09-11-2009, 23:57
(09-11-2009, 19:05)petronius schrieb: genau. deshalb kannst du ja nicht das individuum über den gesellschaftlichen konsens der kultur definieren, ja nivellieren
Du verstehst das wesentliche Argument nicht. Es gibt nichts, womit ich ein Individuum beschreiben könnte, was nicht durch die Kultur vorgegeben ist. Die Bedeutung eines Individuums erkennt man nur daran, wie man es mit der Gesellschaft zusammenbringt. Nenne mir ein Sache, die du über dich selbst sagen könntest, die ich nicht nur deshalb verstehe, weil ich so etwas aus unserer Kultur bereits kenne.
Bedeutung ist übrigens immer noch kein Synonym für Sinn. Ich meine Bedeutung noch immer so wie bei der Bedeutung eines Worts.
Zitat:Der Einfluss auf der Kultur auf das Individuum ist auch deutlich höher als andersherum. Der Einzelne muss sich zwangsläufig an die Rahmenbedingungen der Kultur halten
eben nicht. sonst gäbe es ja keine veränderung
(09-11-2009, 19:05)petronius schrieb:Zitat:Es gibt einfach zu viele Individuen als dass jedes einzelne enormen Einfluss haben könnte
darum gehts ja nicht. zur individuellen sinnfindung ist es doch nicht nötig, "enormen Einfluss" zu haben
Nein, natürlich muss man dazu keinen enormen Einfluss haben. Aber man wird enorm beeinflusst.
(09-11-2009, 19:05)petronius schrieb:Zitat:Beispiel Religion: Unsere Kultur ist schon länger christlich als wir neuhochdeutsch sprechen. Das Christentum hat viele Sprachen überlebt. Warum sollte christliche Mythologie, christliche Moral, christliche Symbolik uns nicht in ähnlich hohem Maß beeinflussen wie die Sprache?
weil nicht jeder sich als christ oder gläubiger versteht, der deutsch spricht
Du musst doch selbst kein Christ sein, um christliche Mythologie zu verstehen. Aber christliche Mythologie hat unsere Kultur enorm beeinflusst, d.h. wenn du unsere Kultur kennen lernst, dann kannst du kaum verhindern, gleichzeitig christliche Mythologie kennen zu lernen. Du gehst z.B. an einem Friedhof vorbei und weißt, warum wir Leichen in Holzkisten stecken, die wir in der Erde vergraben. Du weißt, warum wir obendrauf Blumen pflanzen und warum wir Steine in bestimmten Formen darauf setzen. Du weißt, was es bedeutet, wenn ein Stein die Form eines Kreuzes oder einer Marienfigur hat.
Soweit bist du durch Kultur determiniert.
Nächster Schritt. Christliche Mythologie äußert sich zu Sinnfragen. Auch das kann dir nicht entgehen, wenn du dich in unserer Kultur bewegst. Wenn du dich also in unserer Kultur mit Sinnfragen befasst, führt gar kein Weg daran vorbei, christliche Positionen zu kennen und dazu wiederum selbst Position zu beziehen.
Eine andere Religion hat diesen Status in Deutschland nicht. Auch wenn andere Religionen immer stärker vertreten sind, hat keine auch nur annähernd diese Präsenz. Die Muslime kämpfen z.B. noch um ihr Recht Moscheen bauen zu dürfen. Auch keine Philosophie oder politische Ideologie oder was sonst als irgendein Äquivalent zur Religion gewertet werden könnte hat diese Präsenz.
Welche Rolle spielt nun die Macht des Individuums?
Nun das Individuum ist sehr wohl in der Lage, sich für den eigenen Lebenssinn am Koran anstelle der Bibel zu orientieren. Lebt es aber in einer christlichen Kultur wie der unsrigen, wird es trotzdem eine ganze Menge christliches Gedankengut kennen und davon beeinflusst sein. Dass man ein Muslim in einer christlichen Gesellschaft ist, unterscheidet einen ganz enorm vom einem Muslim in einer muslimischen Gesellschaft.
Was man halt nicht kann, ist den Koran an die kulturelle Stelle der Bibel in unserer Gesellschaft zu setzen.
(09-11-2009, 19:05)petronius schrieb: nein - de facto findet weitgehend keine erziehung zur "ehrfurcht vor gott" statt
Ich gehe davon aus, dass diese Aussage auf einem subjektiven Eindruck basiert und bitte um Belege.
Ich vermute, dass dein Eindruck mit einem altmodischen Gottesbild zusammenhängt. Gewandelt hat sich nämlich weniger die Präsenz der Religion in unserer Gesellschaft als viel mehr das Gottesbild. Heutzutage sehen wir das, was wir mit Ehrfurcht vor Gott meinen, viel liberaler als früher.
Die Mehrzahl der Bundesländer hat ähnliche Erziehungsideale in ihrer Verfassung verankert und sichert Religion als ordentliches Lehrfach ab. Gleichzeitig besteht Schulpflicht. Die Mehrzahl der deutschen Kinder erhalten also eine jahrelange Ausbildung in christlichen und weltanschaulichen Themen.
Neulich wurde Angelika Merkel zum zweiten Mal als Bundeskanzlerin vereidigt. Sie endete mit den Worten: "So wahr mir Gott helfe." Hat sie das etwa nicht Ernst gemeint?
(09-11-2009, 19:05)petronius schrieb: und ich kann mich ganz hervorragend mit diesen instanzen (z.b. der kultur, auch deren christlicher prägung) beschäftigen, ohne zu beten oder die bibel zu lesen
Aber ausprobiert hast du es ja schon einmal. Es gab also mal einen Zeitpunkt, wo du dachtest es sei angebracht zu beten oder in der Bibel zu lesen und sei es auch nur, um diesen Mumpitz endlich verwerfen zu können.
Ist dir einmal aufgefallen wie viele User in diesem Forum Atheisten oder Agnostiker sind? Schau mal in ähnliche Foren, nirgendswo ist es anders. Wie sehr das Christentum unsere Kultur beeinflusst ist kaum davon abhängig, ob wir daran glauben oder nicht.
Um es grob zusammenzufassen, ich spreche von kulturellen Bedingungen unseres Daseins und davon, dass sie unsere Sinnsuche stark beeinflussen. Ich verstehe noch immer nicht, was daran so seltsam sein soll, dass du meinst es würde sich von deiner Weltanschauung so sehr unterscheiden. Das tut es gar nicht.