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Christus als Lehrer
#1
Im Lauf der Zeit bin ich zu einer fundamentalen Kritik an der Rolle von Christus als Lehrmeister gelangt. Die möchte ich hier vortragen. Mich interessiert, wie Christen und Nichtchristen darauf reagieren. Es geht um folgende Punkte:

Christus lehrt: „Ein neu Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebet, wie ich euch geliebt habe“, und „Ebenso wichtig ist das zweite Gebot: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Das ist mir unbegreiflich. Die Liebe ist ein Phänomen, das spontan auftritt und vom menschlichen Willen weder erzeugt noch vernichtet werden kann. Liebe auf Befehl, als Gebot, ist Unsinn. Wie kann Christus die menschliche Natur derart verkennen, dass er das Verb „lieben“ in den Imperativ setzt? Wer das tut, versteht nichts von einem zentralen Teil der menschlichen Natur. Wie kann er dann als Lehrer auftreten?

Christus sagt: „Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel kostbarer als sie?“ Das ist eine offensichtliche Unwahrheit. Die Wahrheit ist: Seit es Vögel gibt, verhungern sie massenhaft, und der Vater im Himmel rührt keinen Finger. Er ernährt sie keineswegs. Das biologische Gleichgewicht beruht gerade darauf, dass überschüssige Individuen verhungern, damit die Population stabil bleibt. Das ist ein Grundgesetz der Natur. Diese einfache Wahrheit kennt Christus offensichtlich nicht. Statt die Natur so zu beschreiben wie sie ist, stülpt er darüber ein Konzept vom nährenden Vater, das mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Dann fragt er rhetorisch: „Seid ihr denn nicht viel kostbarer als sie?“ Die Wahrheit ist: Auch die „viel kostbareren“ Menschen hungern und verhungern zu Millionen – immer schon und noch heute. Dass sie so ungeheuer kostbar sind, nützt ihnen dabei gar nichts. Dem fürsorglichen Vater im Himmel ist es egal. Er ernährt sie nicht. Christus fordert dazu auf, den Vorbild der Vögel zu folgen: „Darum sage ich euch: Macht euch keine Sorgen um euren Lebensunterhalt, um Nahrung und Kleidung!“ Wer diesem Rat folgt, wird bald zum Bettler – und verhungert dann oder lebt von der Barmherzigkeit derer, die dem Rat klugerweise nicht gefolgt sind. Der Rat, auf den angeblich ernährenden Vater zu vertrauen, ist verantwortungslos.

Christus will, dass die Menschen sich bekehren und fromm werden. Das will er mit aller Gewalt erzwingen, indem er sie mit furchtbaren Strafen im Jenseits bedroht. Typische Drohungen, hier gegen ganze Städte gerichtet: „Wehe dir, Chorazin! Wehe dir, Bethsaida! Denn wenn in Tyrus und Sidon die Wundertaten geschehen wären, die bei euch geschehen sind, so hätten sie längst, in Sack und Asche sitzend, Buße getan. Doch es wird Tyrus und Sidon beim Gericht erträglicher ergehen als euch. Und du, Kapernaum, wirst doch nicht etwa bis zum Himmel erhöht werden? Nein, bis zum Totenreich wirst du hinabgestoßen werden!“ Hier werden wüste Drohungen gegen ganze Stadtbevölkerungen ausgestoßen, die kollektiv bestraft werden sollen. Offensichtlich glaubt Christus, er könne Menschen „gut machen“, indem er härteste Bestrafung von Fehlverhalten ankündigt. Wenn man allen genug Angst einjagt, wird die Welt moralisch. Das ist Polizeistaatsdenken. Mit Ethik hat das nichts zu tun. Ethisches Verhalten besteht darin, das Richtige zu tun, weil man es als richtig erkannt hat. Nicht weil der liebevolle Vater im Himmel droht, einen in die Hölle zu werfen. Das hat Christus nicht gewusst. Seine Einschüchterungsversuche, all sein Drohen und Schimpfen haben nichts bewirkt – und falls sie doch etwas bewirkt haben, ist es ethisch belanglos. Von Ethik hatte Christus keine Ahnung, sonst hätte er nicht so reden können.

