19-11-2010, 04:51
(18-11-2010, 19:47)Lux schrieb: Das ist ein sehr guter Ansatzpunkt.
Allerdings definiere ich mein 'Ich' nicht über eine Sachlage. Was ich heute behaupt kann ich morgen schon widerrufen, wenn sich meine Argumentationsbasis bzw. meine Meinung ändern würde.
Ähnliches wollte ich da ja damit sagen, dass die Inhalte dessen, was ich zu meinem Ich zähle, sich ändern.
(18-11-2010, 19:47)Lux schrieb: Im Moment meines Todes steht mir diese Option nicht mehr offen - ich kann nichts mehr widerrufen oder überdenken.
Ja, natürlich.
(18-11-2010, 19:47)Lux schrieb: Daher halte ich es für überspitzt das 'Ich' auf eine vorrübergehende Phase eines 'Ichs' zu beschränken. Setzt man dieses 'Ich' nun mit dem 'Ichbewusstsein' gleich, müsste ich dir Recht geben.
Vielleicht sollten wir unsere Überlegungen hier nicht gegenseitig mit 'überspitzt' oder ' weit hergeholt' zensieren?
Wir entwickeln hier ja frei unsere doch noch ganz unsicheren Gedanken und Beobachtungen und tasten uns da vor. Wenn man sie gleich zensiert, ziehen sie sich schnell wieder zurück.
Ich weiß jetzt auch nicht genau, worauf Du dich mit Deinem Zitat beziehst.
Meine Beobachtung ist eben die, dass das Ich sich- eventuell - aus Erinnernungen schöpft, um seine Identität zu wahren. Und dass diese Erinnerungen sich wandeln, dennoch das Gefühl von Identität da ist, jedenfalls meistens.
Diesem Phänomen versuche ich auf die Spur zu kommen.
Aber ich habe nirgends - glaube ich - das Ich auf eine vorübergehende Phase beschränken wollen. Das eben gerade nicht. Und ob Ich und Ichbewuttsein das Gleiche sind, wollte ich eigentlich eher erst mal hinterfragen oder überprüfen.
Das sind alles so unsichere und ungesicherte Begriffe, dass ich versuche vorsichtig damit umzugehen.
(18-11-2010, 19:47)Lux schrieb: Vielleicht habe ich deine AussageKarla schrieb:[...] ein anderer wird es vielleicht irgendwann tun.auch einfach missverstanden.
Die Aussage ist auch missverständlich. Vielleicht ein Beispiel, das mir gerade präsent ist - auch wenn es jetzt aus der Dichtung stammt:
Es gibt eine Erzählung von Ulrich Plenzdorf "Die neuen Leiden des jungen W".
Dort ist ein junger Mann vom Betrieb abgehauen und verbirgt sich in einer Gartenlaube in einer Gartenkolonie. Dort auf dem Plumpsklo findet er ein Reclam-Heft oder so, das als Toilettenpapier dort ausliegt. Die ersten Seiten sind schon rausgerissen, das Deckblatt auch. Er liest sich fest - wir können identifizieren dass es Goethes 'Leiden des jungen Werther' sind.
Ihn haut der Text um und findet in ihm eine Parallele zu seinem eigenen momentanen - unglücklichen - Los. Mit diesem Text erklärt er sich nun sein eigenes Leben, versteht es besser.
So etwas Ähnliches meinte ich: Goethe selber ist längst tot, seine damaligen Gefühle, die er im 'Werther' konserviert hat, auch.
Aber ein anderer macht sie wieder lebendig, entwickelt sie weiter.
(18-11-2010, 19:47)Lux schrieb: Aber gehen wir nun von folgendem Fallbeispiel aus:
Ich bin überzeugter Kommunist, von mir aus sogar fanatisch. Hierrüber definiere 'Ich' einen gewissen Abschnitt in meinem Leben, der Kommunismus wird zu 'meiner' Lebensphilosophie - diese Haltung lege ich jedoch nach einiger Zeit ab.
Irgendjemand kann sich mit der selben Lebensphilosophie später als 'Ich' identifizieren, aber das individuelle 'Ich', das mich zu dieser Philosophie geführt hat und mich veranlasst hat von ihr abzulassen und im Weitesten mein Handeln bestimmt hat, wird immer unangetastet bleiben, wird niemals jemand anderes annehmen können.
Ja. Niemand. Und nicht mal man selber.
(18-11-2010, 19:47)Lux schrieb: Denn es ist genau dieser individuelle Hintergrund, der 'mich' einzigartig macht und in Situationen so handeln lässt, wie ich handel. Es ist meine individuelle Erfahrung, meine Vergangenheit, die mir diese Zukunft eröffnet.
Soweit kann ich das noch nachvollziehen, dass es die eigene Individualität ist, die zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt den Kommunsmus akzeptiert und ihn später nicht mehr akzeptiert.
