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Alter, Sterben, Tod - wie kann man das lernen?
#61
Hallo, Jörg,

das einzige Konkrete, vor dem ich in Bezug auf den Tod Angst habe, ist, dass ich meine Frau verlassen muss, bzw., wenn sie stirbt, dass sie mich verlassen muss. Dieser Gedanke lässt mich manchmal richtig panisch werden, besonders, wenn ich wieder eine schwere gesundheitliche Krise habe. Ansonsten ist da nichts "Uneingestandenes", "Offenes".

Liebe Grüsse

Petrus
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#62
Hallo Petrus!


(29-09-2008, 10:35)Petrus schrieb: Auch Dir, WiT, herzlichen Dank.

Im Prinzip kann ich Eure Erfahrungen und Gedanken nur sammeln, und hoffen, dass sich da "Lichtblitze" für mich auftun. Aber ich kann kaum etwas dazu sagen, weil ich spüre, dass man wohl an einen (liebenden, wertenden, gerechten, auf jedenfall personalisierten) Gott glauben muss, um diese Gelassenheit, von denen Du und die anderen hier berichten, verstehen zu können. Diesen Glauben habe ich nicht.

Ich glaube absolut nicht, dass man an einen liebenden, wertenden, gerechten, auf jeden Fall personalisierten Gott glauben muss, um diese Gelassenheit zu bekommen. Man kann sie auch auf andere Weise bekommen. Mir fließt das aber nicht so leicht von den Lippen, darum werde ich wohl auch jetzt - was die inhaltlichen Aussagen betrifft - nur Fetzen "zu Papier" bringen können, jedenfalls erstmal.

Zu meiner Person: ich bin durch und durch "ungläubig". Des religiösen Glaubens unfähig. Gläubigkeit liegt nicht in meinem Naturell, "an" irgendetwas glauben zu können. Und ich bin auch nicht bereit, mein Sterben und meinen Tod unter den Glauben "an etwas" zu stellen.
Obwohl ich den christlichen Glauben mit der Muttermilch aufgesogen habe, die Hälfte meines Lebens in christlichen Kreisen engagiert war, habe ich nie je das Gefühl des Glaubens kennengelernt. Das habe ich schon mit 10 Jahren erkannt, dass ich das nicht packe.

Und was folgt daraus? Geburt und Tod ist die Natur des Menschen. Ich bin auch ein Mensch, meine Natur ist auch eine menschliche Natur. Der christliche Glaube ist in Bezug auf die Existenz der Menschheit sehr, sehr jung. Und nur er soll in der Lage sein, beides, Geburt und Tod, angemessen und angstfrei in sein Leben zu integrieren? Glaube ich kein Wort von. Wenn es da etwas zu verstehen gibt, dann muss es auch mir, und vielleicht gerade mir, die die Klarheit so liebt, zugänglich sein.

Ich bin jetzt gerade 64 geworden. Dem Tod nahe gestanden habe ich noch nie, nur wohl als Baby, aber da habe ich keine Erinnerung dran. Trotzdem ist der Tod für mich das Thema Nummer 1 seit meiner Kindheit, den Grund weiß ich nicht. Ich war immer ein existentilell Suchender, bin in viele Existenzkrisen gefallen, und meist ausgelöst dadurch, dass mir ein Mensch weggestorben ist, ohne den ich nicht sein konnte. Der erste war, als ich achtzehn war, als der Junge, den ich liebte (ohne dass er es wusste), sich erhängt hat. Ich habe mich nie von diesem Schock erholt, bis heute spüre ich das, was damals in mir abging. Und er ist nicht der einzig geliebte Mensch geblieben, der mir einfach unter den Händen weggestorben ist. Mich hat das regelmäßig an den Rand gebracht. Aber weil ich ein schreibender Mensch bin, habe ich analysiert und analysiert, was mich da so fertig macht. Ich musste das analysieren, sonst hätte ich nicht überleben können. Der Tod war einfach der Feind Nummer 1 für mich, das Koan, dem ich mich zu stellen hatte.

Die Panik, dass ich nicht mehr BIN, kenne ich auch. Aber es ist lange her, dass sie mich überfiel. Von Krishnamurti habe ich gelernt, auch von anderen wie Erich Fromm, dass man sich in der ANGST vertut. Dass man meist vor etwas ganz anderem Angst hat, als man diese Angst lokalisiert. Meine eigene Schreiberei hat mir das auch meist aufgedeckt. Verlustangst - und um die handelt es sich offenbar zu einem Teil bei Dir, Petrus - hat andere Ursachen als die geglaubte. Bei jedem ist das etwas anders, man muss da seinen Punkt finden. Allgemein: es ist nicht selten in Wahrheit die Angst davor, sich seiber weiterzuentwickeln. Angst, etwas zu erkennen, wovor man zurückschreckt. Ich habe jahrzehntelang diese letztgenannte Angst gehabt. Aber am Ende hat es nichts geholfen, ich habe es doch erkannt. Und damit war auch ein Teil meiner Panik vor dem Tod weg. Die Psyche kann das nicht unterscheiden: Angst vor der eigenen Entwicklung und Angst vor dem Verlust eines anderen Menschen. Es fühlt sich in beiden Fällen wie Sterben an.

Ich muss leider jetzt gleich weg und bin noch nicht annähernd zu dem gekommen, was ich eigentlich sagen wollte. Weiß auch nicht, ob ich das, wie erwähnt, überhaupt "aufs Papier" kriege.

Aber noch schnell es sind vor allem zwei Dinge:
Als meine Mutter starb, vor ein paar Jahren, da habe ich zum erstenmal "erfasst", nicht nur intellektuell gewusst, dass auch ich sterblich bin. Ich war bei ihrem Sterben dabei, wollte sie mit aller Macht im Leben halten, und doch ist sie einfach gegangen. Und seit dieser "Mutterboden" weg ist, ist er auch in mir weg. Ich habe, mit meinen ganzen Sinnen, meiner ganzen Existenz begriffen, dass ich mir die ganze Zeit einen vorgemacht habe und in einem Wolkenkuckucksheim gelebt hatte: in dem kindischen Glauben, meine Mutter und ich seien in Wirklichkeit unsterblich und die Sterblichkeit sei eine Zumutung. Dieser kindische Glaube ist mit ihrem Tod zusammengebrochen. Ich spüre meine Sterblichkeit seitdem in jedem meiner Moleküle, kann mir seitdem vorstellen bzw. fühlen, was es ist, "nicht mehr zu sein". Vor ein paar Monaten starb auch mein Vater, und dieses Grundgefühl ist dadurch verstärkt. Ich habe das Gefühl endlich von der Lebenslüge weggekommen zu sein und mich dem Leben, in seiner ganzen Große und Tragik, stellen zu können. Vorher habe ich gekniffen wie ein feiger Hund. Alle meine Krisen resultierten aus dem Bedürfnis, vor der einen großen Wahrheit die Augen zumachen zu wollen.

Das zweite, was ich noch sagen wollte:
Ich glaube, bin überzeugt - und bitte, fass das nicht als Beleidigung auf, Petrus, ich beziehe mich ja mit ein -, dass unsere Zivilisation uns gnadenlos verweichlicht hat. Wir sind abhängig und feige geworden, kleben an unserem persönlichen Leben, unseren persönlichen Habseligkeiten, als müssten sie den Verlust der menschlichen Größe, die die alten tragischen Helden noch hatten, ersetzen. Ich weiß zwar nicht, ob es wirklich stimmt: aber überliefert sind die Erzählungen von großen Frauen, die sich mutig dem Tod stellten, auch schon in jungen Jahren.
Ernst Bloch, der große jüdisch-marxistische Philosoph, sprach von dem nächsten großen Abenteuer, das auf ihn warte. Und er war alles andere als gläubig.

