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Der mesopotamische Ursprung der biblischen Sintflut-Geschichte
#1
Aufhaenger dieses Beitrags war folgende Bemerkung Reklovs in einem anderen Thread:

(07-12-2021, 15:56)Reklov schrieb: Immerhin führte schon frühe Selbsterkenntnis des Menschen dazu, dass im Alten Testament (1.Mose 6, 5/6) vermerkt wurde:
>> 5. Da aber der Herr sah, dass der Menschenbosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, 6. da reute es ihn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen. <<

Ein socher Text fordert zwangsläufig auch Kritik heraus, - denn - wenn man schon von einem Allwissenden/Allmächtigen ausgeht, so sind diesem ja schon vorher Abtrünnige und Bösartige in seiner Schöpfung "vor Augen" getreten und somit hätte ER/ES zumindest "gewarnt" sein müssen.

Zuerst sollte man anmerken, dass Gott oefter im AT unueberlegt handelt, oft im Affekt, ohne die Konsequenzen seiner Handlungen zu ueberdenken. Die Sintflutgeschichte hat dieses Problem nicht nur am Anfang, wo Gott seine Schoepfung bereut, sondern noch gravierender an ihrem Ende (Gen 8, EU):

"21 ... und der HERR sprach in seinem Herzen: Ich werde den Erdboden wegen des Menschen nie mehr verfluchen; denn das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend an. Ich werde niemals wieder alles Lebendige schlagen, wie ich es getan habe."

Wie man sieht, ist die Wortwahl Gottes fast dieselbe wie die vor der Sintflut. Prof. David Clines (Sheffield) fasste das wie folgt zusammen (meine Uebersetzung): "Dies ist eine machtvolle theologische Aussage. Es... raeumt die Tatsache ein, [und zwar] in der Flut-Erzaehlung selbst, dass die Flut ueberhaupt nichts aenderte. Die Flut war also vollkommen sinnlos." (Clines, David. “The Failure of the Flood”. Making a Difference: Essays on the Bible and Judaism in Honor of Tamara Cohn Eskenazi. 2012.)

Es ist Gott, der hier etwas lernt. Die Priesterschrift kommt dann zum Bund mit Noah, und viel wichtiger, der Erkenntnis, dass Bestrafung individuell gemaess individueller Schuld passieren soll; pauschale Bestrafungen sind nicht angebracht.

Wie kommt es hier zu dem, sagen wir es vorsichtig, etwas inkompetenten Bild, das Gott in dieser Geschichte abgibt? Die Loesung besteht im Ursprung der Geschichte. Seit im vorletzten Jahrhundert das Gilgamesch-Epos gefunden wurde (und spaeter das Atrahasis-Epos von etwa 1800 v.Chr. oder frueher), weiss man, dass die biblische Sintflut-Geschichte einer mesopotamischen Erzaehlung entnommen ist. Die Abhaengigkeit ist dabei klar: die biblische Erzaehlung folgt dem Vorbild Punkt fuer Punkt und in derselben Reihenfolge, wobei auch viele Details uebereinstimmen. Das etwas verwirrte Bild, das Gott in der biblischen Version abgibt, erklaert sich aus dem Original: hier arbeitet nicht Gott gegen sich selbst, sondern die Rollen sind auf verschiedene Goetter verteilt.

Die Lehre aus der Geschichte, die Gott in der Bibel selbst ziehen muss und sich in der Folge selbst korrigiert, ist im Original die Lehre, die ein Gott (Enki, der Gott der Weisheit) dem anderen (Enlil, Koenig von Himmel und Erde, oberster Gott vor dem Aufstieg Marduks, als Sturmgott die Entsprechung Jahwes) erteilt. Enki hatte den Beschluss Enlils, alle Menschen und Tiere zu vernichten, hintertrieben, weil er das vollkommen ueberzogen und ungerecht fand, weshalb er den Helden der Geschichte die Arche bauen liess. Als Enlil bemerkte, was Enki getan hatte, gab Enki dem Enlil die Lektion ueber gerechte Bestrafung fuer individuelle Schuld. Enlil lenkte dann - wie Gott in der Sintflut-Geschichte - ein.

Wenn es nicht nur aus Gruenden der Manuskriptgeschichte klar waere, dass hier die mesopotamische Version das Original darstellt, so ergibt sich das auch aus der inneren Logik, die bei der biblischen Sintflut-Geschichte bei der Adaption fuer einen monotheistischen Hintergrund verloren gegangen ist.
#2
(08-12-2021, 15:16)Ulan schrieb: Es ist Gott, der hier etwas lernt. Die Priesterschrift kommt dann zum Bund mit Noah, und viel wichtiger, der Erkenntnis, dass Bestrafung individuell gemaess individueller Schuld passieren soll; pauschale Bestrafungen sind nicht angebracht.

Wie kommt es hier zu dem, sagen wir es vorsichtig, etwas inkompetenten Bild, das Gott in dieser Geschichte abgibt? Die Loesung besteht im Ursprung der Geschichte. Seit im vorletzten Jahrhundert das Gilgamesch-Epos gefunden wurde (und spaeter das Atrahasis-Epos von etwa 1800 v.Chr. oder frueher), weiss man, dass die biblische Sintflut-Geschichte einer mesopotamischen Erzaehlung entnommen ist. Die Abhaengigkeit ist dabei klar: die biblische Erzaehlung folgt dem Vorbild Punkt fuer Punkt und in derselben Reihenfolge, wobei auch viele Details uebereinstimmen. Das etwas verwirrte Bild, das Gott in der biblischen Version abgibt, erklaert sich aus dem Original: hier arbeitet nicht Gott gegen sich selbst, sondern die Rollen sind auf verschiedene Goetter verteilt.

Die Lehre aus der Geschichte, die Gott in der Bibel selbst ziehen muss und sich in der Folge selbst korrigiert, ist im Original die Lehre, die ein Gott (Enki, der Gott der Weisheit) dem anderen (Enlil, Koenig von Himmel und Erde, oberster Gott vor dem Aufstieg Marduks, als Sturmgott die Entsprechung Jahwes) erteilt. Enki hatte den Beschluss Enlils, alle Menschen und Tiere zu vernichten, hintertrieben, weil er das vollkommen ueberzogen und ungerecht fand, weshalb er den Helden der Geschichte die Arche bauen liess. Als Enlil bemerkte, was Enki getan hatte, gab Enki dem Enlil die Lektion ueber gerechte Bestrafung fuer individuelle Schuld. Enlil lenkte dann - wie Gott in der Sintflut-Geschichte - ein.

