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Islamischer Modernismus
#1
Die Hauptströme (sunnitisch-)islamischen Denkens im 20/21. Jh lassen sich grob zwei Ansätzen zuordnen: dem Traditionalismus und dem Modernismus.

Sieht man sich die Grundprinzipien des islamischen Modernismus an, kann das durchaus Sympathie erwecken.

Modernisten gehen davon aus, dass der Islam grundsätzlich mit den Prinzipien der Moderne (Menschenrechte, Gleichberechtigung, Demokratie u. dgl.) zu vereinbaren ist. Dort, wo offensichtlich Widersprüche auftreten, herrscht die Meinung vor, dass das auf ein falsches Islamverständnis zurückzuführen sei.

Die islamische Theologie- und Geistesgeschichte der vergangenen Jahrhunderte wird vielfach kritisiert. Insbesondere behaupten Modernisten, die Muslime hätten sich im Laufe ihrer Geschichte von den Idealen des frühen Islams entfernt. Sie meinen, diese Ideale in den Grundprinzipien der Moderne wiederentdeckt zu haben.

Heute sind die Grundthesen des islamischen Modernismus weit verbreitet. Insbesondere in der Türkei (dort vor allem in der urbanen Bildungsschicht) ist man überzeugt, dass der Koran die gängigen Konzepte moderner gesellschaftlicher Ordnung (vor allem Demokratie und Frauenrechte) ausdrücklich fordert. Die traditionelle Koranexegese wird allerdings ganz einfach nicht zur Kenntnis genommen.

Ein bedeutender Vertreter dieser modernistischen Denkrichtung im (türkischen) Islam ist Zekeriya Beyaz. Er ist im radikalen türkischen Nationalismus verwurzelt und war um 1990 Dekan der Theologischen Fakultät der Universität Istanbul.

Auf ihn beruft man sich oftmals auch, wenn behauptet wird, das Konzept moderner demokratischer Staatlichkeit sei schon im Koran vorzufinden.

Bedauerlich allerdings ist die Tendenz vieler Modernisten, den mystischen Islam abzuqualifizieren. Sie lehnen die mystische Tradition des Islam als unislamische Neuerung ab und sind sich darin oft auch mit Vertretern eines puritanisch-fundamentalistischen Reformislams nach der Manier der Wahhabiten einig.

Fragen:

Ist es einsichtig, dass (wie Zekeriya Beyaz behauptet) der Koran (4,59) ein republikanisch-demokratische Regierungssystem, einschließlich Gewaltenteilung, Verfassungsgerichtshof, etc. ausdrücklich einfordert?

Sure 4,59: Ihr Gläubigen! Gehorcht Gott und dem Gesandten und denen unter euch, die zu befehlen haben (oder: zuständig sind)! Und wenn ihr über eine Sache streitet (und nicht einig werden könnt), dann bringt sie vor Gott und den Gesandten, wenn ihr an Gott und den jüngsten Tag glaubt! So ist es am besten (für euch) und nimmt am ehesten einen guten Ausgang. (R. Paret)

Ist aus dem Koran eine gesellschaftlich-politische (also nicht nur religiöse) Gleichberechtigung der Frau zu begründen?

Ist die unter Modernisten vielfach propagierte und geübte wissenschaftliche Koranauslegung im Stile eines Harun Yahya (eigentlich Adnan Oktay) nicht eher Hindernis als Anreiz, sich mit modernem muslimischem Denken auseinanderzusetzen?

Ist die Tendenz, alles, was dem (sunnitisch) modernistisch-islamischen Weltbild widerspricht (zB Sufismus, verschiedene Denkrichtungen innerhalb der Schia, etc.), als unislamisch und abergläubisch abzuqualifizieren, dem Frieden unter den Muslimen nicht abträglich?
MfG B.
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#2
(17-07-2010, 15:09)Bion schrieb: Ist es einsichtig, dass (wie Zekeriya Beyaz behauptet) der Koran (4,59) ein republikanisch-demokratische Regierungssystem, einschließlich Gewaltenteilung, Verfassungsgerichtshof, etc. ausdrücklich einfordert?

es ist ebenso "einsichtig", wie wenn christen meinen, die bibel (die ja im wesentlichen nur aus zehn geboten und bergpredigt bestehe) fordere ausdrücklich die humanistischen werte

natürlich kann man auch das aus dem koran ablesen bzw. diesen eben so verstehen, wie man das eben will. eben weil "heilige schriften" keine taxative aufzählung von verhaltensnormen in klarer formulierung ähnlich einem gesetzestext sind (ok, für nichtjuristen sind gesetzestexte auch alle andere als "klar formuliert"...), können sie gar nicht anders als nur interpretiert werden

und interpretation kann so oder so betrieben werden bzw. ist natürlich immer zielgerichtet bzw. interessegeleitet

daß fundamentalisten mir hierin nicht zustimmen (ich brauche keine namen zu nennen), ist natürlich evident