Dass mit dem Tod "alles aus ist" - davon glaube ich kein Wort. Das Wissen, das in den letzten Jahrzehnten in mir gewachsen ist - ohne jegliche religiöse Überzeugung - hat auch ein Urvertrauen in mir erzeugt, das ich als Kind und Pubertierender noch nicht hatte. Es ist entstanden gerade durch diese letzten Tode, von denen ich erzählt habe. Als ob dadurch, dass der Tod mich GEZWUNGEN hat, loszulassen, mir den Zugang zu uraltem Wissen geöffnet hat, der vorher verstopft war. Aber dieses Wissen hatte ich latent auch schon früher. Der PANTHEISMUS hat von diesem Wissen einiges formuliert, die Mystik auch. Angezogen hat mich auch gerade Spinoza und Meister Eckhart aus diesem Grund. Sie wussten etwas davon, wie "das Sein" funktioniert, frei von dem, was unsere vernaturwissenschftlichte Weltsicht uns glauben machen will. Die Dinge sind ganz anders, ganz anders.
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#63
Kaddish
(in Montreux 1990)
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#64
Was für eine Antwort, liebe Karla...!!! Ich danke Dir tausendmal, und bin absolut nicht beleidigt... Ich freue mich riesig über das, was Du geschrieben hast, auch wenn ich noch vieles durchdenken und vielleicht auch durchfühlen muss, bevor ich es ganz verstehen kann und antworten werde. Ich drucke mir diesen Text aus, weil er sehr bewegend ist und das im wahrsten Wortsinn: Bewegend. Ich werde näher darauf eingehen, aber das braucht Zeit. Danke, Karla.

Liebe Grüsse

Petrus

P.S. Ich war sehr erstaunt, dass Du 64 Jahre alt bist. Du wirkst so viel jünger in Deiner "Schreibe".
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#65
(29-09-2008, 16:11)nadia schrieb: Kaddish
(in Montreux 1990)

Ich habe das Video angeschaut, Nadia, wusste aber nicht, was Kaddish ist. Und da ich nicht gut englisch kann, habe ich gegoogelt, und nun weiss ich es. Danke Dir sehr.

Lieben Gruss

Petrus
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#66
Vielen Dank WiTaimre und Karla für eure beiden Beiträge, ich fand sie sehr anregend, so sehr, dass ich nun doch etwas zu diesem Thema schreibe.

Auch wenn es vielleicht anmaßend von mir ist, zu glauben, dass ich hier wirklich etwas dazu sagen könnte, denke ich, dass ich zumindest einen Teil von mir persönlich hier schreiben möchte.

Ich selbst wurde in letzer Zeit immer wieder häufig mit Vergänglichkeit und auch mit dem Tod konfrontiert. Wie schon von Flat gesagt ergaben sich hier für mich die beiden Überlegungen zum "Tod geliebter Menschen" und zum "eigenen Tod", jedoch steht beides in direkter Verbindung für mich.

Die Gedanken wurden ausgelöst durch den Tod eines geliebten Menschen und den Umzug eines Menschen, der Auslöser für einen entscheidenden Wendepunkt in meinem Leben war. Erstere habe ich sehr geliebt. Auch heute noch glaube ich, dass ich sehr ihre Ratschläge brauchen könnte und ihr Verständnis, dass so sehr in meine Richtung ging. Der andere, welcher der Auslöser meiner bewussten Wahrnehmung mir und meinem Umfeld gegenüber war, teilt dieses Verständnis für mich, was mir einen unglaublichen Halt gegeben hat. Ich habe versucht zu begreifen, worin die Gemeinsamkeiten liegen. Ich denke, dass es dieses ganz spezielle Verständnis war. Auch heute leide ich noch sehr darunter nicht mehr so häufig oder auch gar nicht mehr auf die Hilfe und Unterstützung dieser Menschen zurückgreifen zu können. Diese Art von Verlust beschäftigt mich sehr und ich glaube, dass es diese einschneidenden Ereignisse sind, die ein Mensch niemals bewältigen kann. Nichts desto trotz haben sie etwas bewirkt, sie haben mir ein (meiner Meinung nach) viel größeres Sichtfeld gegeben, ein Geschenk,das über einen längeren Zeitraum hinweg mein ganzes Leben verändert hat.

Meine Überlegungen zum Thema "eigener Tod" traten ungefähr zeitgleich mit den beiden oben genannten Ereignissen auf. Beeinflusst dadurch habe ich mein Leben über einen längeren Zeitraum hinweg in eine völlig andere Richtung gelenkt.

Es begann mit Geringschätzung meiner selbst und einer Sinnlosigkeit, die mich überfiel. Aus meinem Zweifel und wohl auch bedingt dadurch, dass ich wohl ein eher introvertierter und zurückhaltender Mensch bin, brachen weitere soziale Stützen völlig zusammen. Ich verlor das Vertrauen und die Standhaftigkeit in meine Mitmenschen. Über einen längeren Zeitraum hinweg, bewegt durch Fragen und den Erinnerungen der Vergangenheit habe ich jedoch immer einen Fuß vor den anderen gesetzt und weiter gemacht, teilweise sogar eher wie in Trance.

Heute bin ich beim besten Willen nicht frei von diesen Gefühl, aber es hat sich klar eine neue Richtung herauskristallisiert. Dieses mehr oder weniger zurückgezogene Leben (zumindest mental und gefühlstechnisch) ist bis heute nicht ganz gewichen, aber ich liebe nun mal die Ruhe, Zeit für mich um nachzudenken. Was ich jedoch für mich erkennen konnte war, dass ich mein Leben, wenn ich es schon nicht für mich selbst leben kann, wenn ich selbst keinen Sinn für mich sehe, dann möchte ich zumindest für andere leben. Womit ich mir selbst wiederum einen Sinn gegeben habe und dieser kam eben in Anlehnung an diese beiden Menschen, die für mich nichts anderes getan haben, als mir in dieser letzten schwierigen Frage nach dem Sinn meines Lebens zu helfen, wofür ich unendlich dankbar bin.

Ich habe keine Lösung zum Thema Sterben, Tod und Alter (bei letzterem wohl am wenigsten) gefunden. Ich denke, da jedes Leben individuell ist, ist es auch jeder Tod. Man kann nicht lernen damit umzugehen und wird so einen Abschied wohl auch nie ganz verkraften, aber man kann aus den Erinnerungen Kraft schöpfen. Haben diese Menschen nicht für etwas eingestanden, etwas repräsentiert, das es sich lohnt weiterzugeben oder vielleicht auch nur selbst für sich weiter im Herzen zu tragen? Aber ja, um über den Schrecken eines solchen Ereignisses drüber hinweg zu kommen benötigt es Zeit und nicht zuletzt den Willen selbst weiter zu machen.

Ich denke, dass sich in der Frage nach dem eigenen Tod auch der Sinn des Lebens verbirgt. Das Bild vom Menschen, der auf sein Leben zurückblickt und zufrieden ist, werde ich wohl selbst von mir niemals haben, aber ich will mein Leben so leben, dass es vertretbar ist und ich will etwas erreichen, dass mich bereichert. Für viele mag Religion dicht verbunden mit dem Jenseitsglauben der Grund sein, weshalb man sich darauf besinnt. Für mich war es das Gegenteil - ein "bewusst werden" dieser Welt und auch meiner selbst.

Bis ich sterbe möchte ich nicht eine Liste abhaken, mit Orten, die ich besuchen wollte usw. Ich will sagen können, dass ich in dieser Welt, für ein paar Menschen etwas verändert habe - zum Positiven. Ich möchte meine Möglichkeiten ausschöpfen und vielleicht selbst neue Blickwinkel eröffnen und anderen neue Perspektiven geben. Und schlußendlich ist das etwas, das man nie oft genug tun kann, aber auch nie zu wenig.