Wenn es nicht nur aus Gruenden der Manuskriptgeschichte klar waere, dass hier die mesopotamische Version das Original darstellt, so ergibt sich das auch aus der inneren Logik, die bei der biblischen Sintflut-Geschichte bei der Adaption fuer einen monotheistischen Hintergrund verloren gegangen ist.

vielen dank für diese ausführungen. mir war zwar bekannt, daß das gilgamesch-epos bzw. ältere mesopotamische mythen die autoren der thora "inspiriert hat", aber diese zusammenhänge waren mir bisher so nicht klar (habe mich eben nicht genug damit beschäftigt)
einen gott, den es gibt, gibt es nicht (bonhoeffer)
einen gott, den es nicht gibt, braucht es nicht (petronius)
#3
(08-12-2021, 15:16)Ulan schrieb: Seit im vorletzten Jahrhundert das Gilgamesch-Epos gefunden wurde (und spaeter das Atrahasis-Epos von etwa 1800 v.Chr. oder frueher), weiss man, dass die biblische Sintflut-Geschichte einer mesopotamischen Erzaehlung entnommen ist.


Wissen tut man gar nichts, es gibt Hypothesen:

Gilgamesch-Epos - Wikipedia
"Die ersten Tontafeln mit Fragmenten des Gilgamesch-Epos wurden 1853 von Hormuzd Rassam gefunden. George Smith (1840–1876) übersetzte sie 1872 und gilt daher als der eigentliche Wiederentdecker des Gilgamesch-Epos. Smith übersetzte das Fragment, das sich mit der Überflutung der Erde beschäftigte und sehr große Ähnlichkeiten zum Bericht der Sintflut im Buch Genesis (Gen 7,10–24 EU und Gen 8,1–14 EU) der Bibel aufweist. Dieses Fragment ist ein Teil der elften und letzten Tafel des Gilgamesch-Epos. Damit wurde die Hypothese gestärkt, dass die Bibel diesen Text in veränderter Form übernommen hatte."
#4
@petronius Gern geschehen. Im Bibeltext stecken tatsaechlich viele geschichtliche Details, die man bei genauerem Lesen aufdroeseln kann.

@Sinai Nun, der biblische Sintflut-Text wurde mehr als tausend Jahre nach den Vorlagen geschrieben, und warum die Richtung der Abhaengigkeit klar ist, habe ich im Eingangsbeitrag belegt. Dass der Text sich am Gilgamesch-Epos entlanghangelt, ist schon seit dessen Entdeckung klar.

Dass die jahwistische Version der Sintflut-Geschichte die Fehler ziemlich offen vor sich her traegt, weil da fast nur die Namen ausgetauscht sind, wird auch daraus deutlich, dass die priesterschriftliche Version der Geschichte versucht, die Fehler zu korrigieren. Zumindest bei der Motivation Gottes bessert sie da nach.
#5
(08-12-2021, 21:12)Sinai schrieb: Wissen tut man gar nichts,...

Natürlich weiß man das. Dass die Sintfluterzählung aus dem Gilgamesch-Epos übernommen wurde, ist offensichtlich. Lesen müsste man halt konnen.

Siehe HIER (Sumerischer Flutmythos), HIER (Atrachasis-Epos) und HIER (Gilgamesch-Epos).
MfG B.
#6
Gerade wenn es um Bibeltexte geht, formuliert Wikipedia oft uebervorsichtig, um sich nicht in diese Dauerschlachten mit Fundamentalisten begeben zu muessen. Etwas mehr Klartext gibt's dann bei Themen, wo der typische Bibelleser wahrscheinlich nie nachschauen wird. Z.B. redet der Artikel ueber Jehud Medinata nicht lange um den heissen Brei herum. Das fliegt dann normalerweise unter dem Radar, weil da Fachwissen gefragt ist, das dem normalen Bibelleser abgeht.

Wie auch immer, wir haben wirklich Glueck, dass wir wenigstens Texte von den Hochkulturen der Gegend haben, die uns erlauben, eine ganze Reihe biblischer Texte in ihren historischen und kulturellen Kontext zu setzen.
#7
(08-12-2021, 15:16)Ulan schrieb: Aufhaenger dieses Beitrags war folgende Bemerkung Reklovs in einem anderen Thread:

(07-12-2021, 15:56)Reklov schrieb: Immerhin führte schon frühe Selbsterkenntnis des Menschen dazu, dass im Alten Testament (1.Mose 6, 5/6) vermerkt wurde:
>> 5. Da aber der Herr sah, dass der Menschenbosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, 6. da reute es ihn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen. <<

Ein socher Text fordert zwangsläufig auch Kritik heraus, - denn - wenn man schon von einem Allwissenden/Allmächtigen ausgeht, so sind diesem ja schon vorher Abtrünnige und Bösartige in seiner Schöpfung "vor Augen" getreten und somit hätte ER/ES zumindest "gewarnt" sein müssen.

Zuerst sollte man anmerken, dass Gott oefter im AT unueberlegt handelt, oft im Affekt, ohne die Konsequenzen seiner Handlungen zu ueberdenken. Die Sintflutgeschichte hat dieses Problem nicht nur am Anfang, wo Gott seine Schoepfung bereut, sondern noch gravierender an ihrem Ende (Gen 8, EU):

"21 ... und der HERR sprach in seinem Herzen: Ich werde den Erdboden wegen des Menschen nie mehr verfluchen; denn das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend an. Ich werde niemals wieder alles Lebendige schlagen, wie ich es getan habe."

Wie man sieht, ist die Wortwahl Gottes fast dieselbe wie die vor der Sintflut.

Aber eben nur fast. Der Sinngehalt von Gen 8,21 hat sich gegenüber Gen 6,5 geändert, den dieses "von Jugend an", welches hinzugekommen ist, gibt einen Hinweis darauf, womit das zusammenhängt, was Gott hier als das böse Trachten des Menschen ansieht. Der Mensch an sich trachtet nicht "immer" nach dem Bösen, der Mensch ist also nicht an sich böse - was man in Gen 6,5 noch vermuten könnte - sondern jetzt erfährt der Leser vom Autor, dass der Mensch nur "von Jugend an" nach dem Bösen trachtet.

(08-12-2021, 15:16)Ulan schrieb: Prof. David Clines (Sheffield) fasste das wie folgt zusammen (meine Uebersetzung): "Dies ist eine machtvolle theologische Aussage. Es... raeumt die Tatsache ein, [und zwar] in der Flut-Erzaehlung selbst, dass die Flut ueberhaupt nichts aenderte. Die Flut war also vollkommen sinnlos." (Clines, David. “The Failure of the Flood”. Making a Difference: Essays on the Bible and Judaism in Honor of Tamara Cohn Eskenazi. 2012.)

