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Von Linnés Systematik zur Kladistik
#1
Da hier im Forum oefter mal Fragen zur Evolution Thema werden, wuerde ich gerne das Augenmerk auf ein fuer die Diskussion solcher Fragen wichtiges Thema lenken, die Systematik, also die Einteilung aller Lebewesen in Arten und deren Zusammenfassung in groessere Gruppen mit gemeinsamen Merkmalen. Arten sind dabei gemaess Ernst Mayr Fortpflanzungsgemeinschaften, und eine neue Art entsteht dann, wenn sich eine Fortpflanzungsgemeinschaft teilt. Linnés Systematik, bzw. die Weiterentwicklung davon, sollten die meisten von uns an der Schule gelernt haben. Um es nicht zu kompliziert zu machen, will ich mich auf Amnioten (Nabeltiere) beschraenken; das sind die Landwirbeltiere (Tetrapoda), die sich bei der Fortpflanzung vom Wasser geloest haben, indem sich dort der Nachwuchs in einer fluessigkeitsgefuellten Fruchtblase (dem Amnion) entwickelt. Seit mehr als hundert Jahren unterscheiden wir dabei drei Klassen, Reptilien, Voegel und Saeugetiere. Deren Merkmale haben die meisten von uns in der Grundschule oder spaetestens kurz danach gelernt. Die Einteilungen der traditionellen Systematik sind einfach nachvollziehbar, beruhen zum Teil aber auf Werturteilen, wozu ich spaeter noch kommen werde.

Schon kurz nach dem 2. Weltkrieg setzte sich der Biologe Willi Hennig fuer eine konsequent phylogenetische Systematik ein, also eine Systematik, die sich nur nach evolutionaeren Verwandtschaftskriterien richtet. Diese nennt man heute Kladistik. Spaetestens seit 1950 lag dieser Vorschlag in voll ausgearbeiteter Form vor. Der Kernpunkt dieser Systematik beinhaltet, dass nur solche systematischen Gruppen (Taxa) valide sind, die alle noch lebenden Nachfahren eines gemeinsamen Vorfahren enthalten, was man monophyletisch nennt. Dieser Vorschlag beisst sich unter anderem deshalb mit der traditionellen Systematik, da auch damals schon bekannt war, dass die Klasse "Reptilien" paraphyletisch sein muss. Zum einen wurde vermutet, dass die Schildkroeten Nachfahren einer ausgestorbenen Gruppe von mit den heutigen Reptilien nur entfernt verwandten Tieren aus dem Perm war, den Anapsida (eine Vermutung, die sich heute als falsch herausgestellt hat), aber zum anderen wurde auch damals schon vermutet, dass die Voegel die Nachfahren von kleinen Laufsauriern waren, die dieselbe Wurzel wie Krokodile hatten. Was damals noch nicht entdeckt war, waren die ganzen Intermediaerstufen, die wir heute kennen, aber trotzdem wurde dies richtig als Problem erkannt.

Ernst Mayr, als wegen seiner grossen Verdienste um die Evolutionsbiologe allgemein anerkannter Spezialist auf dem Gebiet, griff bei der Verteidigung der traditionellen Systematik auf eine recht polemische Argumentation zurueck. Sein Standpunkt war, dass der Vogelflug eine solche Neuerung darstellte, dass die Einrichtung einer Klasse fuer die Voegel gerechtfertigt sei und man Krokodile bei den Reptilien belassen sollte (dies habe ich oben als Werturteil bezeichnet); dabei charakterisierte er dies als den "Standpunkt von Biologen", als ob die Vertreter der Kladistik keine Biologen gewesen waeren, wie Hennig sauer anmerkte. Jedenfalls war das Thema fuer ein halbes Jahrhundert mehr oder weniger auf Eis und nur in einzelnen Fachkreisen interessant. Die meisten Biologen fanden die Idee einer konsequent phylogenetischen Systematik zwar richtig (uebrigens erkannte auch Mayr das als valide Idee an), aber, zumindest was die Konsequenz anging, als praktisch nicht durchfuehrbar. Die phylogenetische Systematik wurde aber trotzdem in der Palaeontologie durchaus auch auf der Basis von Skelettmerkmalen fuer Jahrzehnte angewandt. So wurde schon frueh klar, dass Mayrs Bedenken, wir wuerden die Klasse "Saeugetiere" verlieren, unbegruendet war, da diese sich schon im Karbon (also im Erdaltertum) vom Rest der Amniota abgetrennt und sich ueber die naechsten 350 Millionen Jahre separat entwickelt hatte, also eindeutig monophyletisch war, und damit ein valides Taxon gemaess der Kladistik.