Besonders gern beschreibt Christus die künftigen Höllenstrafen – ein Thema, das ihn offenbar faszinierte. Schönstes Beispiel: Lukas 16,19-31. Christus selbst will am Jüngsten Gericht als Richter auftreten und dann den Verdammten sagen: „Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist!“ Mit seiner Phantasievorstellung von der Hölle offenbart er einen wichtigen Aspekt seiner Persönlichkeit. Unter der Oberfläche des überaus sanftmütigen, universell liebenden Menschenfreunds brodelte in der Tiefe der Seele eine andere Gefühlswelt: abgrundtiefer Hass auf die Unfrommen, die Verstockten, Unfolgsamen, verbunden mit starken eindeutig sadistischen Regungen, die in Lukas 16,19-31 besonders deutlich ans Licht treten. Nur ein Sadist kann ein solches Höllenkonzept ersinnen und seine Umwelt damit bedrohen. Der verborgene Sadismus ist die Kompensation der äußerlichen Sanftmut.

Christus lehrt: „Sammelt euch nicht Schätze hier auf der Erde, wo Motte und Wurm sie zerstören und wo Diebe einbrechen und sie stehlen, sondern sammelt euch Schätze im Himmel, wo weder Motte noch Wurm sie zerstören und keine Diebe einbrechen und sie stehlen.“ Das ist eine Aufforderung zu spirituellem Kapitalismus. Jeder Kapitalist will sein Kapital optimal mehren – der eine sammelt Immobilien, der andere Aktien, der dritte Gold und der vierte „Schätze im Himmel“. Christus tritt hier als Anlageberater auf und verspricht den Anlegern, dass die Schätze im Himmel den sichersten und höchsten Profit abwerfen. Das hat mit Ethik, mit „gut sein“ überhaupt nichts zu tun. Es ist ein Spekulationsgeschäft. Christus scheint das nicht einmal zu merken. Wiederum zeigt sich: Von Ethik hat er keine Ahnung.

Christus beschreibt die von ihm ersonnene bevorstehende Weltkatastrophe. Dann wird, verkündet er, „die Sonne sich verfinstern und der Mond seinen Schein verlieren, und die Sterne werden vom Himmel fallen.“ Hier geht es mir nicht um die Nebensächlichkeit, dass das Bild der vom Himmel fallenden Sterne wenig astronomisches Verständnis zeigt. Es geht um die große Frage: Wann wird das geschehen? Christus legt sich zwar nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt fest, setzt aber einen klaren zeitlichen Rahmen: „Diese Generation wird nicht vergehen, bis dieses alles geschehen sein wird.“ Noch zu Lebzeiten seiner Zeitgenossen wird also die Weltkatastrophe eintreten und er, Christus, glorreich wiederkehren. Ein klarer Irrtum, wie man zwei Jahrtausende später weiß. Ist das schlimm? Nein. Irren ist menschlich, unzählige Prognosen erweisen sich als falsch. Schlimm ist aber folgendes: Christus hat seine Vermutung, seine Vision, seine Wunschvorstellung als gesicherte Tatsache ausgegeben. Das war unredlich. Er konnte oder wollte nicht zwischen Mutmaßungen und Tatsachen unterscheiden.

Meine Bilanz: Christus verkannte die menschliche Natur, die biologische Natur und das Wesen der Ethik, und er hielt Wunschträume für Tatsachen. Das disqualifiziert ihn als Lehrer. Wer das anders sieht, möge begründet widersprechen.
#2
Grüß Gott, Appolonius. Willkommen im Forum !  Eusa_clap  Heart

Du schreibst:
(07-12-2021, 22:01)Apollonios schrieb: Christus sagt: „Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel kostbarer als sie?“ Das ist eine offensichtliche Unwahrheit. Die Wahrheit ist: Seit es Vögel gibt, verhungern sie massenhaft, und der Vater im Himmel rührt keinen Finger.

Alle Deine Kritikpunkte stimmen leider!

Es gefällt mir, wie Du schreibst. Keine Deiner Vorwürfe ist zu widerlegen.

Jesus Christus befreite zwar die Menschheit von den überaus lästigen rabbinischen Auslegungen der 613 Verbote der Thora, brachte aber weit grauslichere und noch unerfüllbare Vorschriften - wie etwa die Forderung der Feindesliebe


--

Ja, ich bin ein Karpfenliebhaber — ich liebe Karpfen — nach Art der Müllnerin Eusa_dance
#3
@Apollonios: Herzlich willkommen!