Die Flut in der Erzählung ist nicht sinnlos, denn die Situation danach hat sich gegenüber der Situation davor in einigen entscheidenden Punkten geändert. Ich möchte hier nur einen herausgreifen: Unmittelbar nach der Sintflut zeugen die Söhne Gottes keine Kinder mehr, welche die Töchter der Menschen ihnen gebären. Zeugen und Gebären ist etwas, das der Mensch nicht immer kann, sondern erst "von Jugend an". Vor der Sintflut gab es Mischehen, nach der Sintflut nicht. Dies scheint David Clines vermutlich nicht aufgefallen zu sein, oder er hielt es theologisch nicht für wichtig genug. 

Bezeichnenderweise geht es im Anschluss nach Gen 6,5 weiter mit etwas, was der Mensch erst "von Jugend an" kann: nämlich sich fortpflanzen. Genau genommen geht es in der darauf folgenden Geschlechterliste nur darum, dass Männer zeugen - die Söhne und Töchter gebärenden Frauen werden in der Geschlechterliste mit keinem Wort erwähnt. Das korrespondiert inhaltlich damit, dass die Mischehen vor der Sintflut ausschließlich durch Söhne Gottes mit Töchtern der Menschen, nicht aber durch Töchter Gottes mit Söhnen der Menschen zustande kommen. 

Zitat:Gen 6,7-9
Nur Noach fand Gnade in den in den Augen des HERRN. Das ist die Geschlechterfolge nach Noach: Noach war ein gerechter, untadeliger Mann unter seinen Zeitgenossen; er ging mit Gott.

Warum eigentlich "Nur Noach" (und seine Familie)? Zum einen darum, weil er "mit Gott" ging. Das heißt, Noach ist einer der Söhne jener Menschenlinie, welche seit Enosch den Namen JHWH anruft, also mit Gott durchs Leben geht - im Gegensatz zu der Menschenlinie des Kain, deren Söhne und Töchter (!) nicht mit JHWH gehen. Diese Menschenlinie gibt es nach der Sintflut nicht mehr. Daher können die Söhne, die mit Gott gehen, den Töchtern die nicht mit Gott gehen nach der Sintflut logischerweise keine Kinder mehr zeugen. 

Noach und die Männer in Noachs Familie sind diesbezüglich untadelig, dass sie sich keine Frauen aus der Geschlechterlinie des Kain genommen haben. Die Herzen der Männer in Noachs Familie trachteten nicht nach der Schönheit der Frauen aus der Geschlechterlinie des Kain, wie der exemplarisch genannten Naama, was soviel wie "anmutig, lieblich" bedeutet. Die Herzen der Männer aus Noachs Familie haben sich ihre Frauen nicht schwanzgesteuert, sondern in den Augen des Autors, bzw. Gottes theologisch untadelig aus der Geschlechterlinie ausgesucht, die JHWH anruft, also mit diesem und keinem anderen Gott geht. 

Dies ist meines Erachtens eine der vielen machtvollen theologischen Aussagen der Sintfluterzählung, wenn man a) ihren ganzen Kontext "Urgeschichte" mit in den Blick nimmt, und b) die Tatsache nicht aus den Augen verliert, dass das AT zuerst einmal nur die Grundlage einer Volksreligion gewesen ist, deren kultische Reinheit immer wieder durch Mischehen mit Frauen aus anderen Völkern verunreinigt worden ist. Mischehen sind im AT die Ursache der am häufigsten genannte Sünde. Die Erkenntnis des Guten und des Bösen aller Könige wird in der Chronik an der kultischen Reinheit des Landes gemessen, welches sie regieren. Darum nenne ich die theologische Lehre, welche ich in der Sintfluterzählung sehe "machtvoll" - im Kontext "Volksreligion".

Gott, bzw. dem Autor ist die Problematik der Mischehen übrigens von Anfang an bewusst, denn jetzt kann man aus dem Kontext "Urgeschichte" (und dem Rest des AT) inhaltlich nachvollziehen, warum in Gen 2 und 3 siebenmal vom "Menschen und seiner Frau" die Rede ist. Im Kontext dieser patriarchalisch ausgerichteten, altorientalischen Volksreligion ist es ganz und gar nicht unerheblich, dass deren Söhne die "richtigen", zum eigenen Volk gehörenden, und nicht die "falschen" Töchter aus Fremdvölkern heiraten, welche dann, wenn sie in den Haushalt ihres Mannes übersiedeln, natürlich ihren fremden Glauben und ihre fremden Gottheiten mitbringen und diesen Opfer darbringend, das Land kultisch verunreinigen. Es geht dem AT darum den Mensch und seine Frau dieser Volksreligion theologisch-normativ zu definieren -  im Gegensatz zum Mensch und seiner Frau aller anderen Völker und Religionen. 

Die Ursprünge der biblischen Sintfluterzählung stammen zweifellos aus Mesopotamien. Es gibt daher viele Gemeinsamkeiten, aber es gibt auch theologisch wichtige Unterschiede. Bibel-Babel-Streit und Panbabylonismus sind wegen dieser Unterschiede zu Recht Schnee von Gestern.
#8
(26-02-2022, 01:11)Balsam schrieb: Aber eben nur fast. Der Sinngehalt von Gen 8,21 hat sich gegenüber Gen 6,5 geändert, den dieses "von Jugend an", welches hinzugekommen ist, gibt einen Hinweis darauf, womit das zusammenhängt, was Gott hier als das böse Trachten des Menschen ansieht. Der Mensch an sich trachtet nicht "immer" nach dem Bösen, der Mensch ist also nicht an sich böse - was man in Gen 6,5 noch vermuten könnte - sondern jetzt erfährt der Leser vom Autor, dass der Mensch nur "von Jugend an" nach dem Bösen trachtet.

David Clines hat sich schon mit typischen theologischen Erklaerungsversuchen in den Kommentaren auseinandergesetzt (in dem spezifischen Fall zitiert er Skinner), und er haelt diese Unterscheidung in der Tat fuer bedeutungslos, da die Aussage immer noch ist, dass der Mensch ganz allgemein boese ist.

Das Thema ist, wie die Herkunft der Geschichte auch in der biblischen Version immer noch sichtbar ist. Die sumerisch-babylonische Version der Geschichte dreht sich nicht um menschliche Suende, sondern das ethische Versagen der Gottheit, und die biblische Geschichte bewahrt diese Grundaussage. Die Verkuendigung in Kapitel 6 betrifft die Annullierung der Schoepfung (EU):
" 6 Da reute es den HERRN, auf der Erde den Menschen gemacht zu haben, und es tat seinem Herzen weh. 7 Der HERR sagte: Ich will den Menschen, den ich erschaffen habe, vom Erdboden vertilgen, mit ihm auch das Vieh, die Kriechtiere und die Vögel des Himmels, denn es reut mich, sie gemacht zu haben."