Zitat:Ist aus dem Koran eine gesellschaftlich-politische (also nicht nur religiöse) Gleichberechtigung der Frau zu begründen?

wenn man so will, sicher

Zitat:Ist die unter Modernisten vielfach propagierte und geübte wissenschaftliche Koranauslegung im Stile eines Harun Yahya (eigentlich Adnan Oktay) nicht eher Hindernis als Anreiz, sich mit modernem muslimischem Denken auseinanderzusetzen?

zweifellos. ich weiß jetzt zwar nicht genau, wen und was du mit dieser wissenschaftliche Koranauslegung der modernisten meinst (daß hr. oktar keiner ist, darüber besteht zwischen uns ja wohl einigkeit) - aber jeder versuch, mythische texte zu faktischen aussagen zu verklären, ist für die religion kontraproduktiv. egal, auf welcher seite man dabei vom pferd fällt

(17-07-2010, 15:09)Bion schrieb: Ist die Tendenz, alles, was dem (sunnitisch) modernistisch-islamischen Weltbild widerspricht (zB Sufismus, verschiedene Denkrichtungen innerhalb der Schia, etc.), als unislamisch und abergläubisch abzuqualifizieren, dem Frieden unter den Muslimen nicht abträglich?

ganz sicher. es gehört ja auch imho zwingend zu einem modernen glaubensverständnis, sich des pluralismus auch in der eigenen religion bewußt zu werden und diesen zumindest anzuerkennen, wenn nicht zu begrüßen

diesen (auch innerislamischen) pluralismus fordert imho auch der gerne als vertreter eines "modernistischen islam" angesehene soheib bencheikh, wen er in einem interview ://de.qantara.de/webcom/show_article.php/_c-469/_nr-159/i.html über die positive rolle des französischen säkularismus sagt:

Frage: Viele Muslime haben ein negatives Bild vom Säkularismus. Glauben Sie, dass es eines Tages eine Akzeptanz des Säkularismus von Seiten des Islam geben wird?

Bencheikh: Solange man ihn als staatliche Neutralität in Glaubensfragen definiert, die einzig dazu dient, den Staat besser verwalten zu können, sollte dies für die Moslems kein Problem sein. Im Gegenteil: Die Trennung zwischen Religion und Politik stellt doch nur den göttlichen, spirituellen Charakter des Islam heraus und verhindert gleichzeitig, dass er als Instrument der Machtgewinnung missbraucht werden kann. Der Islam würde darüber hinaus zu seiner ursprünglichen Bedeutung zurückfinden, das heißt zu einer Haltung der "fördernden Lehre" (yu’rad) anstatt der "erzwungenen Lehre" (yufrad), gemäß des Koranverses: "Jeder, der glauben will, mag glauben, und jeder Ungläubige mag ein Ungläubiger sein."

Frage: Sie sagen, dass es dem Säkularismus gelingen könnte, den Koran zu seinem Ursprung zurückzuführen, indem es die Ausübung politischer Macht allein dem Staat überträgt. Steht denn die originale Grundlage des Islam dem Säkularismus näher?

Bencheikh: Wir müssen uns klar machen, dass die meisten islamischen Schulen der fikh (islamische Rechtslehre), der tafsir (Koranauslegung) oder der Theologie außerhalb der politischen Machtsphäre entstanden. Muslime waren, wie sich durch ihre gesamte Geschichte hindurch beobachten lässt, frei in ihrer Entscheidung, welcher Richtung sie sich anschließen wollten. Dass Religion und Politik im Islam immer mehr zusammenfallen, ist ein neues Phänomen, und eines, das in meinen Augen gefährlich für ihn ist. Gefährlich, weil es dazu führt, dass einzelne Parteien sich auf ihn berufen, wenn es ihnen doch nur um die Erlangung von Machtpositionen geht, oder dazu, dass Regime sich seiner zur Festigung ihrer Herrschaft bedienen


interessant dabei auch, daß bencheikh diesen pluralismus als etwas ansieht, das im frühen islam sehr wohl an der tagesordnung war, allerdings historisch abhanden gekommen ist. nicht zufällig korreliert dies wohl mit dem heute "vergessenen" höhenflug des islam in wissenschaftlicher hinsicht
einen gott, den es gibt, gibt es nicht (bonhoeffer)
einen gott, den es nicht gibt, braucht es nicht (petronius)
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#3
Soheib Bencheikh schrieb:Muslime waren, wie sich durch ihre gesamte Geschichte hindurch beobachten lässt, frei in ihrer Entscheidung, welcher Richtung sie sich anschließen wollten.