Dass Christus ein gescheiterter Prophet war, ist, so denke ich, dem NT zu entnehmen.  Als Lehrer hat er im Prinzip Texte des AT ausgelegt. Ich denke auch nicht, dass Sinais Annahme stimmt, Jesus haette alle Gebote des AT aufgehoben; er selbst sagt jedenfalls das Gegenteil.

Das Gebot der Naechstenliebe ist aus dem Alten Testament. Es steht in Leviticus 19, 18: "18 An den Kindern deines Volkes sollst du dich nicht rächen und ihnen nichts nachtragen. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der HERR." (EU)

An Sinai: Das Gebot wird im selben Kapitel ausdruecklich auch auf alle Fremden ausgeweitet!

Wer das Kapitel 19 von Leviticus liest, sieht, wie das gemeint ist. Es geht im Prinzip darum, den staendigen Kreislauf von Rache zu durchbrechen. Irgendwer muss den ersten Schritt machen, damit das aufhoert. Man soll bei der Interpretation von Konflikten nicht immer gleich drakonisch strafen, sondern Mass walten lassen.

Ansonsten sind die Texte ueber Jesus vielfaeltig. Daran haben viele Autoren und Editioren herumgeschrieben, und in der Folge ist die Message halt ein wenig verwirrt.

Auch die Weltuntergangs-Nachrichten von Jesus hangeln sich an alttestamentarischen Geschichten entlang. Die Evangelien zitieren hier ausdruecklich Jesaja und Maleachi, und die ganze Enderwartung ist eine verkorkste Interpretation des Daniel-Buches, die offensichtlich nicht eintraf. Das Lukas-Evangelium beschreibt Jesus, wie er seine Handlungen ausdruecklich nach einem Drehbuch durchfuehrt, nicht weil er will, sondern weil er meint, damit die Prophezeiung des Anbrechens von Gottes Reich zu erfuellen. Das hat nicht funktioniert.

Die Neutestamentik sieht die Niederschrift der Evangelien im Zusammenhang mit der Zerstoerung Jerusalems (Markus) oder halt laengere Zeit danach. Hier ging es darum, dieser Zerstoerung einen Sinn zu geben und es als Zeichen fuer den Beginn von Gottes Eroberung der Welt zu sehen. Nun ja, die Welt ging weiter wie immer.
#4
(07-12-2021, 22:39)Ulan schrieb: Dass Christus ein gescheiterter Prophet war, ist, so denke ich, dem NT zu entnehmen. 

Jesus Christus war kein "gescheiterter Prophet", sondern er ist der Sohn Gottes. Klar kann man streiten, was der Begriff "Sohn" hier bedeutet. Ich freue mich schon auf eine angeregte Diskussion


(07-12-2021, 22:39)Ulan schrieb: Ich denke auch nicht, dass Sinais Annahme stimmt, Jesus haette alle Gebote des AT aufgehoben; er selbst sagt jedenfalls das Gegenteil.

Bitte sowohl mich, als auch die Bibel genau lesen.
Ich schrieb ja: "Jesus Christus befreite zwar die Menschheit von den überaus lästigen rabbinischen Auslegungen der 613 Verbote der Thora"

Nicht das Gesetz wurde von Jesus Christus bekämpft, sondern die rabbinische Auslegung des Gesetzes
#5
Nun, was Jesus genau war, unterscheidet sich je nach Evangelium. Auch was "Sohn Gottes" bedeutet, ist auslegungsfaehig. Nur das Johannes-Evangelium ist hier in seiner eigenen Kategorie.

Von einer "rabbinischen Auslegung" wusste Jesus noch nichts.

Es gab aber verschiedene pharisaeische Schulen. Jesus lag mehr auf der Linie der pharisaeischen Hillel-Schule.
#6
(07-12-2021, 22:01)Apollonios schrieb: Meine Bilanz: Christus verkannte die menschliche Natur, die biologische Natur und das Wesen der Ethik, und er hielt Wunschträume für Tatsachen. Das disqualifiziert ihn als Lehrer. Wer das anders sieht, möge begründet widersprechen.