Die Ausnahme fuer Noah widerspricht dieser Absicht, das Ende der Flut widerspricht dem ein zweites Mal. Das sind halt die Reste der Originalerzaehlung: Das erste Widersprechen ist von einem anderen Gott, als dem, der die Flut beschlossen hatte, das zweite Widersprechen die Einsicht des ersten Gottes, das sein Tun unethisch war.

Diese Ethik-Frage ist uebrigens zentral zu dem Artikel von Clines. Verglichen mit dem unethischen Verhalten Gottes in der Sintflut-Geschichte ist alles, was die Menschen zuvor getan haben, unerheblich. Nur wird Gott selbst in biblischer Auslegungstradition halt nicht an dem Massstab gemessen, den er den Menschen vorgibt.

(26-02-2022, 01:11)Balsam schrieb: Die Ursprünge der biblischen Sintfluterzählung stammen zweifellos aus Mesopotamien. Es gibt daher viele Gemeinsamkeiten, aber es gibt auch theologisch wichtige Unterschiede. Bibel-Babel-Streit und Panbabylonismus sind wegen dieser Unterschiede zu Recht Schnee von Gestern.

Nun, da der Bibeltext diese Aenderungen in der Theologie zwar anreisst, aber nicht konsequent umsetzt und streckenweise vergisst, widerspricht Clines hier halt zum Teil (dass hier theologische Unterschiede bestehen, ist sicherlich richtig). Die mesopotamische Text scheint halt auch in theologischen Fragen immer noch beim heutigen Bibeltext durch, egal welche Modeerscheinungen bei Bibelauslegungen jeweils vorherrschen.

Die Sache mit den Mischehen ist sicherlich ein durchgehendes Thema im Alten Testament. Mit den Ausfuehrungen an sich habe ich jetzt kein Problem, aber ich denke nicht, dass dies die eigentliche These von Clines unterminiert.
#9
(26-02-2022, 02:42)Ulan schrieb:
(26-02-2022, 01:11)Balsam schrieb: Aber eben nur fast. Der Sinngehalt von Gen 8,21 hat sich gegenüber Gen 6,5 geändert, den dieses "von Jugend an", welches hinzugekommen ist, gibt einen Hinweis darauf, womit das zusammenhängt, was Gott hier als das böse Trachten des Menschen ansieht. Der Mensch an sich trachtet nicht "immer" nach dem Bösen, der Mensch ist also nicht an sich böse - was man in Gen 6,5 noch vermuten könnte - sondern jetzt erfährt der Leser vom Autor, dass der Mensch nur "von Jugend an" nach dem Bösen trachtet.

David Clines hat sich schon mit typischen theologischen Erklaerungsversuchen in den Kommentaren auseinandergesetzt (in dem spezifischen Fall zitiert er Skinner), und er haelt diese Unterscheidung in der Tat fuer bedeutungslos, da die Aussage immer noch ist, dass der Mensch ganz allgemein boese ist.
Mein Erklärungsversuch gehört nicht in die Kategorie typischer, theologischer Erklärungsversuch, weil er neu zu sein scheint. Jedenfalls konnte ich in typischer, theologischer Literatur nichts finden, das meiner Argumentationslinie nahe kommt. Zum Menschen ganz allgemein gehört auch der Mensch als Kind vor der Geschlechtsreife.
Zitat:Gen 6,9
Das ist die Geschlechterfolge nach Noach: Noach war ein gerechter, untadeliger Mann unter seinen Zeitgenossen; er ging mit Gott.

Hier steht die Aussage dass Noach ein gerechter, untadeliger Mann unter seinen Zeitgenossen war im unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Geschlechterfolge (3. Toledotformel im AT, "amtlich" formuliert, ohne namentliche Erwähnung von Frauen), die im Gegensatz zu Kains Stammbaum steht (keine Toledotformel, nicht in "amtlicher" Form verfasst, mit namentlicher Erwähnung von Frauen).

Es geht allein schon wegen dem Stammbaum Kains und der Geschlechterfolge Adams (2. Toledotformel im AT) nicht mehr um den
Menschen an sich. Kain gehört nicht zur Geschlechterfolge Adams, obwohl er der erstgeborene Sohn Adams ist. Biologisch, genetisch, ethnologisch müsste er im Geschlechtsregister Adams stehen - so ist es aber nicht. Er bekommt vom Autor aus theologischen und aus literarischen Gründen einen eigenen Stammbaum verpasst, um das Thema "Mischehe und ihre Folgen" einzuführen. Die Situation vor und nach der Sintflut hat sich nicht nur in Bezug auf die Ursache der kultischen Unreinheit im Land verändert, sondern auch in Bezug auf die Folgen: Vor der Sintflut gibt es Polytheismus im Land danach den Monotheismus.

Es geht nicht um die Schöpfung der Welt, des Universums, des Kosmos oder der Erde - sondern um die Schöpfung des Menschen und seiner Frau im Land des Judentums - eretz jisrael. Das AT beginnt mit den Worten: Im Anfang schuf Gott Himmel und Land (eretz). Von unserer modernen "Erde" kann zur Zeit der Abfassung nicht die Rede sein, nirgends im Altertum, auch nicht in Mesopotamien. Ich wundere mich immer über die Historiker, die bei allen Schöpfungserzählungen der Welt durchgängig von "der Erde" sprechen, ohne zu merken, dass sie da ihr eigenes Weltbild in die alten Erzählungen hineintragen.

Eretz ist das Land im Gegensatz zum Himmel und dem Wasser (Meer) im dreiteiligen Weltbild des alten Orients. "Gottes Geist schwebte über dem Wasser" hat natürlich auch mesopotamischen Ursprung: Man braucht sich nur Marduk ansehen, wie er über der von ihm besiegten Tiamat, dem Meer, Ur- bzw. Chaosozean "schwebt". Aus christlicher Sicht ist eretz als Land zu wenig universal - nur gab es die christliche Weltreligion damals noch lange nicht, sondern nur Volksreligionen. Für viele mag die Sintfluterzählung ein ethisches Problem aufwerfen, für eine Volksreligion gibt es dieses ethisches Problem aber gar nicht.

Genozide sind das tägliche Brot einer Volksgottheit damals, business as usaual, denn wenn es einem Kriegsgott gelingt, ein feindliches Volk zu vernichten, ist er für das eigene Volk die Barmherzigkeit in Person und niemand würde ihm ethische oder moralische Vorwürfe machen, dass er das Land in dem man wohnt erfolgreich verteidigt oder vergrößert hat.

