Mensch1972 schrieb:Es ist natürlich richtig, dass es für einen reichsweiten Zensus zum fraglichen Zeitpunkt keinerlei Beweise gibt.
Richtig ist auch, dass es für eine zweifache Statthalterschaft des Quirinius keinen Beweis gibt, sondern nur Mutmaßungen.
Soweit stimmen wir überein.
Mensch schrieb:Glaubt man Tertullian, so fand die besagte Volkszählung (allerdings keine reichsweite, sondern nur in der Provinz) im Jahre 9/8-4 v. Chr. statt.
Zu diesem Zeitpunkt war allerdings nicht Quirinius Statthalter, sondern Sartinius.
Tertullian war sich des Problems offenbar bewusst. Mit seiner Behauptung ist er allerdings von Lukas abhängig, auch wenn er den Zensus, weil dieser sonst mit der Geburt Jesu nicht ins Einvernehmen gebracht hätte werden können, zeitlich unter die Statthalterschaft des G. Sentius Saturnius (ca. 9-5/4 vC?) vielleicht auch unter jene des P. Quintilius Varus (ca. 5/4-? vC) verortete.
Die Statthalterschaften des Saturnius und des Varus werden von Josephus bestätigt:
"Zu dieser Zeit befand Quintilius Varus, der Nachfolger des Saturnius in der Verwaltung Syriens, in Jerusalem, wohin er auf Herodes' Bitte zur Besprechung über die gegenwärtige Lage gekommen war." (Ios. ant. XVII, 89)
Von einem Zensus unter Saturnius oder Varus weiß Josephus nichts. Ein solcher wäre auch ein Affront gegen den Klientelkönig Herodes gewesen.
Mensch schrieb:Möglich wäre, dass Quirinius hier als eine Art Sonderbeauftragter mitgewirkt hat bzw. den Zensus organisiert hat. Das folgern manche aus der besagten Inschrift (Titulus Venutus). Das ist allerdings äußerst umstritten.
Richtig: Das ist äußerst umstritten.
Diese Position wird von Theologen vertreten, die an der Harmonisierung lukanischer Behauptungen interessiert sind.
Mensch schrieb:Es gibt aber auch eine ganz andere, nicht minder interessante Ansicht hierzu:
Quirinius war während des Homadenserkriegers von 11-7 v. Chr. Oberbefehlshaber über die 3 in der Provinz Syrien stationierten Legionen und soll dadurch automatisch auch gleichzeitig auch Oberstatthalter der Provinz Syrien, der Judäa ja angegliedert war, gewesen sein. Das soll sich daraus ergeben, dass diese Stellung automatisch dem jeweiligen Oberbefehlshaber ("Oberstatthalter mit proconsularischem Imperium")zufiel.
Quirinius müsste unter der Statthalterschaft des Saturnius eine Position innegehabt haben, die der Art eines "Vizekaisers" entsprochen und sowohl die Befugnisse des Statthalters als auch die Rechte des Klintelkönigs beschnitten hätte. Dass eine solch überragende Stellung des Quirinius der römischen Historiographie so gänzlich entgangen wäre, ist sehr unwahrscheinlich (vgl. E. Stauffer, Jesus. Gestalt und Geschichte, Bern 1957,32f.).
Mensch schrieb:Im Jahre 150 n.Chr. schrieb Justin der Märtyer an den damaligen Kaiser Antonius Pius einen Brief, in dem er auf die Akten des Pontius Pilatus sowie auf die Aufzeichnungen der Volkszählung Bezug nimmt bzw. verweist.
Man darf annehmen, dass derartige Aufzeichnungen tatsächlich existiert haben, zu denen der Kaiser auch Zugang gehabt haben muss. Justin hätte es ansonsten kaum gewagt, den Kaiser darauf hinzuweisen, geschweige denn, ihn anzulügen.
Solch scharfsinnig vorgetragene Spekulation, die sich auf "möglicherweise einmal vorhandengewesene" Dokumente stützt, mag für Theologen nützlich sein, für Überlegungen zu historischen Abläufen ist sie unbrauchbar.
Mensch schrieb:Nachprüfen bzw. beweisen kann das heute natürlich niemand mehr.
So ist es!
Da sich die historische Wissenschaft vornehmlich anhand überprüfbarer Quellen ein (Geschichts-)Bild zu machen pflegt, sollte man nicht belegbare Dinge zu behaupten, der unkritischen Theologie überlassen. Die historisch-kritische Theologie orientiert sich ja ohnehin an historisch-wissenschaftlich ermittelten Sachverhalten.
MfG B.