Wenn ich sterbe, verliert all das hier nicht seinen Sinn und genau deshalb möchte ich meinen geliebten Menschen etwas übermitteln und schenken, das über mein Ende hinaus währt. Dann hatte mein Leben einen Sinn und Sterben soll niemals eine Angst oder gar Panik in mir auslösen.

Vielleicht kann sich ja der ein oder andere mit diesen, meinen Überzeugungen identifizieren, auch wenn ich mir sicher bin, dass diese sich früher oder später auch wieder verändern werden.

Viel wichtiger als mein Seelenheil, ein endgültiges Gericht, sind mir die Menschen, dir mir nahe stehen, Menschen, die bereits mein Leben verlassen, aber auch diejenigen, die noch in mein Leben treten werden. Das Leben ist es schließlich, was uns Menschen ausmacht und als dieses möchte ich es eben auch erfassen und hoffentlich auch dem ein oder anderen Chancen geben, in seinem eigenen Leben eine bisher unbekannte Richtung zu entdecken und einzuschalgen.

Liebe Grüße

Faranox
"Religion ist Ehrfurcht - die Ehrfurcht zuerst vor dem Geheimnis, das der Mensch ist." ~Thomas Mann
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#67
Ich habe mal im Fernsehen eine interessante Reportage gesehen - leider habe ich vergessen, wie sie hieß - wo es darum ging, Nahtoderlebnisse zu erforschen und ob man das, was die Menschen dabei erleben, auch anderweitig erzeugen kann. Das geht wohl auch bis zu einem gewissen Punkt, z.b. wenn man in einer Zentrifuge hin- und hergeschleudert wird, unterscheidet sich dann aber doch.

MAn kam zu dem Ergebnis, das im Gehirn ein Programm existieren muß, daß im Sterben abgespielt wird und uns somit den Übergang vom Diesseits ins JEnseits ermöglicht. Das kann man glauben oder nicht.

Es ist jedoch faszinierend, wenn man hört, wie sich die Berichte verschiedener MEnschen gleichen.

Aber ich denke, Sterben kann man nicht lernen. Es ist so individuell wie jeder Mensch. Ich würde mir wünschen, das man sich vor einem natürlichen Tod einfach fühlt, als wolle man schlafen. Ich kenne Verstorbene, die das kurz vor ihrem Tode äußerten. "Ich bin sooo müde und möchte nur noch schlafen", ich denke, dann hat man weniger Angst vor dem Tod.

Ja, als gläubiger (und manchmal auch kleingläubiger) Christ glaube ich natürlich auch, das ich für mein Leben Rechenschaft geben muß. Dann hoffe ich auf einen gnädigen Gott zu treffen. Auch ich war nicht immer gut, man ist nur Mensch und kann wohl auch nicht immer gut sein. Manchmal habe ich unbewußt etwas schlimmes getan und manchmal habe ich auch Sachen gemacht, bei denen ich schon ein schlechtes Gewissen hatte. Da kann ich nur hoffen, daß Gott mir verzeiht.

Ja und was auf der anderen Seite sein wird, keine Ahnung. Neulich haben wir in der Kirche ein Lied gesungen "JEzusa ukrytego" d h in etwa; Jesus, im Sakrament (also im Brot verborgen bete ich dich an). Dort heißt es dann in der 3. Strophe in etwa übersetzt : wenn ich im Himmel bin werde ich ein Engel sein und Dir zur Ehre singen.

Also ich liebe ja dieses Lied sehr aber ich fand die Vorstellung schon irgendwie frustrierend, ständig nur Lobsingen zu sollen. Ich hoffe ja doch, daß wir in der Ewigkeit auch noch andere Dinge zu tun haben werden, es heißt ja nicht das ich Gott dort nicht loben will. Vielleicht brennt man ja auch so vor Liebe, das man gar nicht anders kann....

Da ich daran glaube, das verstorbene Freunde oder Verwandte, denen man nahe stand, einen auch über den Tod hinaus begleiten können, würde ich mir als Aufgabe wünschen, quasi als Schutzengel tätig zu sein. Aber das wird sich dann alles zeigen.

Vor 17 Jahren war ich einmal sehr krank und es sah so aus, als könnte es zuende gehen. Ich selbst hatte eigentlich gar kein Gefühl, weder positiv noch negativ, es war nur eine schwarze Wand, wenn ich an die Zukunft dachte. Nach der OP hatte ich starke NAchblutungen und während der Not OP habe ich ständig Blut ausgek....Komischerweise habe ich in dem Moment keine Angst vor dem Sterben gehabt. Ich weiß nicht mehr was ich dachte, ob ich überhaupt was dachte, ich glaube, mir war alles egal.

Ach so, was ich mir für das eigene Sterben noch wünschen würde istl, das mich jemand "abholt", den ich liebe. MEine Oma z.B. hat zwar immer gesagt, daß sie ihren Mann dann und wann "spürt" und ich habe auch so ein paar Erlebnisse gehabt, weil mein Großvater mir sehr nahe stand. Aber 2 Wochen vor ihrem Tod meinte sie plötzlich: Vati - sie nannten sich Vati und Mutti -- kicher -- ist da! Ich frage sie wo? Er ist hier in der Wohnung und er ist mit mir im KRankenhaus gewesen. Sowas hat sie sonst nie erzählt und da ich wußte, daß sie nicht wirklich spinnt, dachte ich mir: upps, wie lange mag das noch gehen? Und 2 Wochen später ist sie dann gestorben. Ich glaube, er hat sie abgeholt.

Das Sterben anderer Menschen, die einem nahe stehen, ist insofern eine schlimme Sache, das sie eine Lücke zurücklassen, die nur schwer zu schließen ist - oder eigentlich gar nicht. Auch wenn ich glaube, das sie bei Gott sind und das sie weiterleben - hoffentlich glücklich - so fehlen sie einem doch wahnsinnig. Und je mehr man loslassen muß, desto größer wird die Leere in einem. Diese Leere vermag man als junger Mensch zu tilgen, man kann rausgehen und neue Freunde kennenlernen, man kann über Internet Kontakte knüpfen usw. aber man muß eben erst einmal diesen Verlust verarbeiten. ICh denke, das wird mit dem Alter schwieriger, weil man selbst nicht mehr so mobil und flexibel ist. Ich habe auch angst davor, irgendwann einmal als tattriger Greis alleine in meiner Wohnung zu sitzen und darauf zu warten, daß die Pflegerin kommt, um ihr "Buoletten ans Knie zu labern", weil ich sonst niemanden mehr habe, mit dem ich reden kann. Das ist dann eine scheussliche Vorstellung.

Aber früher oder später landen wir alle im Einzelbett und irgendwann in der "Kiste". Das ist wohl die einzige Gerechtigkeit im Leben das jeder irgendwann "den Ar.... zukneift", nur der eine geht mit Pomp und Gloria in die Grube, der andere eben halt im "Sperrholzkasten". Somit hat der Tod auch wieder etwas Tröstliches. Und unsere Endlichkeit zwingt uns - oder sollte es tun - zu lernen, welche Dinge im Leben wirklich wichtig sind.
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#68
Liebe Karla,

ich wollte Dir auf Deinen Beitrag ja noch antworten, obwohl es ausser ein paar wenigen Anmerkungen und vielleicht ein paar neugierigen Fragen kaum mehr etwas nachzufragen gibt, denn Dein Beitrag ist sehr klar und sehr eindeutig. Zumindest für mich. Ich belasse es daher bei zwei Dingen.

Zum einen:

>Von Krishnamurti habe ich gelernt, auch von anderen wie
>Erich Fromm, dass man sich in der ANGST vertut.
>Dass man meist vor etwas ganz anderem Angst hat,
>als man diese Angst lokalisiert.