Es gab damals keine Planeten und darum war das Land unter den Füßen der Menschen kein Planet Erde. Unsere Planeten gehörten zu den Sternen der damaligen Menschen - auch im AT ist eretz - "die Erde" in unseren deutschen Übersetzungen - kein Teil des Himmels, eretz ist kein Himmelskörper sondern das Land - zuerst in der Tiefe des Urozeans, des Chaoswassers das nasse Land, später nach der Erschaffung des Himmels das trockene Land (Gen 1,10). Es gibt im AT nur darum eine "weltweite" Sintflut, weil wir unser modernes Weltbild beim Lesen nicht aus den Köpfen bekommen, und darum eretz häufig mit Erde statt Land übersetzen. Wir wollen es theologisch auch universal verstehen. Schließlich haben Christen den Auftrag alle Völker zu Jüngern zu machen - im Gegensatz zur Volksreligion Judentum, dessen Heilige Schrift nur einem einzigen Volk die theologische Grundlage für seinen Glauben liefern sollte. 

Im Mythos der biblischen Sintflutgeschichte wird ein wichtiger Teil der Geschichte des Judentums dargestellt. Das babylonische Exil und der Übergang vom Polytheismus zum Monotheismus theologisch verarbeitet - und das hat mit den aus Mesopotamien stammenden Bildern bestimmt nichts mehr zu tun. Darin liegt meiner Meinung nach der Sinn dieser Erzählung. Vor dem Exil (im Bild der Arche) war die Religion im Land Israel polytheistisch, später höchstens eine Monolatrie aufgrund der vielen Mischehen und daher kultisch unrein. Nach dem Exil wurden die Mischehen im Land aufgelöst (Esra, Nehemia) und im Land erstmals eine monotheistische Religionsform gelebt. Der Haken am Monotheismus ist, dass dieser Gott den Ausgang aller Kriege bestimmt, und daher muss unbedingt eine Erklärung her, warum das Land erst von den Assyrern, später von den Babyloniern "überflutet" wird, und dadurch alle Kultstätten auf den höchsten Bergen der Erde des Landes "untergehen" - die Kulthöhen im Nordreich Israel und der 1. Tempel in Juda auf dem Tempelberg in Jerusalem, in welchem der Name des Höchsten wohnte. 

JHWH ist gerecht, daher die Strafe der "Sintflut" aber er ist auch barmherzig, indem er sein auserwähltes Volk sogar noch fern des eigenen Landes rettet (Arche bzw. Exil). Schuld an den verlorenen Kriegen hatte immer das eigene Volk, welches durch seine kultische Untreue den gerechten Zorn Gottes auf sich zog - Gott ist seinem Volk barmherzig, rettet es durch das Exil und bringt es wieder ins verheißene, trockene Land zurück und lässt es den 2. Tempel bauen. Das Problem mit mehr als einer Kultstätte auf der Erde im Land beginnt vor der Sintflut schon bei Kain und Abel, gelöst ist es nach der Sintflut beim Opfer Noachs für alle, da es nach der Sintflut nur eine einzige Kultstätte auf der Erde im Land gibt. So wird in der biblischen Urgeschichte in mythologischen Bildern, die historische, theologisch gedeutete Geschichte des Judentums transportiert - als Einleitung ins AT. 

So verstanden ist die Urgeschichte kein Mythos der historisiert wurde, sondern umgekehrt historische Geschichte, die mythologisiert wurde um die eigene Situation verstehen und zu erklären, so gut es eben gerade mit den zur Verfügung stehenden Mitteln der Zeit geht. Jeder Mythos hat insofern einen Wahrheitsgehalt in Bezug zur erlebten Realität der jeweiligen Kultur, die er trägt. Ich finde die Sintfluterzählung ziemlich genial - aus Sicht dieser Volksreligion. Das ethische Problem dieses Gottesbildes existiert für uns nur deshalb, weil wir es nicht im historischen Kontext der damaligen Zeit und der ihr eigenen Weltanschauung und Ethik verstehen. Ist es sinnvoll aus der Sicht einer aktuellen Weltanschauung - welcher auch immer - den Stab über Weltanschauungen der Vorzeit zu brechen? Diese Menschen taten auch nichts anderes als wir heute: versuchen zu verstehen, was gerade abgeht in der eigenen Lebensgemeinschaft im Kontext zur sie umgebenden Umwelt. Jede Ethik scheint mir immer kontextbezogen zu sein. Sie bewährt sich da, wo sie zum Tragen kommt - oder auch nicht mehr, weil sich die Umstände geändert haben. 

Religionsgeschichtlich finde ich das interessant, wie sich aus Stammesreligionen Volksreligionen, und aus diesen Weltreligionen entwickelt haben. JHWH ist Derselbe aber das Gottesbild ist nicht das Gleiche. Im selben Maße änderten sich auch die ethischen Werte. Aus der Perspektive von übermorgen, werden wir mit all unseren unterschiedlichen Weltanschauungen und Ethiken heute vermutlich auch ziemlich fragwürdig erscheinen.

Soweit ich das Forum bisher mitbekommen habe, dreht es sich um weltanschauliche Fragestellungen auf der Suche nach Antworten. Eine allgemein akzeptierte Antwort scheint sich partout nicht herauskristallisieren zu wollen. Hoffentlich bleibt das so, dass jeder und keiner Recht behält im Dialog, der unabhängig von einem einvernehmlichen Ausgang selbst einen Wert darstellt.
#10
(26-02-2022, 01:11)Balsam schrieb: ...
Dies ist meines Erachtens eine der vielen machtvollen theologischen Aussagen der Sintfluterzählung, wenn man a) ihren ganzen Kontext "Urgeschichte" mit in den Blick nimmt, und b) die Tatsache nicht aus den Augen verliert, dass das AT zuerst einmal nur die Grundlage einer Volksreligion gewesen ist, deren kultische Reinheit immer wieder durch Mischehen mit Frauen aus anderen Völkern verunreinigt worden ist
...

spannende interpretation - so hab ich das noch nie gesehen bzw. den "göttersöhnen" keine wirkliche bedeutung beigemessen

nun, den christen wird die herumvögelei ihres gottes mit den menschenfrauen nicht unbedingt schmecken, aber die fixe idee, das eigene volk "rasserein" halten zu wollen, ist ja wieder sehr en vogue




(26-02-2022, 16:13)Balsam schrieb: Ist es sinnvoll aus der Sicht einer aktuellen Weltanschauung - welcher auch immer - den Stab über Weltanschauungen der Vorzeit zu brechen?

nein - das tut ja sinnvollerweise auch keiner. etwas anderes ist es, dieselben weltanschauungen heute zu kritisieren, und seien sie auch die unkritische übernahme der mythen aus der "Vorzeit"

Zitat:Soweit ich das Forum bisher mitbekommen habe, dreht es sich um weltanschauliche Fragestellungen auf der Suche nach Antworten. Eine allgemein akzeptierte Antwort scheint sich partout nicht herauskristallisieren zu wollen. Hoffentlich bleibt das so, dass jeder und keiner Recht behält im Dialog, der unabhängig von einem einvernehmlichen Ausgang selbst einen Wert darstellt.