Jesus kannte die menschliche Natur sehr gut. Insofern verhielt er sich barmherzig und nachgiebig denen gegenüber, die ihre Anfälligkeit zur Sünde zugeben können. Er verkehrte mit ihnen und machte keine Abstriche und viele heilte und rettete er damit. Irdische Probleme waren dabei einfach Null Problem. Er verkehrte auch mit seinen Gegnern, nur kam er gegen ihre Verstocktheit nicht an.

Was verstehst du unter Wunschträume? Dass er der Garant des ewigen Lebens ist, das glaubt man entweder oder nicht. Klar, wer das nicht glaubt, der wird alles was Jesus gesagt und getan hatte unter Illusion einordnen. Aber das ist nicht seine Sache. Dass das Herz für Gottes Botschaft für viele nicht zugänglich ist, das ist wie vieles auch auch ein Fakt, den er angesprochen hatte.

Seine Rolle als Lehrer kann ich mit dieser Herangehensweise gar nicht diskutieren, denn zuerst muss man seine Sendung erkennen und verstehen. Und wer das nicht erkennen kann oder anerkennen will, zumindest mir ist das klar, den kann er auch nicht lehren. Ethik war gar nicht seine erste Priorität, sondern die Verkündigung des Reiches Gottes. Alles andere ordnet sich dem unter.

Belehrt zu werden setzt Demut voraus. Und das will nicht jeder, was wieder ein Fakt ist.
#7
Hallo Helmuth, du meinst, dass Christus die menschliche Natur sehr gut kannte. Dazu meine Frage: Wenn das so war, wie konnte er dann Liebe anordnen, wie konnte er das Verb "lieben" in den Imperativ setzen? Macht man einen Menschen glücklich, indem man ihm die Anweisung erteilt "Sei glücklich"? Hätte er geraten "Respektiert einander" oder "Behandelt einander so, wie ihr selbst behandelt werden wollt" - nichts gegen einen solchen guten Rat. Aber er hat Liebe per Gebot angeordnet, als wäre sie ein Willensakt. Meine Feststellung ist: Ein vom Willen völlig unabhängiges Phänomen wie Liebe kann nicht Gegenstand einer Anweisung sein und nicht einmal eines Rats. Ein Gebot, eine Anweisung, ein Rat kann sich ausschließlich auf Willensakte beziehen. Das hat Christus offenbar nicht verstanden. Hätte er aber wissen müssen, wenn er die menschliche Natur gut kannte.

Es geht mir nicht um die Frage, ob er Garant des ewigen Lebens ist. Das sei dahingestellt. Es geht auch nicht darum, ob man etwas glauben will oder soll, oder ob ich etwas glauben will oder nicht. Beim Glauben hört die Diskussion auf: Der eine sagt, ich glaube, der andere sagt, ich glaube nicht. Das war's dann - Ende der Debatte. Der Nichtglaubende denkt dann, der Glaubende sei leichtgläubig, und der Glaubende denkt, dem Nichtglaubenden fehle es einfach an Demut. Da kann man sich ja jede Diskussion sparen, nicht wahr? Hier ist aber ein Diskussionsforum. Hier soll diskutiert werden ganz unabhängig von der Frage, was der Einzelne gern glauben möchte oder nicht glauben möchte.    

Ich halte es für falsch, entweder alles, was Christus gesagt und getan hat, blindlings bedingungslos zu glauben, oder es alles ausnahmslos unter Illusion einzuordnen. Warum so extremistisch, so pauschal, so undifferenziert? Ich bin dafür, jede einzelne Aussage unbefangen auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Niemand hat ausschließlich Unsinn verbreitet und niemand hat sein ganzes Leben lang kein einziges Mal geirrt. Christus hat durchaus wichtige Wahrheiten und Einsichten verkündet. Aber er hat auch die von mir aufgezählten offensichtlichen Fehler begangen, die ihn als Menschheitslehrer disqualifizieren.