Das ist sicher richtig. Auch meine "allgemeine Todes-Angst" hat vermutlich mehrere Ursachen, nicht nur die Angst vor dem Tod. Es ist kindheitsbedingt auch die Angst vor dem Leben. Aber darüber möchte ich hier nicht näher eingehen, das ist mir zu intim. Aber es ist aufgearbeitet, ich habe einige Jahre meines Lebens daran gesessen, durchaus auch mit professioneller Hilfe.

Hinzu kommt, dass durch meine plötzlich auftretende Herzkrankheit von heute auf morgen alles in meinem Leben, was bis dahin war und wichtig war, infrage gestellt wurde. Ich war von einer Sekunde auf die nächste schwerkrank, behindert, ich musste meinen Beruf aufgeben, ich musste die Sicherheit bzw. das Vertrauen in meinen Körper aufgeben, und ich musste die Gewissheit "schlucken", wie schnell alles zu Ende gehen kann, und damit unwichtig (!) wird.

Das alles (und einiges mehr, was mir durchaus bewusst ist) ist zum einen "mehr" als "nur" Todesangst, zum anderen aber auch im Tiefsten etwas ganz anderes als Todesangst. Meine Todesangst ist sicherlich auch Sicherheitsverlust (und ich denke, nicht "umsonst" komme ich immer wieder zu religiösen Fragen, in der Hoffnung, dass mir da "Etwas" Sicherheit geben könnte).

Ja, es ist Verlustangst. Angst vor dem Verlust meiner sowieso schon so reduzierten "Sicherheit", Angst vor einem weiteren Verlust meiner Rest-Gesundheit, es ist Angst vor dem Verlust des Menschen, der mir noch am meisten Sicherheit schenkt, nämlich meiner Frau.

*

Zum anderen:

>Ernst Bloch, der große jüdisch-marxistische Philosoph, sprach von dem
> nächsten großen Abenteuer, das auf ihn warte. Und er war alles andere
> als gläubig.

Und genau das verstehe ich nicht. Was ist dieses Abenteuer? Und was meinst Du mit diesem Abschnitt, der mich zwar fasziniert, den ich aber nicht verstehe:

>Dass mit dem Tod "alles aus ist" - davon glaube ich kein Wort.
>Das Wissen, das in den letzten Jahrzehnten in mir gewachsen ist
> - ohne jegliche religiöse Überzeugung - hat auch ein Urvertrauen
>in mir erzeugt, das ich als Kind und Pubertierender noch nicht
>hatte. Es ist entstanden gerade durch diese letzten Tode,
> von denen ich erzählt habe. Als ob dadurch, dass der Tod
>mich GEZWUNGEN hat, loszulassen, mir den Zugang zu
>uraltem Wissen geöffnet hat, der vorher verstopft war.
>Aber dieses Wissen hatte ich latent auch schon früher.
>Der PANTHEISMUS hat von diesem Wissen einiges formuliert,
>die Mystik auch. Angezogen hat mich auch gerade Spinoza
>und Meister Eckhart aus diesem Grund. Sie wussten etwas
>davon, wie "das Sein" funktioniert, frei von dem, was unsere
> vernaturwissenschftlichte Weltsicht uns glauben machen will.
>Die Dinge sind ganz anders, ganz anders.

Einen lieben Gruss

Petrus
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#69
Hallo, Faranox,

ich danke Dir für Deinen persönlichen Bericht, und auch für die Offenheit. Es berührt mich sehr sehr positiv, dass in diesem Thread so viele Menschen so offen ihr Herz zu diesem Thema öffnen. Das ist für mich eine ganz grosse Hilfe.

Ja, das Sterben anderer Menschen hat auch mir den Horizont geöffnet, oder anders: Es hat mich bereit gemacht, mich dem Thema überhaupt zu stellen. Ich habe in meinem Leben schon sehr viele Menschen verloren. Meine ganze Herkunftsfamilie lebt nicht mehr, Vater, Mutter, Bruder und zwei Schwestern sind gestorben. Hinzu kam der Verlust meiner geliebten Omas und vor allem auch zweiter Freunde. Zur Zeit sind zwei meiner Freunde schwer krank, der eine wird sicherlich sterben, er ist unheilbar an Leukämie erkrankt. Wenn ich so nachdenke, muss ich sehen, dass ich seit meinem 15ten Lebensjahr, also seit mehr als 40 Jahren, immer und immer wieder mit dem Sterben und dem Tod geliebter Menschen konfrontiert werde. Vielleicht ist das ja auch der Grund, warum mir gerade dieses Thema so wichtig ist.

>Dieses mehr oder weniger zurückgezogene Leben (zumindest
>mental und gefühlstechnisch) ist bis heute nicht ganz gewichen,
>aber ich liebe nun mal die Ruhe, Zeit für mich um nachzudenken.
>Was ich jedoch für mich erkennen konnte war, dass ich mein Leben,
>wenn ich es schon nicht für mich selbst leben kann, wenn ich selbst
>keinen Sinn für mich sehe, dann möchte ich zumindest für andere leben.
>Womit ich mir selbst wiederum einen Sinn gegeben habe und dieser kam
>eben in Anlehnung an diese beiden Menschen, die für mich nichts
>anderes getan haben, als mir in dieser letzten schwierigen Frage nach
>dem Sinn meines Lebens zu helfen, wofür ich unendlich dankbar bin.

Vieles von diesem schönen Abschnitt Deines Textes hätte ich schreiben können. Nicht zuletzt dafür danke ich Dir.

>Ich denke, dass sich in der Frage nach dem eigenen Tod auch der
>Sinn des Lebens verbirgt.

Ja!!! Ich denke, so ist es. Ich habe diese Erkenntnis erst seit kurzem, vielleicht sogar erst durch die Antworten, die ich hier lesen durfte; ich glaube tatsächlich auch, dass bei mir die Todesangst auch stark an die Sinnfrage gekoppelt ist. Ich finde das Leben EIGENTLICH im Tiefsten sinn-los. Habe aber noch keinen wirklich befriedigenden Weg gefunden, im Leben an sich den Sinn zu sehen. Zwar glaube ich, dass es der Sinn des Lebens ist, zu leben. Aber ich SPÜRE diese Wahrheit (noch) nicht.

>Wenn ich sterbe, verliert all das hier nicht seinen Sinn und genau deshalb
> möchte ich meinen geliebten Menschen etwas übermitteln und schenken,
>das über mein Ende hinaus währt. Dann hatte mein Leben einen Sinn und
>Sterben soll niemals eine Angst oder gar Panik in mir auslösen.

Jetzt könnte man den Thread von mir aus schliessen, es ist alles gesagt.

Ich danke Dir.

Petrus
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#70
Hallo, Thoddy,

>Ich würde mir wünschen, das man sich vor einem natürlichen
>Tod einfach fühlt, als wolle man schlafen. Ich kenne
>Verstorbene, die das kurz vor ihrem Tode äußerten.
>"Ich bin sooo müde und möchte nur noch schlafen",
>ich denke, dann hat man weniger Angst vor dem Tod.

Das scheint richtig zu sein. Bei meiner Mutter habe ich das so erlebt, ich war bei ihrem Sterben dabei. Sie starb sehr ruhig, gefasst, langsam ermüdend, und dann plötzlich war sie tot. Ich habe in ihren Augen gesehen, wie ihr Blick brach. Sie starb sehr ruhig, sanft, fast "schön". Aber ich denke, so etwas ist nur wenigen gegeben. Mein Vater starb sehr verzweifelt, zumindest die Tage und Wochen vor seinem Tod waren verzweifelt. Gestorben ist er dann in der Nacht, im Schlaf, vermutlich hat er es nicht gemerkt, dass es nun definitiv zuende geht. Aber seine Angst vorher war gross.

>wenn ich im Himmel bin werde ich ein Engel sein und Dir zur Ehre singen.

>Also ich liebe ja dieses Lied sehr aber ich fand die Vorstellung schon
> irgendwie frustrierend, ständig nur Lobsingen zu sollen.