wohl gesprochen

wobei es eben gilt, faktendarstellung von weltanschauung zu trennen
einen gott, den es gibt, gibt es nicht (bonhoeffer)
einen gott, den es nicht gibt, braucht es nicht (petronius)
#11
(26-02-2022, 16:43)petronius schrieb: spannende interpretation - so hab ich das noch nie gesehen bzw. den "göttersöhnen" keine wirkliche bedeutung beigemessen

nun, den christen wird die herumvögelei ihres gottes mit den menschenfrauen nicht unbedingt schmecken, aber die fixe idee, das eigene volk "rasserein" halten zu wollen, ist ja wieder sehr en vogue
Da scheinst du mich falsch verstanden zu haben. Die Göttersöhne sind die männlichen Nachkommen aus der Menschheitslinie Adam > Set > Enosch also Menschen die sich mit anderen Menschenfrauen paaren und menschliche Kinder zeugen, keine himmlischen Wesen, keine Engel wie in manch christlichen Interpretationen oder gar Gott selbst der da mit Menschenfrauen herumvögelt.

Ja genau, es geht darum dem eigenen Volk seine Identität zu erhalten, welches sich über die körperliche Abstammung "genetisch" und geistlich-theologisch mithilfe des alttestamentlichen Narrativs und über die eigene Kultordnung definiert und zudem nach über 2000 Jahren dieses spezielle Land für sich wiedergewonnen hat - was im Gegensatz zu anderen Eliten die deportiert wurden - bis heute erfolgreich funktioniert hat. So machtvoll kann ein Buch bzw. das darin enthaltene Narrativ in der Geschichte der Menschheit wirken. Daher kann man das AT machtvoll nennen, weil es sich lange und gegen viele äußere Einflüsse bewährt hat - nicht nur aus Sicht dieser Volksreligion, sondern ganz objektiv historisch betrachtet ist die Wirkungsgeschichte phänomenal.
#12
(26-02-2022, 16:43)petronius schrieb:
(26-02-2022, 16:13)Balsam schrieb: Ist es sinnvoll aus der Sicht einer aktuellen Weltanschauung - welcher auch immer - den Stab über Weltanschauungen der Vorzeit zu brechen?

nein - das tut ja sinnvollerweise auch keiner. etwas anderes ist es, dieselben weltanschauungen heute zu kritisieren, und seien sie auch die unkritische übernahme der mythen aus der "Vorzeit"
Das klingt so, als würde dieser Mythos nicht auf Fakten beruhen. Der Polytheismus, die Monolatrie und der Monotheismus im Land Israel, die verlorenen Kriege gegen die Assyrer und Babylonier, das jüdische Exil, der 2. Tempel - das alles sind historisch belegbare Fakten, und diese Fakten sind in diesem Mythos verarbeitet worden. Es geht also nicht um eine unkritische Übernahme dieser Weltanschauung sondern im Gegenteil um das konsequent historisch-kritische Verständnis der Urgeschichte und des AT, was im Christentum bis heute nicht einmal an den Universitäten gelungen ist - falls meine Interpretation in diesem Sinne, also historisch-kritisch richtig wäre. 

Die Kirchen werden sich mit meiner Interpretation nicht anfreunden können, und die von den Kirchen abhängigen Universitäten daher auch nicht. Laien wie ich spielen im theologischen Diskurs - Gott und dem Heiligen Geist sei Dank - keine Rolle.

Zitat:wobei es eben gilt, faktendarstellung von weltanschauung zu trennen

Im allgemeinen wäre das wünschenswert. Im speziellen Fall der biblischen Urgeschichte wäre das, meiner unmaßgeblichen Meinung nach ein Fehler, weil dieser Mythos wie oben gezeigt auf historischen Fakten, sprich Tatsachen aufgebaut ist. Nimmt man diese nicht mit in die Rechnung mit hinein, kann man diese Weltanschauung nicht angemessen verstehen und deshalb versteht das Christentum die Urgeschichte in der ungesunden Weise, dass der Mensch an sich böse sei. Den Sündenfall den Christentum und erstaunlicherweise auch das Judentum da herauslesen, gibt es in der Erzählung gar nicht. Es gibt nur den kultischen Sündenfall von Kain und Abel, den Sündenfall der Mischehen die sich wiederum kultisch auswirken. Ich vermute, dass das heute nicht mehr im Text wahrgenommen wird, weil die damalige Kultordnung des Frühjudentums, weder im Christentum noch im rabbinischen Judentum heute eine tatsächlich umgesetzte Rolle spielen.
#13
@Balsam: Um das noch mal zu wiederholen, weil, so scheint es mir, das nicht ganz klar geworden ist: Ich sehe jetzt erst einmal prinzipiell keinen Widerspruch von dem, was ich in diesem Thread thematisiert habe, und Deiner Interpretation des Inhalts der Geschichte. Mit diesem Thread habe ich gar nicht versucht, die Sintflutgeschichte zu interpretieren; hier geht es nur um den Zusammenhang der biblischen Erzaehlung mit dem zugrundeliegenden mesopotamischen Mythos. Ich haette hier auch noch mehr auf die Unterschiede der jahwistischen und der priesterschriftlichen Anteile der biblischen Erzaehlung eingehen koennen, um das klarer zu machen; vor allem die jahwistischen Textteile kleben am mesopotamischen Original. Die priesterschriftliche Ueberarbeitung ist sich der aus dieser Uebernahme entstehenden Probleme zumindest teilweise bewusst und versucht sie dementsprechend an juedische theologische Vorstellungen zu adaptieren, was zumindest teilweise gelingt. Das von Dir angesprochene Problem der unbedingten Gerechtigkeit Gottes ist dabei halt ein Problem, das die Ueberarbeitung in der Bibel eben gerade nicht loest.

(26-02-2022, 16:13)Balsam schrieb: So verstanden ist die Urgeschichte kein Mythos der historisiert wurde, sondern umgekehrt historische Geschichte, die mythologisiert wurde um die eigene Situation verstehen und zu erklären, so gut es eben gerade mit den zur Verfügung stehenden Mitteln der Zeit geht. Jeder Mythos hat insofern einen Wahrheitsgehalt in Bezug zur erlebten Realität der jeweiligen Kultur, die er trägt.

