(01-05-2018, 16:29)Logonat schrieb: Ulan hallo nochmal
Du unterstellst Jesus militant gewesen zu sein?
Hallo Logonat,
dass die Evangelien in ihrer jetzigen Form eine eher pazifistische Ausrichtung haben, habe ich ja durchaus erwaehnt; ich sagte ja, dass sie wohl mit dem frischen Eindruck der Graeuel des gescheiterten juedischen Krieges geschrieben wurden, aber wohl auch spaeter, als Militanz fuer Schriften mit juedischem Hintergrund einem Todesurteil gleich kam, weiter entschaerft wurden.
Wer oder was Jesus wirklich war, werden wir wohl nie erfahren, da das unter der literarischen Figur, die uns in den Evangelien begegnet, nicht mehr erkennbar ist. Jesus selbst wollte als militant gesehen werden, wie uns das Lukas-Evangelium erzaehlt. Jesus befahl den Kauf von Schwertern, damit er als Gesetzloser galt. Alle Evangelien stimmen darueber ein, dass er wegen eines politischen Vergehens hingerichtet wurde (das Schild mit dem Hinrichtungsgrund weist ihn als Koenig der Juden aus). Er wurde zwischen zwei Raeubern hingerichtet. "Raeuber" war das im 1. Jahrhundert gebraeuchliche (hier griechische) Wort fuer Aufstaendische. Andere Hinweise findet man unter seinen Juengern: Simon Zelotes (Zelot bezeichnet im 1. Jhdt. ein Mitglied der aufstaendischen Fraktion) oder Judas Ischariot (was man als "Judas der Sikarier" uebersetzen kann; Sikarier waren die ausgebildeten Meuchelmoerder waehrend des Aufstands). Markus ist ganz explizit darin, dass der waehrend des Prozesses Jesu freigelassene Barabbas jemanden waehrend des Aufstandes umgebracht hatte. Bei der wundersamen Speisung der Vielen sitzen die Zuhoerer Jesu nicht ungeordnet, sondern in Form eines juedischen Heerbanns.
All laesst es als durchaus moeglich erscheinen, dass wir es hier mit einer umgeformten Erzaehlung ueber einen Fuehrer im juedischen Aufstand zu tun haben. Natuerlich kann man das auch versuchen, anders zu erklaeren (und die meisten Neutestamentler tun das auch), aber wenn das erste Evangelium wirklich ein Lehrstueck ueber die Schrecken des Krieges war (was die meisten Neutestamentler wiederum bejahen), der mit der Kreuzigung von Zehntausenden endete, dann kann man viele Elemente des Evangeliums auch entsprechend erklaeren. Die Geschichte mit Barabbas thematisiert dann, dass das juedische Volk den Krieg gewaehlt hatte, und da die Episode auf der Yom Kippur-Zeremonie aufgebaut ist, ist auch klar, dass der Krieg hier als Verderben dargestellt wird (freigelassen wird der Suendenbock, damit er stirbt). Der Verrat des Judas Ischariot ist dann aehnich einzuordnen.
Auch in diesem Fall ist die Grundbotschaft des Evangeliums natuerlich pazifistisch in dem Sinne, als es zeigt, dass Krieg und Gewalt ins Verderben fuehren koennen, vor allem, wenn man der Schwaechere ist. Die Wiederkunft Jesu mit den himmlischen Heerscharen soll das Kriegsglueck dann in der Zukunft umkehren, und die Feinde Israels werden dann umkommen.
Ansonsten wurde der Text wohl spaeter weiter entschaerft. An den Evangelien wurde noch lange herumgeschrieben. Die von Dir genannte, allseits beliebte Episode ueber die "Dirne" fehlt z.B. in allen aelteren Texten des Johannes-Evangeliums, die wir noch haben. Das frueheste Beispiel, das wir haben, stammt aus dem 5. oder 6. Jahrhundert, wobei der Text wohl ein wenig aelter ist. Es koennte sein, dass er urspruenglich aus dem, von der Kirche spaeter als haeretisch vernichteten, Gospel der Hebraeer stammt. Was ein wirklicher Jesus sagte, weiss wohl niemand mehr.
Das alles lenkt aber jetzt ein wenig von meiner Hauptkritik an dem Appell ab. Das ist und bleibt das Ignorieren der Ursachen fuer den Konflikt. Dort muesste ein Appell ansetzen. Im Prinzip muessen beide Seiten ihre Forderungen fallen lassen und von ihren Wuenschen Abstand nehmen. Israel muesste die Palaestinenser, die ihre Haeuser und ihr Land verloren haben, wahrscheinlich zumindest symbolisch entschaedigen (eine substantielle Entschaedigung ist wohl praktisch nicht machbar), damit endlich Ruhe einkehrt. Umgekehrt muessen die Palaestinenser einsehen, dass die Generationen an Israelis, die in dem Land mittlerweile aufgewachsen sind, dieses als Heimat haben und auch ein Recht haben, dort zu bleiben. Das schwierigste Problem ist die Staatenfrage. Am Praktischsten waere wohl ein gemeinsamer Staat, aber da auch Israels Politik immer fundamentalistischer wird, wuerden sie einer Loesung unter arabischer Mehrheit wohl nie zustimmen. An einen lebensfaehigen palaestinensischen Teilstaat glaubt wohl niemand mehr so richtig.