Jetzt musste ich schmunzeln... Ich glaube nicht, dass man im Himmel, sofern es ihn gibt, nur "frohlocken" muss/soll. Das sind menschliche Vorstellungen von "Harmonie", aber ich denke (hoffe), es wird ganz anders sein. Sofern es dort "sein" wird...

Im Augenblick ganz akuter Gefährdung (wie Du bei und nach der OP) habe ich übrigens auch keine Angst gehabt. Vermutlich ist da der Adrenalin-Ausstoss des Körpers so gross, weil es nur noch ums Überleben geht, und daher spürt man Angst nicht. Die Angst kam erst, nachdem das Denken wieder begonnen hat, einzusetzen...

Liebe Grüsse, danke.

Petrus
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#71
@Petrus: bitte, gern geschehen.
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#72
Es freut mich sehr, dass ich dir etwas weiter helfen konnte, Petrus.

Zum Schluß noch ein paar Worte, die sich vielleicht etwas vom eigentlichen Thema entfernen, aber doch mit diesem stark verbunden sind.

Petrus schrieb:Ich finde das Leben EIGENTLICH im Tiefsten sinn-los. Habe aber noch keinen wirklich befriedigenden Weg gefunden, im Leben an sich den Sinn zu sehen. Zwar glaube ich, dass es der Sinn des Lebens ist, zu leben. Aber ich SPÜRE diese Wahrheit (noch) nicht.

Wieso findest du das Leben sinnlos?

Ich erkenne den Sinn des Lebens nicht im Leben selbst, sondern im (Leben) leben.

Ein Leben ist wie eine Welt, überzogen von einer unendlichen Schneedecke. In diese Welt wird man hineingeboren und damit hat man sie schon verändert. Man beginnt zu laufen und egal für welche Richtung man sich entscheidet, ob man stark auftritt oder sanft, ob der Weg kurz oder lang ist, ob sich Spuren überschneiden oder nicht - man hat diese Welt zwangsläufig verändert. Aber zu guter letzt obliegt es jedem selbst sich für Richtungen zu entscheiden und einen Weg zu gehen. Der Sinn des Lebens besteht im Weg, nicht im Ziel.

Frag vielleicht einfach mal deine Frau, ob sie denkt, dass dein Leben sinnlos wäre. Wir können uns eben doch nicht sehr gut selbst einschätzen.

Du hast diese Welt bereits verändert, ob du willst oder nicht. Wenn du selbst keinen Sinn in deinem Leben siehst, so werden es doch andere tun. Und indem du wiederum das Leben eines einzigen anderen Menschen veränderst, hast du die ganze Welt verändert.

Liebe Grüße

Faranox
"Religion ist Ehrfurcht - die Ehrfurcht zuerst vor dem Geheimnis, das der Mensch ist." ~Thomas Mann
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#73
Hallo Petrus,

jetzt hätte ich um ein Haar diesen Deinen Beitrag übersehen.

Ich versuche zu antworten, obwohl ich ein bisschen Schiss davor habe. Ich komm da schnell an die sprachlichen Grenzen.


(30-09-2008, 16:18)Petrus schrieb: Zum einen:

>Von Krishnamurti habe ich gelernt, auch von anderen wie
>Erich Fromm, dass man sich in der ANGST vertut.
>Dass man meist vor etwas ganz anderem Angst hat,
>als man diese Angst lokalisiert.

Das ist sicher richtig. Auch meine "allgemeine Todes-Angst" hat vermutlich mehrere Ursachen, nicht nur die Angst vor dem Tod. Es ist kindheitsbedingt auch die Angst vor dem Leben. Aber darüber möchte ich hier nicht näher eingehen, das ist mir zu intim. Aber es ist aufgearbeitet, ich habe einige Jahre meines Lebens daran gesessen, durchaus auch mit professioneller Hilfe.

Hinzu kommt, dass durch meine plötzlich auftretende Herzkrankheit von heute auf morgen alles in meinem Leben, was bis dahin war und wichtig war, infrage gestellt wurde. Ich war von einer Sekunde auf die nächste schwerkrank, behindert, ich musste meinen Beruf aufgeben, ich musste die Sicherheit bzw. das Vertrauen in meinen Körper aufgeben, und ich musste die Gewissheit "schlucken", wie schnell alles zu Ende gehen kann, und damit unwichtig (!) wird.

Das alles (und einiges mehr, was mir durchaus bewusst ist) ist zum einen "mehr" als "nur" Todesangst, zum anderen aber auch im Tiefsten etwas ganz anderes als Todesangst.

Und darauf wollte ich hinaus. Für mich war wichtig, herauszufinden, wovor ich eigentlich wirklich Angst hatte. Ich kann natürlich nicht sagen, ob das, was ich herausgefunden habe, in der gleichen Weise für andere gilt, aber dennoch KÖNNTE es ein Grundprinzip sein. Hoffe, ich krieg's nachher irgendwie formuliert.


Zitat:Meine Todesangst ist sicherlich auch Sicherheitsverlust (und ich denke, nicht "umsonst" komme ich immer wieder zu religiösen Fragen, in der Hoffnung, dass mir da "Etwas" Sicherheit geben könnte).

Ja, es ist Verlustangst. Angst vor dem Verlust meiner sowieso schon so reduzierten "Sicherheit", Angst vor einem weiteren Verlust meiner Rest-Gesundheit, es ist Angst vor dem Verlust des Menschen, der mir noch am meisten Sicherheit schenkt, nämlich meiner Frau.

Das Wort "Sicherheit" ist dabei tatsächlich das Stichwort. Es gibt keine Sicherheiten. Und solange man sich noch an sie klammert, blockiert man seine eigene Entwicklung. Die Angst kommt daher, dass man im Tiefsten weiß, dass es diese Sicherheit nicht gibt und dass man sich an ein Phantom klammert. Je mehr man dieses innere Wissen übertönt oder nicht integrieren kann, desto mehr klammert man. Und die Zusammenbrüche passieren dann, wenn das Leben selbst einem die Dinge aus der Hand schlägt und man sich die ganze Zeit etwas vorgemacht hat. Mein Vater hatte durch den Tod meiner Mutter einen Totalzusammenbruch erlitten, er war binnen weniger Tage ein physisches und psychisches Wrack. Obwohl er da schon achtzig war. Er hatte nie, sein ganzes Leben nicht, begriffen, was das Leben ist. Und das möchte ich eben nicht. Ich möchte verstehen, was wirklich abläuft.
Erich Fromm hat einem seiner Bücher den Titel gegeben: "Angst vor der Freiheit". Und da ist es für mich formuliert. Ich glaube, dass diese Angst (vor der Freiheit) so einigen Ängsten zugrunde liegt. Wir haben in uns diesen Trieb nach der Freiheit, irgendwie ist der in uns angelegt. Aber in diesem Raum der Freiheit zu leben, das kostet eine Menge. Es kostet die Aufgabe aller Zwangsbindungen. Diesen Punkt hatte ich durch Aurobindo begriffen. Das wirkte auf mich verlockend, im Innersten wusste ich, dass das auch mein Lebensziel war, aber ich konnte und wollte meine Zwangsbindungen nicht aufgeben. Das ist der Wunsch nach Regression oder nach Stillstand der Entwicklung. Man will einfach nicht weiter gehen, obwohl die normale Reifung das eigentlich fordert. Aus diesem Konflikt entsteht ziemlich viel ungesundes Zeuchs, aber man muss da durch. Unsere Gesellschaft ist da auch nicht sehr hilfreich, sie hat ganz andere Ziele.

Fortsetzung folgt
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#74
Hallo, Joerg und Petrus und alle :)
Zitat:Flat: ... Es könnte sein, dass man Angst hat, sein Leben verschleudert zu haben, bedeutungslos gewesen zu sein.
Davor stand der Gedanke von unserm Petrus hier, dass man auch Angst davor haben kann, nach dem Tod folge "nichts", wobei man zugleich nicht wirklich in sich Zuversicht spuert (also "glaubt"), das, was man in der Religion lernte, sei dann so da.