Heutzutage allerdings stellt sich die Situation komplett anders da. In den letzten 15 Jahren wurden die Methoden der Molekularbiologie derart revolutioniert, dass wir immer mehr lebende Organismen sequenzieren koennen, was es zumindest fuer die heute noch lebenden Arten als letzte Nachfahren ausgestorbener Arten erlaubt, direkte Verwandtschaftsverhaeltnisse zu testen. Dass so etwas funktioniert, sieht man ja am heute bei Gericht allgemein angewandten Vaterschaftstest. Was die Klasse Reptilien angeht, so hatten die ganzen Entdeckungen der exzellent erhaltenen Dinosaurierskelette mit Federn, von denen man teilweise sogar noch die Farben sehen kann, die meisten Zweifel ausgeraeumt, dass Voegel noch lebende Dinosaurier sind. Bei Krokodilen schauten die Biologen auch endlich genauer nach, und das komplett vierkammrige Herz und die sonst nur bei Voegeln vorkommende geniale Lungenkonstruktion raeumten auch dort die Zweifel aus, dass wir hier die naechste Verwandtschaft der Dinosaurier/Voegel vor Augen haben. Letzte Klarheit brachten die Genomvergleiche. Zu guter Letzt wurde in diversen Genomanalysen auch endlich immer klarer, dass die Schildkroeten wohl eine Schwestergruppe der Archosaurier (Voegel/Dinosaurier + Krokodile) sind, waehrend Schlangen, Eidechsen und Brueckenechsen nur entfernte Verwandte der uebrigen Reptiliengruppen (inkl. Voegel) darstellen. Damit stand die Klasse "Reptilien" komplett vor dem Aus; die einzige Alternative, die Klasse noch zu retten, ist, die Voegel mit hineinzunehmen, was dann wiederum das Aus fuer die Klasse "Voegel" bedeutet. Letzteres ist die derzeit favorisierte Loesung.

Insofern hat die DNA-Sequenzierung die biologische Systematik und unseren Einblick in die Evolution revolutioniert. Dabei ist aber natuerlich immer ein Abgleich mit den Daten der Palaeontologen notwendig, um systematische Fehler auszuschliessen. Trotzdem sind, gerade bei der heut moeglichen Kombination verschiedenster Ansaetze, die Ergebnisse zunehmend eindeutig. Wie ueblich, wird es wohl etwas dauern, bis das in die Schulbuecher durchsickert. An diesem Punkt ist das aber wohl nicht mehr aufzuhalten.

Spaeter noch etwas zu Saeugetieren und dem Menschen, um das auch noch abzuhaken.
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#2
Dass der Mensch Mitglied der Ordnung "Primaten" ist, war spaetestens seit dem spaeten 19. Jhdt. klar und stand auch so in meinen Schulbuechern.  Als eine Ordnung innerhalb der Saeugetiere war schon immer die Frage, wie eigentlich die Verwandtschaftsverhaeltnisse innerhalb der Saeugetiere genau aussahen. Die Ordnungen innerhalb der Saeugetiere selbst sind seit dem fruehen 20. Jhdt. mehr oder weniger stabil und und in ihren Grundzuegen unveraendert. Dass Spitzhoernchen und Riesengleiter nahe Verwandte der Primaten sind, wurde schon frueh erkannt. Ein wenig in die Irre fuehrte die Systematik hier die frueher weitverbreitete Idee, Tiere in "primitive" und "hochentwickelte" Gruppen einteilen zu koennen. Da die Ernaehrung von Insekten, wie man sie bei Spitzhoernchen und einigen Lemuren verbreitet findet, als "primitiv" eingestuft wurde, wurden auch die Ordnungen der Insektenfresser (Insectivora) und der Fledermaeuse in die naechste Verwandtschaft der Primaten gestellt.

