idee kommen, die Londoner seien so wie sie.
Ein Ausweg daraus war im Prinzip der Gedanke vom "Europa der Regionen"; also Erhalt und Staerkung der regionalen Identitaet in einem politisch vereinten Europa. Leider steht der Nationalgedanke dem entgegen.