Das wird in den Biographien der grossen Glaeubigen in der Neuzeit oft geschildert und als "seelische Trockenheit" bezeichnet - womit es einen Titel hat, der leider auch nicht weit hilft. Aber immerhin, dass es eine fast regulaere Beobachtung ist, dass das innere Schwingen, das Lehren zustimmt, die sozusagen als "schoen" spuert, irgendwann bei fast jedem ins Stocken kommt, dasselbe gilt auch vom Verlieben und dem Eifer fuer eine soweit-erkannte Sache.
Der aelteste und sicherste geistliche Rat heisst dann: weitermachen, nicht drum graemen. Es ist mit den Begleit-Emotionen, die dem, was wir lernten, zeitweise Glanz geben und einen dann tragen, wie mit einem normalen Wachstums-Prozess. Zuerst lernte man doch auch durch Eingewoehnung das alles erst kennen, fasste es nach gewisser Zeit zusammen, sodass man es nun "glauben" mochte, und das ist wie Einatmen. Man lebt dann weiter, erfaehrt Dinge dazu und kann nicht sofort wieder "begreifen" - das ist wie Ausatmen. Wenn es dann wieder soweit abgerundet ist und man erkennt erneut etwas, dann ist die Durststrecke wieder beruhigt.

Wer inzwischen weggelaufen ist, wird dies "Glauben" nur schwer wieder an etwas anderes finden, denn allem nachher fehlt etwas aus der ersten Phase.
Erfahrene Gemeinschafts-Religionen nehmen daher ihre Kinder schon ab der Geburt mit in die Praktizierung hinein. Man wollte doch wirklich auch, dass sie mit diesem Glauben auch gluecklich, zuversichtlich und eintraechtig sind. Das bedeutet ja nicht, dass das mit jeder Familie gelingt.

Man kann daher eben auch, wenn der Tag kommt, bis zu dem einem das Leben verliehen war, nicht sicher vorhersagen, wie es grad dann mit der Zuversichts-Stimmung ist.
Etwa 1000 Jahre vor heute erfahren wir ueber all so etwas sehr wenig, vielleicht weil die Menschen erst danach erlernten, sich drum zu kuemmern, wie sie sich selbst fuehlen.

Ob die Texte von St.Augustinus als seine "Selbstbekenntnisse" eigentlich wirklich ueber seine geistliche Stadien berichten, liegt "so dazwischen". Er war ein Hochschulprofessor, hellenisch geschult und zuerst mehr fuer die Lehre des Mani, diese Misch-Lehre mit viel persischem Gedankengut war sehr in Mode damals. Seinen Uebergang von dem zur "einfachen" christl. Konfession sener kath. Mutter schildert er ja ausfuehrlich.
Seine Zeit hatte noch diese graesslichen Schauprozesse gegen Christen in Nordafrica, und diese Martyrer, die man mitunter lange Zeit in aller Oeffentlichkeit quaelte, damit sie die Ueberzeugung abschwoeren sollten, ehe sie starben, bewundert er sehr, darueber alles sammelnd, was er in Erfahrung bringen konnte. Da erwies sich die "einfache" Religion eben als unvorstellbar belastbar gegen natuerliche Furcht. Koerperliche Strafung, Schwaeche, Erschoepfung unter all den ihnen zugefuegten Schmerzen steigerte denen den Glauben erst recht.
Logik wuerde einem ja auch sagen: Was soll an so einer Welt besser sein, die einen so behandelt, damit man sich ihr anschliesse? Aber den Gedanken findet man weder zitiert noch beschrieben. Ab einem gewissen Grad Schmerzen ist auch die Logik ziemlich machtlos und hilft nichts weiter, und ich meine, sie fragten sich noch nicht, ob sie vom Glauben etwas spueren.

Joerg hat vermutlich recht, dass es das Unbekannte ist, am Nichts, war eine Furcht ausloest. Buddhismus spricht vom Nirwana, das sei ein "Nichts" und das in-ein-Nichts-Aufgehen sei zu erwuenschen (mit Vorbehalt gesagt, denn wer weiss, ob die dt.Uebersetzung das passend wiedergibt).
Soweit ich die sogenannten Totenbuecher dazu las, wie man das vorbereitet - nach dem Sterben entscheidet doch auch bei ihnen eine "Instanz", ob einer zum Nichts schon geeignet ist oder noch eine Runde leben "muss", da meint es auch nicht das "gar nicht" der Physiker oder Philosophen.

Mir fiel in der Hinsicht etwas Anderes bei gut Bekannten auf:
wenn man sich etwas in die Zukunft vorstellt, im Leben, dann gibt es bei bestimmten Krankheiten so etwas wie ein inneres Anzeichen, das die Kraft abschaetzt, wie lange noch Zeit ist. Dahinter kann man sich nichts konkret vorstellen. Es bedeutet nicht unbedingt, dass man danach datieren koennte, wann man dann stirbt, aber es waere sicher Zeit, sich um die Kraft zu kuemmern, dass sie "rationeller bewirtschaftet" wird.

Die alte Akupunktur-Lehre hat einen Ausdruck, der ins Deutsche als "Erb-Energie" uebersetzt wird. Ob sie da ist, kann der erfahrene Akupunkteur feststellen, wenn sie aufgebraucht ist, laesst er die Finger vom Behandeln mit Nadelpunkten, aber interessanterweise gibt es auch dann eine Behandlung z.B.mit Kraeutern, welche die erloeschende Erb-Energie wieder "ernaehrt" und nochmal ein "fliessen koennendes Chi" aufbaut (Chi ist sowas wie "gar", etwa ob Reis gar gekocht ist, dann duftet er gar, sonst nicht, auch gut am Kaffee zu erklaeren). Aber erst danach kann er wieder das Akupunktur-System nutzen, falls ueberhaupt noch.
Es ist aber psychologisch ueberhaupt sehr schwer zu durchdenken, benutzt man dazu ja auch nur die eigene Psyche. Hieran erinnerte ich mich bei der Erwaehnung des "Nichts" im Zusammenhang mit dem Tod. Das haette dann ja unser Petrus hier so geschildert wie diese Bekannten von mir auch. Es ware, dass betreffs des Lebendig-Gefuehls dann ja auch wirklich Schluss ist damit.
Das biblische Bild dafuer in den Geschichten um Koenig David ist aus der Optik. Der Vorgang des Sterbens sei wie das Bild eines Baums, das durch eine Linse faellt und umgekehrt hinter der Linse abbildbar ist, die Bildpunkte fallen auf 1 ganz zusammen wie ein Buendel im Blumenstrauss und entfalten sich dann ja wieder jenseits des Punktes. Je genauer der Punkt sich dem Null annaehert, desto praeziser ist die neue Wiedergabe.
Frau Abigail wuenscht dem messianischen Freischaerler David, seine Seele moege also eingebuendelt werden zum Leben - und die Seele seines Feindes aber abreflektiert (indem die Linse zum Spiegel wird, fallen dann naemlich die Strahlenlinien weit auseinander in alle Richtungen, jenseits der Kugel entstuende kein Bild wieder).
Da ist die Linse des Auges gemeint und der Gedanke geht also dahin, dass der Mensch, wie er hier steht, jenseits eines wohlwollenden Blicks auf ihn in den Betrachter eingeht und nie mehr vergessen wird. Ein zorniges Auge ist dagegen verspiegelt ("blinde Wut" nennt man das ja auch) und der Inhaber der zornigen Augen nimmt so gar nichts ins optische Gedaechtnis auf. Man sagt dann, dies ging nicht uebers Auge ins Herz hinein oder kuerzt das ab und spricht vom Herz-"Versteinern", was auch als "Verspiegeln" uebersetzt werden kann.
Nehmen wir mal an, man hat so etwas wie Vor-Entwuerfe fuer sein Leben, zieht dabei ein Spueren der vorhandenen Lebenskraft mit zur Abschaetzung heran, und dann waere dieser Punkt im Strahlenbuendel das "nichts" fuer das Gespuer. Was danach ist, darueber hat man ja keine Erfahrung haben koennen, und soweit unsere Eltern und mit dem, was sie im jeweiligen Alter erfahren hatten, und unbewusst steuernd impraegnieren, koennte man auch durchgestaltete Vor-Entwurfe haben, solange man sie leben sah.
Wie auch immer - in meiner Jugend traf ich es noch, dass jemand selbst ins Landkrankenhaus kam und nuechtern mitteilte, er werde nun sterben, Testaments-Notar, Pastor, Familie und Kinder zu sich bestellte, seine Mitteilungen an jeden machte, Abschied nahm und dann so binnen 3-5 Tagen wirklich einfach an Tod starb. Es war schon sehr selten, aber so war es. Es war rund um die Uhr ein Verwandter dabei, die Pflege schaute in kurzen Abstaenden auch nach, wie es stand, ab und zu schliefen sie. Manche hatten auch dieses unwillkuerliche Atemgeraeusch, was die Umgebung irritiert, aber sie selbst nicht eigentlich machten. In der Zeit wo sie wach waren, hoerte das meistens ganz auf, dann sagten sie auch mal, ob sie Angst haben oder nicht mehr, doesten dann wieder mit diesem Nebengeraeusch weiter, und schliesslich ent-schliefen sie
- also es war so ein Vorgang in bestimmbaren Stufen, und es konnte sein, dass sie auch Krankheiten hatten, aber auch, dass man nichts Besonderes bemerken konnte. Der Totenschein schob es dann wohl auf "Herz-Versagen", was ein Todeszeichen ist, aber nicht wirklich eine Diagnose.