Eine Unterscheidung zwischen Mythos und Geschichte ist zur damaligen Zeit nicht wirklich gegeben, so dass wir hier auf moderne Sichtweisen reflektieren. Der Sintflut-Mythos gehoerte sicherlich zum bekannten Mythenschatz in Kanaan oder dem spaeteren Juda. Der Mythos wurde also nicht historisiert, sondern, durch den "Sitz im Leben" des Autors motiviert, aus einem aktuellen Anlass adaptiert. Dass die Umlenkung der Verantwortung fuer das Missgeschick des juedischen Volkes von der Gottheit auf die Verfehlungen des Volkes selbst im Anschluss an erlittene militaerische Niederlagen dabei die Hauptmotivation des Autors darstellt, wird so in der heutigen Alttestmentik weitgehend anerkannt.

Und ja, mit unterschiedlichen Ansichten haben wir hier keine Probleme, solange Du sie begruenden kannst. Wenn jemand Deine Ansichten nicht teilt, heisst das erst einmal nicht viel, solange es nicht um sachlich falsche Voraussetzungen geht, was ich hier jetzt nicht sehe. Dass die Sintflutgeschichte mit der Vernichtung aller Menschen, allen Viehs, aller Kriechtiere und aller Voegel des Himmels wirklich nur Israel meinte, halte ich zwar sowohl von der Herkunft der Geschichte als auch von der Formulierung der Verse her fuer falsch, aber was soll's. Eine Vorstellung von "der ganzen Welt" hatten die Menschen damals wohl sowieso nicht.
#14
(26-02-2022, 17:11)Balsam schrieb: Da scheinst du mich falsch verstanden zu haben. Die Göttersöhne sind die männlichen Nachkommen aus der Menschheitslinie Adam > Set > Enosch also Menschen die sich mit anderen Menschenfrauen paaren und menschliche Kinder zeugen, keine himmlischen Wesen, keine Engel wie in manch christlichen Interpretationen oder gar Gott selbst der da mit Menschenfrauen herumvögelt

offenbar

aber wie kommst du dann auf "göttersöhne"?




(26-02-2022, 17:57)Balsam schrieb:
(26-02-2022, 16:43)petronius schrieb:
(26-02-2022, 16:13)Balsam schrieb: Ist es sinnvoll aus der Sicht einer aktuellen Weltanschauung - welcher auch immer - den Stab über Weltanschauungen der Vorzeit zu brechen?

nein - das tut ja sinnvollerweise auch keiner. etwas anderes ist es, dieselben weltanschauungen heute zu kritisieren, und seien sie auch die unkritische übernahme der mythen aus der "Vorzeit"
Das klingt so, als würde dieser Mythos nicht auf Fakten beruhen. Der Polytheismus, die Monolatrie und der Monotheismus im Land Israel, die verlorenen Kriege gegen die Assyrer und Babylonier, das jüdische Exil, der 2. Tempel - das alles sind historisch belegbare Fakten, und diese Fakten sind in diesem Mythos verarbeitet worden

Da scheinst du mich falsch verstanden zu haben Icon_cheesygrin

ich rede nicht von der anerkennung historischer fakten bezüglich der entstehung mythologischer texte, sondern davon, daß diese mythen als real übernommen und fakten entgegengestellt werden, welche dann nicht gelten sollen, weils ja anders in den "heiligen büchern" steht

Zitat:Es geht also nicht um eine unkritische Übernahme dieser Weltanschauung

doch, mir ging es genau darum

Zitat:sondern im Gegenteil um das konsequent historisch-kritische Verständnis der Urgeschichte und des AT, was im Christentum bis heute nicht einmal an den Universitäten gelungen ist - falls meine Interpretation in diesem Sinne, also historisch-kritisch richtig wäre

gut, daß du im konjunktiv geblieben bist
einen gott, den es gibt, gibt es nicht (bonhoeffer)
einen gott, den es nicht gibt, braucht es nicht (petronius)
#15
(26-02-2022, 19:37)Ulan schrieb: @Balsam: Um das noch mal zu wiederholen, weil, so scheint es mir, das nicht ganz klar geworden ist: Ich sehe jetzt erst einmal prinzipiell keinen Widerspruch von dem, was ich in diesem Thread thematisiert habe, und Deiner Interpretation des Inhalts der Geschichte.

Was den mesopotamischen Ursprung betrifft, besteht von wenigen Ausnahmen abgesehen ein breiter Konsens.

Zitat:Mit diesem Thread habe ich gar nicht versucht, die Sintflutgeschichte zu interpretieren; ...

Das stimmt. Allerdings  beruhen die Aussagen in deinem Zitat von Clines natürlich auf (s)einer Interpretation der Sintflutgeschichte, und seine ethischen Schlussfolgerungen fallen dementsprechend aus. Es ist doch offensichtlich, dass Clines in seiner ethischen Kritik Maßstäbe anlegt, die nicht mit den Maßstäben der biblischen Autoren kompatibel sind - also teils mesopotamische ethischen Maßstäbe die er aus den Ursprungserzählungen übernimmt, und zeitlich und kulturell gesehen völlig irrelevant sind, teils seine persönlichen ethischen Maßstäbe aus seiner heutigen aufgeklärten Perspektive.

Der biblische Gott lernt gar nichts und bereut auch nichts, weil es diese weltweite Sintflut aus Sicht der biblischen Autoren nie gegeben hat. Diese beschreiben im Gegensatz zu den mesopotamischen Autoren keine Naturkatastrophe, sondern historisches, "am eigenen Leib" Erlebtes, traumatische Kriegserfahrungen mit den Assyrern, Babyloniern und Persern. Clines geht von Wassermassen biblischen Ausmaßes aus, die über die höchsten Berge (Mount Everest?) "der Erde" reichten. Er nimmt das alles auf Basis falscher Übersetzungen und eines historisch unzutreffenden Weltbildes der biblischen Autoren von "der Erde" wörtlich. Im Grunde kämpft er, möglicherweise ohne etwas davon zu ahnen, gegen einen Strohmann. 


Zitat:... hier geht es nur um den Zusammenhang der biblischen Erzaehlung mit dem zugrundeliegenden mesopotamischen Mythos.

Abgesehen von den verwendeten Bildern, gibt es keinen inhaltlichen Zusammenhang von mesopotamischer, polytheistischer Naturkatastrophe und frühjüdischer, monotheistischer Kriegsberichterstattung aus der Perspektive des 2. Tempels. Im AT ist die Sintfluterzählung eine Allegorie, die Arche eine Metapher, die reinen und unreinen Tiere sind ebenfalls eine Metapher, also keine Tiere, sondern das wofür sie stehen, nämlich die jüdische Elite bestehend aus der kultisch reinen Priesterschaft (= Söhne Aarons), und der kultisch unreinen Aristokratie. Immer vorausgesetzt, das meine inhaltliche Interpretation mit der Intension der Autoren deckungsgleich ist. Wie plausibel das ist, muss jeder selbst entscheiden. Weil es eine neuartige Interpretation ist, gibt es nur jede Menge anders geartete Interpretationen von anerkannten Autoritäten, womit wir bei deinem nächsten Punkt sind.   