Setzt Belehrung Demut voraus? Auf jeden Fall setzt sie Offenheit, Unbefangenheit voraus. Daran fehlt es mir nicht. Was die Demut betrifft - die ist eine große Tugend, aber auch ein zweischneidiges Schwert. Stell dir vor, du sitzt vor einem Meister/Guru, und der erzählt dir viel über Gott und die Welt und das künftige Jenseits. Manches davon kommt dir seltsam, ungereimt, irgendwie verrückt vor. Du zweifelst, ob das alles wirklich stimmt, und sagst das dem Guru. Darauf er: Die bloße Tatsache, dass du zweifelst, beweist deinen Mangel an Demut. Es ist dein Hochmut, der dich zweifeln lässt. Geh einfach viel tiefer hinein in die Demut, dann wird dein Zweifel vernichtet, und alles ist gut. - Kann das die Lösung sein: Sobald der Verstand sagt "Da ist was faul dran", dies als Hochmut entlarven und in die Demut gehen, und dann ist auch das Absurde wahr, denn schon der Gedanke, es sei absurd, ist ja hochmütig. Die ganze Wahrheitsfrage wird auf das Problem Demutsmangel reduziert.

Du fragst, was ich unter Wunschträume Christi verstehe. Ich meine, wie ich oben geschrieben habe, seinen Wunschtraum, dass noch zu Lebzeiten seiner Zeitgenossen die Sonne sich verfinstern wird und die Sterne vom Himmel fallen werden und er selbst als Weltenrichter erscheinen wird und die ihm verhassten Verstockten ins ewige Höllenfeuer werfen wird. Dieser Wunschtraum ist bekanntlich nicht in Erfüllung gegangen. Heute gibt jeder ehrliche Theologe zu, dass erstens Christus das wirklich geglaubt hat und zweitens dass er damit geirrt hat. Nun, Irren ist keine Schandtat. Das ist nicht der Punkt. - Er mag sein Höllenkonzept teils selbst ersonnen, teils aus bereits vorhandener Überlieferung übernommen haben. Wie auch immer: Er hat sich damit identifiziert. Er hat es sich zu eigen gemacht. Es ist sein Konzept, für das er verantwortlich ist. Ein solches Konzept kann sich nur ein Mensch zu eigen machen, der bereits das dafür erforderliche beträchtliche Ausmaß an Sadismus in seiner Seele trägt. Christus hatte die Absicht, die ihm verhassten Menschen als künftiger Richter ins Höllenfeuer zu werfen. Es geht nicht darum, dass das eine Illusion war. Es geht darum, dass er die Absicht hatte und unmissverständlich verkündete und damit zeigte, dass er in seinem scheinbar so sanftmütigen Charakter eine beträchtliche sadistische Komponente hatte. Das steht in groteskem Gegensatz zu seiner ständigen Betonung der Liebe. 

Mein Vorschlag: Lies folgenden Text ganz unbefangen und vorurteilslos, als hättest du ihn noch nie gelesen:

Es war aber ein reicher Mann, und er kleidete sich in Purpur und feine Leinwand und lebte alle Tage fröhlich und in Prunk. Ein Armer aber, mit Namen Lazarus, lag an dessen Tor, voller Geschwüre, und er begehrte, sich mit den Abfällen vom Tisch des Reichen zu sättigen; aber auch die Hunde kamen und leckten seine Geschwüre. Es geschah aber, dass der Arme starb und von den Engeln in Abrahams Schoß getragen wurde. Es starb aber auch der Reiche und wurde begraben.  Und als er im Hades seine Augen aufschlug und in Qualen war, sieht er Abraham von Weitem und Lazarus in seinem Schoß. Und er rief und sprach: Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, dass er die Spitze seines Fingers ins Wasser taucht und meine Zunge kühlt! Denn ich leide Pein in dieser Flamme. Abraham aber sprach: Kind, denk daran, dass du dein Gutes völlig empfangen hast in deinem Leben und Lazarus ebenso das Böse; jetzt aber wird er hier getröstet, du aber leidest Pein. Und zu diesem allen ist zwischen uns und euch eine große Kluft festgelegt, damit die, welche von hier zu euch hinübergehen wollen, es nicht können, noch die, welche von dort zu uns herüberkommen wollen. Er sprach aber: Ich bitte dich nun, Vater, dass du ihn in das Haus meines Vaters sendest, denn ich habe fünf Brüder, dass er ihnen eindringlich Zeugnis ablegt, damit sie nicht auch an diesen Ort der Qual kommen! Abraham aber spricht: Sie haben Mose und die Propheten. Mögen sie die hören! Er aber sprach: Nein, Vater Abraham, sondern wenn jemand von den Toten zu ihnen geht, so werden sie Buße tun. Er sprach aber zu ihm: Wenn sie Mose und die Propheten nicht hören, so werden sie auch nicht überzeugt werden, wenn jemand aus den Toten aufersteht.

