12-09-2017, 09:50
Ulan schrieb:Das ist ein schoenes Beispiel, wie eine Aussage falsch wird, wenn man sie zu allgemein fasst. Das mit der Ostung der Kirchen kam als Mode irgendwann im Mittelalter auf (im westlichen Teil Europas wurde zuvor eher "gewestet") und, je nach baulichen Gegebenheiten, wurde diese Mode auch im Mittelalter oft ignoriert. In den letzten Jahrhunderten wurde das generell nur noch gemacht, wenn man die freie Wahl hatte. Beim Morgengottesdienst durch das Licht der hinter dem Altar aufgehenden Sonne einen dramatischen Auftritt hinzulegen, war halt "buehnentechnisch" ein beliebter Kniff.
Die Ostung der Kirchen ist durchaus eine theologische Festlegung, die bereits im 4. Jahrhundert getroffen und allgemein umgesetzt wurde. Es gibt aus der römischen Zeit nur zwei Kirchen überhaupt, die gewestet sind, und das sind die Lateranbasilika und St. Peter in Rom, weil dort die Ostung noch nicht beschlossen war. Alle späteren - auch schon konstantinischen - Bauten der römischen Reichskirche und später der germanischen und byzantinischen Nachfolgestaaten sind ausnahmslos geostet. Die Kirche ist, wenn man ehrlich ist, vom Kirchenbau Konstantins einfach völlig überrumpelt worden und hatte weder Zeit noch Gelegenheit, sich mit solchen Fragen im Vorfeld auseinanderzusetzen. Vorher orientierte man sich in der Regel nach Jerusalem, wie das die Juden bis heute tun, weil sie am Osttor den Messias erwarten. Im christlichen Glauben wurde daraus die Wiederkunft Christi "von Osten her". Man wendet sich also ganz bewusst Christus zu und nicht einfach irgendeiner aufgehenden Sonne. Man assoziiert die Sonne zwar als Symbol mit der Wiederkunft Christi, die eigentliche Richtung des Gebets ist aber Christus in persona.
Die Bahá'í beten im Übrigen auch weder ein Grab noch die Knochen darin an. Die Gebetsrichtung ist lediglich ein Hilfsmittel, um die Konzentration auf Gott und seinen jüngsten Boten zu fördern, ebenso wie den Waschungen beim Bahá'í-Pflichtgebet keine Reinheitsvorschriften mehr zugrunde liegen - die hat Bahá'u'lláh ausnahmslos abgeschafft - sondern lediglich die Erkenntnis, dass eine auch äußerliche Vorbereitung auf das "Gespräch mit Gott" den besonderen Charakter des Ganzen deutlich macht und die Konzentration darauf fördert.
Ulan schrieb:Die "muslimische Kritik" woran genau meinst Du?
Das verstehe ich jetzt auch nicht. Niederwerfungen (Prostrationen) gab und gibt es im Christentum ebenso. Insbesondere im tridentinischen Ritus der katholischen Messe sind Prostrationen ein maßgebliches Element. Das also als eine islamische Eigenart aufzufassen, ginge am Kern der Sache vorbei. Im Übrigen kennt auch nur eines der drei Pflichtgebete der Bahá'í überhaupt Prostrationen. Beim Kurzen Pflichtgebet sind überhaupt keine Bewegungsabläufe vorgeschrieben, beim Mittleren im Wesentlichen nur das Heben und Senken der Arme. Jeder Gläubige hat die Freiheit, sich eines der drei Pflichtgebete für den persönlichen Gebrauch auszusuchen (oder auch mal zwischen ihnen zu wecheln, wenn ihm danach ist). Es ist also niemand dazu gezwungen, sich "niederzuwerfen".
"Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da." - Sophokles: Antigone, Vers 523