Bei meinem Hund war ich dabei, und da hatte ich einfach den Eindruck, dass die Lunge stillstand, was ihn aber nur wunderte und dann "staunte" er irgendwie, fand das beunruhigend, stand auf, kletterte flink zu mir rueber und rollte sich auf meinem Schoss ein, als sei er nun sicher, und starb. Dass er "soweit" war, wussten wir mit dem erfahrenen Tierarzt so ca 4 Tage vorher. Wie soll ich es beschreiben - er war so auffaellig auf innen konzentriert, etwas zuvor hatte er eine sehr schwaechende Krankheit gehabt, aber diese noch ganz ueberstanden, von der her war er ganz symptomfrei.

Man kann im Lauf der Zeit viele solche Berichte bekommen, doch sicher ist nicht vorhersagbar, wie es "geht" und wie es bei einem selbst sein wird. Das andere Extrem ist es, einfach "weggekuesst zu werden" aus dem Leben. Dann geht das so schnell, dass einer daneben keins der "Stadien" mitkriegt und derjenige selber anscheinend auch nichts erwartete.
Da es hier um das gemeinsam biologische Ende des Lebens geht, kann es sich bei Mensch und Tier gleichen, wie ein Sterben ablaeuft.

Damit ist aber auch nicht bewiesen, ob das alles vom Menschen ist, und unsere Religion wie auch andere gehn davon aus, dass der Mensch weiter existiert. Die Ursachen, woraus sie das wissen, sind verschieden.

Vielleicht ist in der Hinsicht von Interesse, dass in der habraeischen Bibel der Gedanke, dass der Mensch weiterhin selbst existiert, daraus gefolgert wird, dass z.B.dem Abraham noch kurz vor dem Tod etwas versprochen wird, das Land seiner Nachkommen - und unser G0TT das Versprechen dann einhielt - "wozu eigentlich?" fragten sich die Gelehrten "- wenn der dann doch ab dem Tod weg waere? Ein Versprechen haelt man dem, der existiert" - eine aehnliche Situation gibt es um Aaron, den Hohepriester, die voraussetzt, dass er spaeter noch er ist. Wo auch immer, wie auch immer - uns das auszuschildern kommt in der hebr.Bibel nicht vor, aber in der Volksfroemmigkeit stellt man sich etliches vor, das nur gemeinsam hat, dass wir schon vor der Zeugung als ich entstehen, ein Du zu G0TT wurden, Der einen wollte, und dann wurden wir gezeugt. Auch, dass wir nach dem Tod noch selbst sind, dann aber auch in Ruhe so, tot, gelassen werden moechten, wenn auch wir manches hier bei den Lebenden noch erfahren und mitfuehlen, auch dass wir noch beten, und zwar G0TT anbeten, IHN direkter wahrnehmend als im Leben.
Weithin akzeptierte Legende im Judentum ist, dass schon im Zeitpunkt der Erschaffung feststeht, wie lange man leben wird, das sagte ich schon. Aus Erfahrung weiss ich, dass mich das beruhigt, denn schwer ist es jedesmal, aber schon gerechter, wenn es vorher schon zugeteilt ist.

Nochmal zu der Anmerkung von Joerg: konsequent waere es schon, dass es einem wichtiger werden sollte, wenn man sich ab dem Tod "nichts" vorstellte, dass sich dann Sorgen darauf richten, ob man ueberhaupt hier im Leben etwas hinterliess, bewirkte, oder es verschleuderte und dann war's "nix". Jemand, der geliebt wurde, hallt nach: in vielen Ablaeufen des Lebens der Hinterbliebenen "klinkt" passend ein, das man dies und das tat, jenen beruecksichtigend, dem zuliebe, der nun starb, nicht viel anders als im Leben, weil der andere ja da auch nicht ununterbrochen dabei war.
Manche ertappen sich in solchen "Routinen", dass sie sogar mitten drin sagen "Was meinst Du dazu?" und erwarten einen Moment lang immer noch ein kommentierendes "Brumm" (= Ja) oder "naja" (Skepsis) oder "nein, Schatz" - dann feststellend: es kommt nicht, und dann faellt einem ja wieder ein, dass es nie mehr kommen wird, nichtmal das. Dann ist man wieder frisch traurig.
Dazu muss man aber alltags wirklich eng miteinander gelebt haben. Ueber andere trauert man anderswann.

Dass man Angst haben kann, im Leben "nichts" draus gemacht zu haben und nachher auf einmal auch nichtmal mehr da zu sein, kann ich mir vorstellen. Aber die Besorgnis haben andere auch wenn sie glauben, dass nachher die Existenz noch besteht, und man muesste nun gar irgendwie irgendwem, z.B.auch eigenen Ahnen, anderen Gestorbenen, oder Opfern der eigenen Dis-Sozialitaet, Rechenschaft geben, warum man es nur so "ab-lebte".
Aber eben die Leute, die das so hielten, sind doch vermutlich nicht die, die verstehen wurden, was das Problem damit sein soll?

naja, also deren Angst, denk ich, wird irgendwie anders sein, keine davor, dass nachher "nichts" sei. Eher faellt ihnen fluechtig auf, dass "anscheinend" Leute wie sie mal Leute wie die "alten Leute" werden, oder andere sterben - also im Grunde, ja, logisch, alle mal sterben...
- aber quatsche heutzutage mal jemanden "so einfach von der Seite" an: Man kann dermassen beschaeftigt durch die Jahre rennen, dass das gar nicht geht, jemanden kurz mal zum Denken zu bringen. Es muss schon direkt vor ihnen ein Anlass dazu vorkommen.
mfG WiT
Zitieren
#75
Fortsetzung


Zitat:Zum anderen:

>Ernst Bloch, der große jüdisch-marxistische Philosoph, sprach von dem
> nächsten großen Abenteuer, das auf ihn warte. Und er war alles andere
> als gläubig.