Lass das unbefangen auf dich einwirken und frage dich dann: Kann ein Mensch, der in seiner Seele gänzlich frei von Sadismus ist, auf die Idee kommen, sich so ein Szenario auszudenken?
#8
Hallo Sinai,

ja, die Forderung der Feindesliebe ist prinzipiell unerfüllbar. Hier wird der Mensch aufgefordert, sein Gefühlsleben zu vergewaltigen. Christus hätte raten können: Respektiert eure Feinde. Versucht zu verstehen, warum sie so sind wie sie sind. Distanziert euch innerlich von der Feindschaft und schaut es unbefangen an wie es ist. Das wäre ein guter Rat. Statt dessen hat er aber die Anweisung gegeben: Ihr sollt lieben! Die Christen versuchen dann, das Gebot zu erfüllen, indem sie sich suggerieren, dass sie ihre Feinde lieben. Sie tun dann etwa ihren Feinden Gutes - das sind Willensakte, das geht ja. Und dann glauben sie, das sei Liebe. Welch ein Irrtum.
#9
(08-12-2021, 14:09)Helmuth schrieb: Belehrt zu werden setzt Demut voraus. Und das will nicht jeder, was wieder ein Fakt ist.

in der tat. deshalb bist du wohl lernresistent
einen gott, den es gibt, gibt es nicht (bonhoeffer)
einen gott, den es nicht gibt, braucht es nicht (petronius)
#10
(08-12-2021, 20:17)Apollonios schrieb: Hallo Sinai,

ja, die Forderung der Feindesliebe ist prinzipiell unerfüllbar. Hier wird der Mensch aufgefordert, sein Gefühlsleben zu vergewaltigen. Christus hätte raten können: Respektiert eure Feinde. Versucht zu verstehen, warum sie so sind wie sie sind. Distanziert euch innerlich von der Feindschaft und schaut es unbefangen an wie es ist. Das wäre ein guter Rat. Statt dessen hat er aber die Anweisung gegeben: Ihr sollt lieben! Die Christen versuchen dann, das Gebot zu erfüllen, indem sie sich suggerieren, dass sie ihre Feinde lieben. Sie tun dann etwa ihren Feinden Gutes . . .


Ich glaube zu erraten, was Du meinst: Die Inquisition greift einen Verbrecher auf, einen richtigen Höllenbraten. Auf ihn wartet nach seinem Tod
- vielleicht in zehn Jahren - das ewige Höllenfeuer!
Aus Barmherzigkeit und Liebe zu ihm verkürzen sie ihm seine Pein auf zehn Minuten und fackeln ihn am Scheiterhaufen ab
#11
(08-12-2021, 20:34)Sinai schrieb:
(08-12-2021, 20:17)Apollonios schrieb: Hallo Sinai,

ja, die Forderung der Feindesliebe ist prinzipiell unerfüllbar. Hier wird der Mensch aufgefordert, sein Gefühlsleben zu vergewaltigen. Christus hätte raten können: Respektiert eure Feinde. Versucht zu verstehen, warum sie so sind wie sie sind. Distanziert euch innerlich von der Feindschaft und schaut es unbefangen an wie es ist. Das wäre ein guter Rat. Statt dessen hat er aber die Anweisung gegeben: Ihr sollt lieben! Die Christen versuchen dann, das Gebot zu erfüllen, indem sie sich suggerieren, dass sie ihre Feinde lieben. Sie tun dann etwa ihren Feinden Gutes . . .