Auch in diesem Gebiet hat uns die phylogenetische Systematik mit Hilfe von DNA-Analyse mehr Klarheit geschaffen. Dabei ist vorweg zu sagen, dass fast alle Ordnungen der Saeugetiere diese Entwicklung unbeschadet ueberstanden haben, ausser den Insectivora, die aber schon immer eher als Ramschkiste fuer alles, was sonst nirgendwo hinpasste, missbraucht wurde. Aber auch dort scheint der Kern (Spitzmaeuse, Igel und ein paar Familien, die hier wahrscheinlich niemand kennt) stabil zu bleiben. Allerdings sind Insektenfresser und Fledermaeuse allgemein aus der direkten Verwandtschaft der Primaten verbannt worden.

Eigentlich wenig erstaunlich, aber trotzdem ueberraschend, kam die Erkenntnis, dass wir regionale Entwicklungsgruppen vor uns haben. Ganz neu war die Gruppe Afrotheria. Im Prinzip war schon lange bekannt, dass die naechsten Verwandten der Elefanten die im Vergleich winzigen Schliefer und die Seekühe waren. Dass die Erdferkel (oft zu den Zahnarmen - Guerteltiere, Ameisenbaeren -  gezaehlt), die Rüsselspringer und die Tenreks (beide vorher bei den Insektenfressern zu finden) auch in die Gruppe gehoerten, war eine richtige Ueberraschung. Alle zusammen sind sie wohl verwandtschaftlich weit entfernt vom Rest der Plazentatiere.

Eine andere Gruppe der Saeugetiere wurde auch nach ihrem Entstehungskontinent benannt, die Laurasiatheria, nach dem alten Kontinent Laurasia. Hier fallen die meisten grossen Saeugetierordnungen hinein, wie Insektenfresser, Fledertiere, Unpaarhufer, Paarhufer, Wale, Schuppentiere und Raubtiere. Die meisten unserer Haustiere finden sich also hier.

Die dritte Grossgruppe ist unsere, die sogenannte Euarchontoglires. Hinter dem sperrigen Namen verbirgt sich die Gruppe der Primaten, Grossgleiter und Spitzhoernchen, einerseits, mit der Schwestergruppe aus Nagetieren und Hasenartigen, andererseits, was die zweite grosse Ueberraschung war. Wenn also jemand fragt, was naeher mit Dir verwandt ist, eine Ratte oder ein Schwein, ist die Ratte wohl die richtige Antwort.

Alles in allem hat hier die DNA-Analyse ein paar Einblicke in die Verwandtschaftsverhaeltnisse ermoeglicht, die uns bis jetzt verborgen geblieben waren.

Wegen einer neulichen Diskussion hier auf dem Forum waere aber noch ein naeherer Blick auf die Familie der Menschenaffen (Hominiden) angebracht. Nach heutiger Zaehlung gehoeren dort 8 Arten hinein, drei Orang-Utan-Arten, zwei Gorilla-Arten, Schimpansen, Bonobos und letztlich wir selbst, die Menschen. In der traditionellen Systematik wurde die Gruppe "Menschenaffen" (damals "Pongiden") dem Menschen gegenuebergestellt, hauptsaechlich wegen der menschlichen Veraenderungen an den (Hinter)-Beinen und dem Schaedel. Ein Blick auf die Verwandtschaftsverhaeltnisse (hier das Kladogramm der Hominiden) zeigt, warum das nicht geht. Eine valide systematische Gruppe muss einen Vorfahren und alle seine noch lebenden Nachfahren enthalten. Will man also ein Taxon "Menschenaffen" aufstellen, sieht man am Kladogramm, dass das nicht geht.

Zur Erklaerung: Ziel waere, ein Taxon aus Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans zu bilden. Schaut man vom Blickpunkt des Schimpansen auf das Kladogramm, so zeigt sich, dass der Mensch naeher mit ihm verwandt ist als der Gorilla oder der Orang-Utan, also kann man den Menschen nicht weglassen. Schaut man vom Gorilla her, so ist das Problem aehnlich: er ist naeher mit dem Menschen (und den Schimpansen) verwandt als mit den Orang-Utans. Aber auch wenn wir die Orang-Utans rauslassen, kann man aus Schimpansen und Gorillas keine Gruppe machen, die den Menschen nicht enthaelt, ohne dass wir die Bedingung der Monophylie verletzen. Deshalb gehoert der Mensch (und mit ihm alle ausgestorbenen Hominiden) als Spezies heutzutage in die Gruppe der Menschenaffen.
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