(16-10-2018, 10:36)Sinai schrieb: Ich schrieb in Bezug auf die Reformation: "Die Geburtsstunde der demokratischen Idee in Europa."
Dies dürfte schon zutreffend sein, wenn man die von Dir erwähnte "attische Demokratie" im 5. Jhdt. v.Chr. damit vergleicht:
"Auch in der Epoche ihrer Vollendung bot die attische Demokratie allerdings nur einem Teil der Bevölkerung Attikas das Recht zur politischen Partizipation." Attische Demokratie - Wikipedia
Knechte und Frauen waren davon ausgeschlossen
Bei der frühmittelalterlichen Königswahl waren Frauen ebenso ausgeschlossen
In den freien Reichsstädten des Mittelalters durften nur Einwohner mitstimmen, die einen Handwerksbetrieb besaßen, Gesellen hatten KEIN Stimmrecht!
Was die zugrundeliegenden Fakten angeht, ist das zwar alles richtig, aber man kann natuerlich jegliche Idee ad absurdum fuehren, wenn man ihre Grenzen unzulaessig eng definiert. Wo bringt die Reformation das Frauenwahlrecht ein? Die Diskussion darum fing im 19. Jhdt. an. Wer in der Renaissance wusste um die Grenzen der Athener Demokratie? Die Renaissance war eine Wiederkehr antiker Ideen und auch Ideen ueber die Antike in idealisierter und erneuerter Form. Wichtig ist nicht, dass die Athener Demokratie eng begrenzt war, wie wir heute wissen, sondern die Idee der Bestimmung durch das Volk, wie sie schon im Namen selbst steckt.
Desweiteren ignoriert Dein Geschichtsbild das, was ich schon mehrfach angemerkt habe, naemlich, dass Luther und die Reformation nicht im luftleeren Raum starteten. Die Bauernaufstaende des Mittelalters sind seit dem 13. Jhdt. belegt. Die Bundschuh-Bewegung existiert seit 1460. Bauernkriege gab es noch davor. Wenn man sich die Forderungen ansieht, so geht es da tatsaechlich um Dinge wie die Aufhebung der Leibeigenschaft, Abschaffung auch der geistlichen Gerichtsbarkeit, Senkung der Abgaben, Einfuehrung eines Jubeljahres (Erlass aller Schulden). Viele Forderungen richteten sich gegen die Kirche, weil sie Teil des unerbittlichen Ausbeutungssystems war, und die Leute es schlicht satt waren, den Klerus in den vielen Kloestern durchzufuettern; das war eine weitverbreitete Ansicht (siehe auch Hans Böhm).
Der Ruetlischwur als Geschichte des Aufstandes gegen den tyrannischen Adel wurde auch schon spaetestens 1470 in Buchform gegossen.
(16-10-2018, 10:36)Sinai schrieb: Es war die Reformation, die ALLEN MENSCHEN in ganz Deutschland sagte, daß sie berufen seien, zu entscheiden was der Wille Gottes ist.
Das hatte sicherlich einen konvergierenden Einfluss zu den sowieso schon existierenden sozialen Formen, aber die Forderungen der Bauern aus den Jahrhunderten davor zeigen, dass aehnliche Ideen schon da waren. Die fuehrenden Reformatoren entschieden sich aber dagegen, ihre geistliche Reform auf weltliche Reformen angewandt zu sehen. Die Idee ist natuerlich trotzdem wichtig, aber diese entscheidende Rolle, die Du ihr hier zubilligst, wuerde ich ihr nicht einraeumen wollen. Luthers herausragende Eigenschaft ist, dass er Erfolg hatte; was nicht zuletzt daran liegt, dass er sich auf die Seite der Herrschenden stellte.