Ich glaube zu erraten, was Du meinst: Die Inquisition greift einen Verbrecher auf, einen richtigen Höllenbraten. Auf ihn wartet nach seinem Tod
- vielleicht in zehn Jahren - das ewige Höllenfeuer!
Aus Barmherzigkeit und Liebe zu ihm verkürzen sie ihm seine Pein auf zehn Minuten und fackeln ihn am Scheiterhaufen ab


Das wäre ein Extrembeispiel. Aber ich bin kein Zyniker und meine, dass Zynismus in einer Diskussion nicht weiterhilft. Nur wenige Christen haben Inquisitorenmentalität. Ich meine folgendes: Jemand hat einen Feind und hasst den. Nun ist er aber Christ, und ihm wird gepredigt: Gott befiehlt, dass du deinen Feind lieben sollst! Oh je - was tun? Das geht ja überhaupt nicht. Aber Gott befiehlt es. Also muss ich irgendwie gehorchen. Ich muss irgendwie wenigstens so tun, als würde ich ihn lieben. Also tue ich ihm was Gutes, rede gut über ihn, verschaffe ihm einen Vorteil, wo ich kann, und verzichte darauf ihn zu bekämpfen, biete ihm Versöhnung an. Und dann kann ich mir einbilden, ich würde ihn "lieben". Was natürlich völliger Quatsch ist. Es hat mit Liebe nichts zu tun, überhaupt nichts. Feindesliebe ist ein weltfremdes Konstrukt. Und vor allem: Christus hat seine Feinde (die Verstockten, Pharisäer usw.) überhaupt nicht geliebt, ganz im Gegenteil - er sehnte sich danach, sie höchstpersönlich in die Hölle zu schmeißen!  
#12
(08-12-2021, 21:43)Apollonios schrieb: Das wäre ein Extrembeispiel. Aber ich bin kein Zyniker und meine, dass Zynismus in einer Diskussion nicht weiterhilft. Nur wenige Christen haben Inquisitorenmentalität. Ich meine folgendes: Jemand hat einen Feind und hasst den. Nun ist er aber Christ, und ihm wird gepredigt: Gott befiehlt, dass du deinen Feind lieben sollst! Oh je - was tun? Das geht ja überhaupt nicht. Aber Gott befiehlt es. Also muss ich irgendwie gehorchen. Ich muss irgendwie wenigstens so tun, als würde ich ihn lieben. Also tue ich ihm was Gutes, rede gut über ihn, verschaffe ihm einen Vorteil, wo ich kann, und verzichte darauf ihn zu bekämpfen, biete ihm Versöhnung an. Und dann kann ich mir einbilden, ich würde ihn "lieben". Was natürlich völliger Quatsch ist. Es hat mit Liebe nichts zu tun, überhaupt nichts. Feindesliebe ist ein weltfremdes Konstrukt. Und vor allem: Christus hat seine Feinde (die Verstockten, Pharisäer usw.) überhaupt nicht geliebt, ganz im Gegenteil - er sehnte sich danach, sie höchstpersönlich in die Hölle zu schmeißen!  

ich hab das mit der feindesliebe nie als wörtlich gemeint verstanden - weils zu absurd ist. ich habs als bildhaft gelesen, also "bringe auch deinem feind jene achtung entgegen, die jedem menschen zusteht"

wer die bibel wortwörtlich nimmt, hat eh schon verloren und wird aus den schwulitäten nicht mehr herauskommen
einen gott, den es gibt, gibt es nicht (bonhoeffer)
einen gott, den es nicht gibt, braucht es nicht (petronius)
#13
(08-12-2021, 21:43)Apollonios schrieb: Ich meine folgendes: Jemand hat einen Feind und hasst den. Nun ist er aber Christ, und ihm wird gepredigt: Gott befiehlt, dass du deinen Feind lieben sollst! Oh je - was tun? Das geht ja überhaupt nicht. Aber Gott befiehlt es. Also muss ich irgendwie gehorchen. Ich muss irgendwie wenigstens so tun, als würde ich ihn lieben. Also tue ich ihm was Gutes, rede gut über ihn, verschaffe ihm einen Vorteil, wo ich kann, und verzichte darauf ihn zu bekämpfen, biete ihm Versöhnung an. Und dann kann ich mir einbilden, ich würde ihn "lieben". Was natürlich völliger Quatsch ist. Es hat mit Liebe nichts zu tun, überhaupt nichts. Feindesliebe ist ein weltfremdes Konstrukt. Und vor allem: Christus hat seine Feinde (die Verstockten, Pharisäer usw.) überhaupt nicht geliebt, ganz im Gegenteil - er sehnte sich danach, sie höchstpersönlich in die Hölle zu schmeißen!  