Ob gerade dies aber die Einzigartigkeit des Ichs ausmacht - darüber muss ich noch nachdenken. Aber ich lass das erst mal so stehen.
(18-11-2010, 19:47)Lux schrieb: Aber wenn da keine Zukunft mehr ist, nichts das den Prozess weiterführen könnte? Kann man diesen eingefrorenen Zustand am Ende des Lebens dann wirklich als ewiges 'Ich' dieser Person ausmachen?
Von 'ewig habe ich, glaube ich, nirgends gesprochen. Ich kann mir ebenfalls nicht vorstellen, wie ein eingefrorenes Ich aussehen sollte - da es sich ja eben ständig ändert.
Aber einzelne Inhalte können, wie das Beispiel 'Werther' zeigen sollte, auf einem anderen 'Mutterboden' quasi, einem fruchtbaren Boden weiterwuchern.
Und auf meinem momentanen 'fruchtbaren Mutterboden' wuchern ja haufenweise Sachen rum, die gar nich aus mir selber stammen.
Ich 'zähle' sie nur zu mir. Habe sie sozusagen als 'Ich' adoptiert.
Ich habe so eine Art Komposthaufen in mir, der sich im Laufe der Jahre gebildet hat, der fruchtbar ist, aus dem ich mich andauernd bediene und neue Pflanzen damit 'dünge'.
(18-11-2010, 19:47)Lux schrieb: Oder ist es nur eine Projektion dieser Person, die wir zu einem bestimmten Zeitpunkt von dieser Person hatten und somit meinen zu wissen, was das Wesentliche, das 'Ich' dieser Person darstellt?
Ach, jetzt verstehe ich, wovon Du sprichst. Von einem Verstorbenen, der noch in einem lebt. Darüber habe ich mir auch oft den Kopf zerbrochen. Gerade, wenn der, der einem noch so gegenwärtig scheint, in hohem Alter gestorben ist, und man kennt ihn schon seit Jahrzehnten. Was genau von ihm ist dann in mir lebendig - das ist das, was Du thematisierst, oder?
Dessen Ich kann ja in hohem Alter dement gewesen sein. Kann sich selber gar nicht mehr an die eigene Vergangenheit erinnert haben. Aber wir erinnern uns noch, und in uns lebt von ihm - ja, was?
Ich kann da nur das noch einmal sagen, was ich schon von dem eigenen Ich sagte: auch dieses baut man sich ständig neu. Es gibt durchgehende Motivketten, das schon. Aber auch die eigene Vergangenheit ist einem fast nur ein Komposthaufen, aus dem man sich ständig bedient.
Und das gilt für einen geliebten Verstorbenen auch. Man spürt eine Art 'Extrakt' von ihm in sich, aber dieser Extrakt ist auch Ergebnis des eigenen Komposthaufen.
Ich lande eigentlich ständig immer wieder bei demselben: Dieser Humus, dieser Komposthaufen, aus dem ich täglich mein Ich herausziehe, ist größer als das, was ich zu meinem Ich zähle. Ich bediene mich ständig aller möglichen Komposthaufen.
(18-11-2010, 19:47)Lux schrieb: Ich persönlich denke, dass es ganz wichtig ist sich nahestehender Personen zu erinnern und auch der Gedankengang: "Was hätte er/sie gedacht/getan?" ist sicherlich nichts Verwerfliches, sondern spendet oftmals lebenswichtigen Trost.
Sehe ich auch so. Nahestehende, aber verstorbene Personen sind ja eben dadurch, dass man selber noch lebt, weiterhin fruchtbar.
Und sie sind es im Prinzip - auf dieselbe Weise als sie noch lebten.
Ich nannte ja schon ein Internetforum als Beispiel. Was ich hier täglich lese, wirkt ja auch auf mich fruchtbar, obwohl ich von den realen Personen, die hier hinter den Aussagen stehen, keine wirkliche Kenntnis habe.
Alle, die hier schreiben, stelle ich mir irgendwie vor. Irgendein Ich haben sie für mich, einen Charakter, eine Eigenart, eine Individualität.
Und doch ist es nur ein Extrakt, wenn auch ein organsicher, fruchtbarer Extrakt.
Und 'ich' bin es mir selber dann praktisch auch.
Man kann sich durchaus im Laufe seines Lebens davon verabschieden, dass man ein starres Ich sei. Das hält einfach einer Überprüfung nicht stand. Ich bin einfach irgendwann nicht mehr bereit, oder in der Lage, mich als feststehende Einheit aufzufassen, wenn sich das x-mal als Irrtum herausgestellt hat.
Und dann kann man anfangen zu grübeln, woher dieses 'Ichbewusststein' dann stammt. Was genau es ist.