Und genau das verstehe ich nicht. Was ist dieses Abenteuer? Und was meinst Du mit diesem Abschnitt, der mich zwar fasziniert, den ich aber nicht verstehe:

>Dass mit dem Tod "alles aus ist" - davon glaube ich kein Wort.
>Das Wissen, das in den letzten Jahrzehnten in mir gewachsen ist
> - ohne jegliche religiöse Überzeugung - hat auch ein Urvertrauen
>in mir erzeugt, das ich als Kind und Pubertierender noch nicht
>hatte. Es ist entstanden gerade durch diese letzten Tode,
> von denen ich erzählt habe. Als ob dadurch, dass der Tod
>mich GEZWUNGEN hat, loszulassen, mir den Zugang zu
>uraltem Wissen geöffnet hat, der vorher verstopft war.
>Aber dieses Wissen hatte ich latent auch schon früher.
>Der PANTHEISMUS hat von diesem Wissen einiges formuliert,
>die Mystik auch. Angezogen hat mich auch gerade Spinoza
>und Meister Eckhart aus diesem Grund. Sie wussten etwas
>davon, wie "das Sein" funktioniert, frei von dem, was unsere
> vernaturwissenschftlichte Weltsicht uns glauben machen will.
>Die Dinge sind ganz anders, ganz anders.

Ja, jetzt kommt's. Jetzt weiß ich nicht, wie ich das erklären soll. Es begann wohl so, dass ich rauskriegen wollte, was tatsächlich die "Wirklichkeit" ist, die Realität. Ich hab da jahrelang dran rumgemacht, aber Meilensteine waren dabei wohl zum einen das Studium von Kant - wir nehmen mittels unseres Sinnes- und Verstandesapparates durch eine Art Raster wahr-, zum zweiten durch meine Beschäftigung mit der Sprache.
Mir wurde immer klarer, dass die Sprache ein weiteres Raster ist, mit der wir die Wirklichkeit vollkommen verbogen, verkürzt und verformelt wahrnehmen.
Die Worte wurden vermutlich erfunden, um sich knapp und eindeutig verständigen zu können. Das Wort "Wasser" genügte, um klar mitteilen zu können, was man mit dem Satz: "Hol Wasser" sagen wollte. Man ging zum Fluss und holte das Wasser. Gab es nun aber auch noch einen Brunnen, erfand man dieses Wort, um es von dem Fluss abgrenzen zu können. Usw. Die Wörter mussten nur klar die Dinge benennen, mehr war von ihnen nicht verlangt. Und darum KÖNNEN sie gar nicht die Wirklichkeit des Wassers oder die Wirklichkeit der Wirkung des Wassers auf mich beschreiben. Sprache dient nicht dazu, die Wirklichkeit zu beschreiben.

Noch stärker ist das sichtbar bei den abstrakten Begriffen. "Freiheit", "Liebe", "Verliebtheit", "Erkenntnis" - das sind alles nur eine Zusammenziehung von einer Vielfalt von Abläufen. Diese Wörter beschreiben diese Abläufe nicht, sondern assoziieren sie nur. Wie Kürzel sozusagen. Darum muss man nicht diese Wörter untersuchen, wenn man erfahren will, was an Wirklichkeit abläuft, sondern im Gegenteil: man muss sich bemühen, hinter diese Wörter zu steigen, sie praktisch ausklammern.

Wenn einem das tatsächlich gelingt, diese Zwangsbenennungen auszuschalten, die Dinge und das Geschehen ohne benennende Worte zu erfassen, dann werden einem plötzlich ganz andere Bezüge klar. Unsere Sprache hat unser Denken geprägt und umgekehrt. Darum nehmen wir die Wirklichkeit meist naturwissenschaftlich wahr, mittels dieser Schemata. Kann man das vorübergehend ausschalten, kann das große Glück ausbrechen. Die Erkenntnis, "dass alles ganz anders ist".

Ich bin inzwischen vollkommen davon überzeugt, dass die Begriffe "Diesseits-Jenseits" vermutlich nur dieses meinen: dass unser Gehirn uns eine Welt konstruiert, die praktikabel ist, aber den wirklichen lebendigen Ablauf nicht schildert. Diese andere Welt, die es zu entdecken gilt, ist ein Jenseits. Sie ist längst da, nicht erst durch den Tod wahrnehmbar (was manche Gläubige glauben). Sie liegt vor unseren Augen. Man sieht nur den Wald vor lauter Bäumen nicht.

Ich werde auf keinen Fällen behaupten, dass das eine geistige Welt ist. Die geistige besteht auch aus lauter künstlichen Begriffen, ich jedenfalls komme da nicht weiter. Wenn man diese Wirklichkeit, in der wir uns jeden Tag und jeden Moment befinden, erfassen will, muss man seine Sinne schulen. In der Regel nehmen wir nur ein Gewirr von Gedanken und Gefühlen wahr, das uns ständig durchschießt. Wir haben nur unseren Verstand kultiviert, mit dem können wir sezieren. Aber dieses Gefühls- und Gedankenwirrwar haben wir stets unbeobachtet und unkultiviert gelassen. Und doch, wenn man da Licht ins Dunkel bringt, mal feststellt, wie man TATSÄCHLCH erlebt, dann ist das das ganz große Abenteuer. Da steht dann das "Ich" zur Disposition, man kann diesen Begriff nicht mehr aufrecht erhalten, weil man notwendigerweise erkennt, dass man überhaupt nicht aus sich selber lebt, sondern ständig gespeist wird von ganz anderen Dingen. Dieser Wahrheit kann man sich dann einfach nicht mehr verschließen, wenn man auf die Wörter keinen Wert mehr legt, die einem eine Einheit vorspielen, wo gar keine ist.

Weil ich erkannt habe, dass dieses Ich nur eine intellektuelle Konstruktion ist, eine Schablone, eine Schublade, reine Wortkonstruktion, muss ich natürlich rauszukriegen suchen, was denn wirkilch abläuft, wo alle meine Gedanken und Gefühle herkommen.
Ich hab zu oft beobachtet, dass meine Stimmungen von außen beeinflusst sind, dass ich mich noch nicht mal überhaupt isolieren kann von den Dauereinflüssen von draußen, auch zu oft beobachtet, dass meine Gedanken, die ich für meine eigenen hielt, schon mal irgendwo gelesen habe: als dass ich mein Ich noch für eine unabhängige Entität halten kann.

Ich brech mal ab, ist eh schon zu lang geworden. Aber dem, was ich zu meinem Ich zähle, scheint mir eher was Fließendes, ständig sich Veränderndes zu Grunde zu liegen. Ungefähr so, als wenn ich bei Word einen Ordner anlege und sage: der ist jetzt mein Ich. Und in diesen Ordner tue ich lauter Links aus dem Internet. Alles, was ich zu mir zählen möchte, tue ich da rein. Aber die Links haben auch ihr Eigenleben, sie sind nur ein Ausschnitt aus dem Datenfluss, an dem auch andere arbeiten. Sie verändern sich. Wenn ich alle Monate in meinen Ordner gucke, werde ich feststellen, dass sich der Inhalt verändert hat. Manches schmeiße ich dann raus, anderes mache ich mir zu eigen, bei anderen füge ich selber was hinzu und gebe es in den Datenfluss.

So ungefähr ist mein Grundgefühl. Ich bin Teil dieses ganzen Geschehens, beeinflusse es ständig mit und werde beeinflusst. Die Ich-Absonderung ist künstlich, existiert nicht wirklich. Ich steuere das alles mit, so wieder jeder das mitsteuert. Und ob ich meinen "Ordner" auflöse, ist da ganz egal, es passiert nichts. Der Tod wird furchtbar dramatisiert, dabei passiert gar nichts weiter. Es bleibt alles, wie es ist. Mein Bewusstsein ist nicht da, wo mein Ich ist. Da bin ich ziemlich sicher. Über "Bewusstsein" haben wir ja einen anderen Thread. Icon_arrowu Nix wie hin.
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