Wie gesagt, lies das Gebot der Naechstenliebe in Leviticus (3. Buch Mose auf Lutherisch) nach; da ist erklaert, wie das gemeint ist. Du sollst schlicht fair sein. Das Gebot schliesst Strafe nicht aus, es fordert nur auf, nicht ungerecht zu strafen. Du sollst nicht aus Hass handeln. Du sollst Andere so behandeln, wie Du selbst gerne behandelt werden wuerdest.

Es ist also eher ein Fairness-Gebot als sonst etwas. Das Wort gab's damals noch nicht.


Was Sinai angeht, so hat er nur deshalb ein Problem mit dem Gebot, weil es ihn stoert, wenn er mal wieder ueber Migranten, berufstaetige Frauen oder andere Gruppen hetzt. Wenn es verursacht, dass er sich dabei schlecht fuehlt, hat es zumindest teilweise seinen Zweck erfuellt.
#14
(08-12-2021, 21:43)Apollonios schrieb: Ich meine folgendes: Jemand hat einen Feind und hasst den. Nun ist er aber Christ, und ihm wird gepredigt: Gott befiehlt, dass du deinen Feind lieben sollst! Oh je - was tun? Das geht ja überhaupt nicht. ... Feindesliebe ist ein weltfremdes Konstrukt.

(08-12-2021, 22:15)Ulan schrieb: ..., lies das Gebot der Naechstenliebe in Leviticus (3. Buch Mose auf Lutherisch) nach; da ist erklaert, wie das gemeint ist. Du sollst schlicht fair sein. Das Gebot schliesst Strafe nicht aus, es fordert nur auf, nicht ungerecht zu strafen. Du sollst nicht aus Hass handeln. Du sollst Andere so behandeln, wie Du selbst gerne behandelt werden wuerdest.

Das sehe ich als Christ auch so. Möglich, dass wir Christen (ggf. ehemaligen) uns da etwas "zurecht interpretieren". Aber das Grundgebot steht auch nochmal in der "Bergpredigt" wenige Verse hinter der "Feindesliebe": Lk. 6, 31 "Und wie ihr wollt, das euch die Leute tun, so tut es ihnen auch". Das klingt schon weit weniger wie ein weltfremdes Konstrukt.

Fernen kann man nicht erwarten, dass die deutschen Wörter im Aramäisch um Christi Geburt exakt dieselbe Sprachtiefe besitzen. Deshalb ist es immer nützlich, die Bibel nicht lokal zu lesen, in dem Falle nur Lk. 6,27 (Feindesliebe), sondern auch mal z. B. die "Gesetze zur Heiligung des täglichen Lebens" (3. Mo. 19).
Mit freundlichen Grüßen
Ekkard
#15
Ja, in Leviticus wird bereits "Nächstenliebe" (immerhin nicht Feindesliebe) angeordnet. Auch hier gilt natürlich: Liebe ist nicht kommandierbar. Niemand hat je auf Kommando geliebt. Aber egal: Der Inhalt - befreit euch vom Hass, respektiert den Nächsten - ist natürlich in Ordnung. Was ich kritisiere, ist die Begriffswahl, die komplett verfehlte Verwendung des Verbs "lieben" im Imperativ. Nun mögt ihr fragen: Warum hackt der Apollonios ständig auf dieser Nebensächlichkeit herum, statt sich auf den respektablen Inhalt zu konzentrieren, gegen den kein vernünftiger Mensch etwas hat? Antwort: Weil die Bibel als Gottes Wort gilt und Christi Aussprüche ganz besonders. Von Gottes Wort erwarte ich, dass es nicht nur inhaltlich stimmt, sondern auch formal, in der Begriffsverwendung, sauber und korrekt formuliert ist. Gott sollte ordentlich formulieren können. Wenn da im Text ein evidenter Mangel ist, ein völlig unpassendes Wort verwendet wird, ist es nichts Göttliches. Ich unterstelle Gott, dass er über einen hinreichend reichhaltigen, differenzierten Wortschatz verfügt, um sich präzis auszudrücken. Was in diesem Fall gar nicht schwer ist. Er hat das aber nicht geschafft. Also ist er nicht Gott. Dass das hebräische אהב mit "lieben" zu übersetzen ist, ist unstrittig.


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