(19-07-2010, 16:00)petronius schrieb: interessant dabei auch, daß bencheikh diesen pluralismus als etwas ansieht, das im frühen islam sehr wohl an der tagesordnung war, allerdings historisch abhanden gekommen ist.

Ja, Soheib Bencheikh ist eine Lichtgestalt unter den französischen Islamwissenschaftern. Leider genießt er innerhalb der muslimischen Gemeinschaft weniger Ansehen als außerhalb dieser. Als er 2007 an den französischen Präsidentschaftswahlen teilnehmen wollte, brachte er nicht einmal die erforderlichen Unterstützungserklärungen zusammen.

Es ist zweifellos richtig, wenn er behauptet, dass im frühen islamischen Denken modernere Ansätze auszunehmen seien als das heute der Fall ist. Als Beispiel nenne ich drei große islamische Gelehrte des 9. und 10. Jhs.:

Al-Kindi (gest. 866) vertrat noch die Ansicht, dass im Zweifel die Offenbarung als Quelle des Wissens heranzuziehen sei.

Hingegen behauptete Abu Bakr ar-Razi (gest. 925), dass offenbarte Religion Unsinn sei. Denn Gott habe den Menschen die Möglichkeit gegeben, mit Hilfe des Verstandes die Wahrheit zu erkennen. Er meinte ferner, dass die angeblichen Propheten Betrüger seien, die nichts als Zank und Streit in die Welt gebracht hätten.

Eine Aussage, für die ar-Razi heute durchaus um seine Gesundheit hätte besorgt sein müssen!

Einen neuen Gedanken brachte al-Farabi (gest. 950) ein:

Er meinte Religion und Philosophie seien zwei Ausdrucksformen ein und derselben Wahrheit. Die Philosophen seien die Elite der Menschheit. Sie seien in der Lage, alleine mit dem Verstand die höchsten Wahrheiten der Welt, ihren Aufbau und ihren Sinn, zu erfassen. Die meisten Menschen aber könnten das nicht! Ihnen müsste die Wahrheit mit Bildern vermittelt werden, und diese Bilder seien das, was gemeinhin als Religion bezeichnet werde.

Die Propheten seien Menschen, die Gott mit der Begabung ausgestattet habe, die rationale Wahrheit der Philosophie in eine für die Menschen verständliche Sprache zu übersetzen.

Die Lehre al-Farabis fand besonders an den Höfen muslimischer Herrscher großen Anklang. Anstatt sich den kleinlichen Vorschriften engstirniger Religionsgelehrter unterzuordnen, ließen sich die Fürsten beim abendlichen Wein von Philosophen in die Geheimnisse des Aufbaus der Welt einführen.

Soheib Bencheikh schrieb:Dass Religion und Politik im Islam immer mehr zusammenfallen, ist ein neues Phänomen, und eines, das in meinen Augen gefährlich für ihn ist.

Womit er zweifellos ins Schwarze trifft.

Er spricht damit die verschiedenen Spielarten des politischen Islams – in seiner Extremausformung den dschihadistischen Islam – an. Der dschihadistische Islam ist für das Ansehen der Religion und für Muslime selbst gefährlich. Die Opfer der gewalttätigen Variante des Islams sind in erster Linie Muslime!

(19-07-2010, 16:00)petronius schrieb:
Bion schrieb:Ist die unter Modernisten vielfach propagierte und geübte wissenschaftliche Koranauslegung im Stile eines Harun Yahya (eigentlich Adnan Oktay) nicht eher Hindernis als Anreiz, sich mit modernem muslimischem Denken auseinanderzusetzen?
zweifellos. ich weiß jetzt zwar nicht genau, wen und was du mit dieser wissenschaftliche Koranauslegung der modernisten meinst (daß hr. oktar keiner ist, darüber besteht zwischen uns ja wohl einigkeit) - aber jeder versuch, mythische texte zu faktischen aussagen zu verklären, ist für die religion kontraproduktiv. egal, auf welcher seite man dabei vom pferd fällt

Bedauerlicherweise ist auch bei manchen Vertretern eines modernistischen Islams, die Bereitschaft auszumachen, sich bei der Behauptung, wonach im Koran Erkenntnisse der modernen Wissenschaft verschlüsselt Erwähnung finden, der absurden Beweisführung eines Harun Yahya zu bedienen.
MfG B.
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