Zitat:Ich haette hier auch noch mehr auf die Unterschiede der jahwistischen und der priesterschriftlichen Anteile der biblischen Erzaehlung eingehen koennen, um das klarer zu machen; vor allem die jahwistischen Textteile kleben am mesopotamischen Original. Die priesterschriftliche Ueberarbeitung ist sich der aus dieser Uebernahme entstehenden Probleme zumindest teilweise bewusst und versucht sie dementsprechend an juedische theologische Vorstellungen zu adaptieren, was zumindest teilweise gelingt.

Die Ergebnisse der historisch-kritischen Bibelwissenschaft sind mir bekannt (Urkundenhypothese, Fragmentenhypothese, Ergänzungshypothese, Neuere Urkundenhypothese usw.). Allen gemeinsam ist, dass sie von Redaktoren bzw. unterschiedlichen Redaktionsschichten sprechen. Diese sind aber im Einzelnen jeweils relativ schwer im Text zu bestimmen, weshalb es auch so viele unterschiedliche Hypothesen gibt. Dass man aber Redaktionen nachweisen kann, lässt den logischen Schluss zu, dass es irgendwann zur Zeit des 2. Tempels eine letzte Endredaktion des Pentateuch gegeben haben muss. Ich ziehe nicht die Ergebnisse der Forschung in Zweifel, sondern baue auf ihnen auf. Dabei lege ich aus inhaltlichen Gründen, den Schwerpunkt auf den vorliegenden Endtext, den ausschließlich die Endredaktion nicht aber frühere Autoren zu verantwortet hat - und zwar in ihrem theologisch-dogmatischen Verständnis. So wurde das immer gehandhabt und so machen es auch unsere deutschen Übersetzer, deren Übersetzungen allesamt Deutungen aus ihrer jeweiligen kirchlich (an)gebundenen theologischen Perspektive darstellen. 

Zitat:Das von Dir angesprochene Problem der unbedingten Gerechtigkeit Gottes ist dabei halt ein Problem, das die Ueberarbeitung in der Bibel eben gerade nicht loest.

Wie das? Aus Sicht des Frühjudentums gibt es kein ethisches Problem. Ihr Gott steht nur ihnen, dem außererwählten Volk bei. Alle anderen Völker sind nur als Gottes Zuckerbrot (Frieden im Land Israel) und Peitsche (Krieg im Land Israel, Exil, Diaspora der Juden), damit sein Volk so pariert, wie er will - zum Besten dieses Volkes selbstverständlich. Das Frühjudentum war mit seiner Ethik im reinen - aber sowas von. Erst als Alexander der Große und die Römer auftauchten, obwohl das Volk seinem Gott treu und ergeben, minutiös alle kultischen Anordnungen seines Gottes befolgte, viel ihr theologisches Kartenhaus von Freiheit und vom ewigen Frieden im Lande Israel in sich zusammen. Also verlegte man sich mehr und mehr auf eine eschatologisch-apokalyptische an der Zukunft "orientierte" Theologie, weil die rückblickende theologische Deutung der Geschichte mit der Gegenwart nicht mehr kompatibel war.   

Zitat:
(26-02-2022, 16:13)Balsam schrieb: So verstanden ist die Urgeschichte kein Mythos der historisiert wurde, sondern umgekehrt historische Geschichte, die mythologisiert wurde um die eigene Situation verstehen und zu erklären, so gut es eben gerade mit den zur Verfügung stehenden Mitteln der Zeit geht. Jeder Mythos hat insofern einen Wahrheitsgehalt in Bezug zur erlebten Realität der jeweiligen Kultur, die er trägt.

Eine Unterscheidung zwischen Mythos und Geschichte ist zur damaligen Zeit nicht wirklich gegeben, ...

Meine Rede. Genau das zeige ich doch auf, dass dieser Mythos erzählte Geschichtsdeutung ist. 

Zitat:... so dass wir hier auf moderne Sichtweisen reflektieren.

Wozu soll das zum Verständnis des Textes beitragen? Herkömmlicherweise werden Mythen als irrelevante Phantastereien abgetan, moderne Sichtweisen aufgrund relevanter Fakten als wahrhaftig verstanden. Erstens beruht die biblische Urerzählung - meiner Meinung nach - auf relevanten historischen Fakten, die nicht bestritten worden sind, und irrelavant sind die phantastischen Komponenten für den Lauf der Geschichte die Gutes und Böses hervorbrachte auch nicht geblieben. So oder so, man kann aus der Geschichte lernen

Zitat:Der Sintflut-Mythos gehoerte sicherlich zum bekannten Mythenschatz in Kanaan oder dem spaeteren Juda.

Zustimmung.

Zitat:Der Mythos wurde also nicht historisiert, sondern, durch den "Sitz im Leben" des Autors motiviert, aus einem aktuellen Anlass adaptiert.
Ebenfalls Zustimmung, nur geht man bei Fortschreibungsliteraturen von Autoren und Redaktoren aus, wobei jedem klar ist, dass die Macht über die Inhalte in Richtung Zeitpfeil zunimmt.

Zitat:Dass die Umlenkung der Verantwortung fuer das Missgeschick des juedischen Volkes von der Gottheit auf die Verfehlungen des Volkes selbst im Anschluss an erlittene militaerische Niederlagen dabei die Hauptmotivation des Autors darstellt, wird so in der heutigen Alttestmentik weitgehend anerkannt.
Ja.

Zitat:Und ja, mit unterschiedlichen Ansichten haben wir hier keine Probleme, solange Du sie begruenden kannst.
Ich habe nur in sehr groben Zügen eine alternative Hypothese in den Raum gestellt. Um sie zu begründen müsste ich die ganze Urgeschichte und die textimmanente logische Konsistenz aufzeigen. So groß ist das Interesse eh bei niemanden, dass er sich das antun würde.

Zitat:Wenn jemand Deine Ansichten nicht teilt, heisst das erst einmal nicht viel, solange es nicht um sachlich falsche Voraussetzungen geht, was ich hier jetzt nicht sehe. Dass die Sintflutgeschichte mit der Vernichtung aller Menschen, allen Viehs, aller Kriechtiere und aller Voegel des Himmels wirklich nur Israel meinte, halte ich zwar sowohl von der Herkunft der Geschichte als auch von der Formulierung der Verse her fuer falsch, aber was soll's.
Genau. Ich habe nicht vor, meine Mitmenschen mit meiner Sichtweise zu nerven. Hier schien es mir passend ein gedankliches Alternativangebot daneben zu stellen, ohne all zu sehr in die Details zu gehen.

Zitat:Eine Vorstellung von "der ganzen Welt" hatten die Menschen damals wohl sowieso nicht.
Ich auch nicht.


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