(17-10-2018, 11:54)Sinai schrieb: Hallo Ulan
Im Mittelalter war das Heilige Römische Reich, und auch Spanien, Frankreich, England - das ganze christliche Europa - hierarchisch organisiert.
Ein erblicher Adel regierte weltlich, beschickte aber auch den Klerus und beherrschte ihn.
Somit eine Symbiose von Adel und Klerus, fast schon eine Identität.
Ideologische Grundlage der mittelalterlichen Gesellschaft war die Bibel, allerdings nur Teile der Bibel.
Da die Bibel auf Latein geschrieben war, konnten die Völker Europas sie nicht lesen. Der Klerus übersetzte nur die Teile der Bibel, die der Gesellschaft als Vorbild dienen sollten, und las sie in den Kirchen vor - andere Teile der Bibel, die als unvertretbar angesehen wurden, wurden nicht vorgelesen. Eine selektive Auswahl
Eine Zensur
Diese Aussagen sind, wie ich bereits dargelegt habe, objektiv falsch fuer die direkte vorreformatorische Zeit. Seit Erfindung des Buchdrucks fanden viele ins Deutsche uebersetzte Bibeln ihren Weg in die (natuerlich eher wohlhabenden) Haushalte. Solange die Uebersetzung nahe an der Vulgata blieb, wurde sie von der Katholischen Kirche nicht behelligt. Das Bibelverbot war in einen Lizenzzwang verwandelt worden. Luther konnte bei seiner Uebersetzungsarbeit auf viele bereits existierende deutschsprachige Bibeln zurueckgreifen. Die kamen aus allen Regionen des damaligen Reiches (eine beruehmte kam auch aus Oesterreich). Die Mentelin-Bibel wurde in vielen Auflagen im sueddeutschen Raum gedruckt und verkauft, war aber eine Wort-fuer-Wort-Uebersetzung der Vulgata. Die schon erwaehnte Luebecker Bibel, wahrscheinlich aus dem Franziskaner-Milieu stammend, war dann der naechste Schritt zu besseren Uebersetzungen. Das Bibelverbot wurde also nach und nach ausgehoehlt.
(17-10-2018, 11:54)Sinai schrieb: Luther wollte nun die Macht der Kirche aushebeln, und ging so vor, daß er das Schlagwort sola scriptura schuf.
Damit rief er die Völker dazu auf, selbst die Bibel zu lesen / zu interpretieren / zu werten
Luther sprengte damit die hierarchisch organisierte christliche Gesellschaft auf !
"Als Adam grub und Eva spann - wo war denn da der Edelmann"
Nicht mehr der adelige Klerus sollte entscheiden, wie die Religion und damit die Ideologie und damit die Politik auszusehen habe, sondern der einfache Mann aus dem Volk - und die einfache Frau aus dem Volk
Damit war ein Gedanke als kleine Pflanze in die Volksseele gepflanzt worden, die dann nach Jahrhunderten zum mächtigen Baum wurde: Allgemeine Demokratie und in Konsequenz auch das Frauenwahlrecht
Es waren die protestantischen Gesellschaften, die Wegbereiter der Demokratie und des Frauenwahlrechts waren (England, Niederlande, Skandinavien, USA) - und niemals die katholischen Gesellschaften (Spanien)
Nun, das ist lediglich eine Wiederholung des bereits Gesagten, und ich habe darauf schon geantwortet. Ekkard hat die politische Dimension ja angesprochen, und ich habe darauf hingewiesen, dass die auch vor Luther bereits im Raum stand. Dass Luther hier auf den ersten Stand zielte, ist klar. Der hatte sich aber wohl zu seiner Zeit selbst disqualifiziert. Wenn Leute, die die Bibel vielleicht mal von weitem gesehen haben, zum Bischof von Magdeburg werden, weil das in den Karriereplan passt, und dabei einen Dispens vom Papst bekommen, ist das schon mal nicht vertrauenserweckend. Wenn dieser Bischof dann noch das Bistum Halberstadt zur Verwaltung bekommt, weil er die Kasse so schoen zum Klingeln bringt, hilft das auch nicht. Wenn er dann noch mit Billigung des Papstes zum Erzbischof von Mainz wird - wohlgemerkt gegen geltendes Recht ohne die anderen Aemter abzugeben - so ist das nur noch korrupt. Und ja, in so einem Fall kann jeder zu Hause an seinem Tisch die Bibel besser auslegen als dieser Kirchenfuehrer, der wahrscheinlich noch nie in eine Bibel geguckt hat.
Was die Fortschrittlichkeit protestantischer Regionen angeht, so muss man das differenziert sehen. Das galt naemlich auch generell fuer die Wirtschaftsentwicklung, wo die katholischen Regionen wegen ihres niedrigeren Bildungsstandards lange Zeit (bis Mitte des 20. Jhdts.) hinterherhinkten. Die mit der Industrialisierung einhergehende gesellschaftliche Umkrempelung hat wohl mehr mit Demokratie und Frauenwahlrecht zu tun als irgendein Luther-Zitat. Der Effekt ist also eher indirekt.

