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Karäer
#1
Karäer ist ab dem 9. Jh nC die Bezeichnung für eine jüdischen ↗Sekte, deren Mitglieder nach Lehren des aus einer Exilarchenfamilie stammenden Anan ben David (8. Jh) lebten, der bei der Nachbesetzung des ↗Exilarchenamtes übergangen wurde und danach Unzufriedene um sich sammelte, um eine eigene Gemeinde zu gründen. Die Sekte wurde anfangs nach ihrem Gründer "Ananiten" genannt (G. Stemberger, Das klassische Judentum, 247).

Hauptforderungen der karäischen Lehren an ihre Gläubigen waren, dass sich diese auf die eigene Urteilsfähigkeit verlassen mögen, die ↗Tora nach dem Wortsinn auszulegen sei, solange das nicht der Vernunft widerspräche,  Meinungen zu heiligen Texten, auch wenn sie von Autoritäten geäußert werden, immer zu hinterfragen seien und dass man sich von Menschen, die nicht bereit sind, strikt nach den Vorgaben der Tora zu leben, fernzuhalten habe.

Mit Menschen, die sich nicht an die Gesetze der Tora hielten, war der Umgang also zu vermeiden Das machte das Zusammenleben mit ↗Juden anderer Denkrichtungen schwierig, das mit Andersgläubigen nahezu unmöglich.

Selbst innerhalb karäischer Gemeinden waren Konflikte vorprogrammiert, zumal die Aufforderung, die Gesetze der Tora nach eigener Auslegung zu leben, nicht selten zu unterschiedlichen Ergebnissen führte. Den Anlass dazu gab offenbar Anan selbst. In einem ihm - nach Meinung ↗Ben-Sassons fälschlicherweise (Ben Sasson: Geschichte des jüdischen Volkes, 551) - zugeschriebenen Text heißt es:

"Forscht tüchtig in der Tora und verlasst euch nicht auf meine Meinung."

Auch in einem Text von Sahl ben Mazliach (einem der karäischen Führer, der zwischen 950-960 nC literarisch tätig gewesen war) an die ↗Rabbinen wird diese, einem Karäer abverlangte kritische Haltung deutlich unterstrichen:

"Wisst, ihr Brüder, Kinder Israels, dass jeder von uns selbst für seine
Seele verantwortlich ist. Und euer Gott wird nicht auf die Worte dessen
hören, der sich rechtfertigt, indem er sagt, "So haben meine Meister mich
geführt"; …

(S. Pinsker, Likkutei Kadmoniot. Teil II. Wien 1880, 33)

Mit einer solchen Einstellung war der Konflikt mit dem rabbinischen Judentum natürlich vorprogrammiert.

Die in ↗Mischna und ↗Talmud festgehaltene ↗Tradition lehnten die Karäer strikt ab (um sich allerdings im Laufe der Zeit ihre eigene zu schaffen). Die Tora galt ihnen als einzige Quelle des Glaubens. Nur die Tora war Richtschur für alle Bereiche des Glaubens und der Lebensführung.

Mit den ↗Sadduzäern, mit denen die Karäer fallweise verglichen werden, haben diese nur die Ablehnung der rabbinischen Tradition gemeinsam. Auf die Sadduzäer wird man fallweise auch bei Verweisen auf Anans "Buch der Gebote" hingewiesen. Dieses Buches soll Weisheiten bergen, die von ↗Zadok stammen, der von den Sadduzäern als Stammvater angesehen wurde. Das  "Buch der Gebote" ist fragmentarisch erhalten.

Wie bereits angemerkt, waren  die Vorgaben an die Gemeindemitglieder so streng, dass es für diese mühsam gewesen war, unter Andersgläubigen zu leben. Daher gab es unter den Karäern schon früh Abspaltungen, und zwar von Leuten, die weniger asketisch leben und anderen, die die ↗Askese noch stärker betreiben wollten. Einige von ihnen zogen nach ↗Palästina, um dort in strengster Abgeschlossenheit gottergeben zu leben. Diese Asketen wurden "Die um Zion Trauernden" genannt.

Der bedeutendste Vertreter der Karäer im 9. Jh war Benjamin ben Mose Al-Nahawandi gewesen, ein großer Religionsphilosoph, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den Gottesbegriff von allen ↗anthropomorphen Vorstellungen freizumachen.

Im 10. Jh wuchs unter den Karäern der Wunsch, sich im ↗Heiligen Land niederzulassen. Häufig wurden von ihnen Pilgerfahrten nach ↗Jerusalem unternommen.

Die Blütezeit der karäischen Glaubensbewegung war das 10. und 11. Jh gewesen. Die Sekte  breitete sich in Palästina, Syrien, Ägypten, Afrika  aus, ohne an Mitgliedern irgendwo zahlreich zu sein. Die Zahl der Karäer wird oftmals auch überschätzt, weil in rabbinischen Texten vieles, was sich gegen die Lehren des Talmuds auflehnte, Karäer genannt wurde (Ben Sasson: Geschichte des jüdischen Volkes, 551).

Das 10. bis 12. Jh war die Zeit heftiger Auseinandersetzungen mit dem rabbinischen Judentum. Nicht selten geriet das etablierte Judentum bei solchen Auseinandersetzungen argumentativ in die in Defensive.

Mit dem 12. Jh begann der Niedergang der Karäer im Orient, nur in Ägypten behielten sie bis ins 13. Jh Einfluss. Danach nahmen die karäischen Gemeinden auch in Ägypten ab. Nach und nach wanderten karäische Gemeinden in den türkisch-byzantinischen Raum ein.

Nach der Eroberung ↗Konstantinopels durch die ↗Osmanen und dem Zuzug ↗sephardischer Juden aus ↗Spanien, die von den islamischen Herrschern überwiegend wohlwollend aufgenommen wurden, entstand für die Karäer eine neue Situation. Sie waren plötzlich mit einer für sie fremdartigen Art und Weise, das Judentum zu leben, konfrontiert. Obwohl auch von fruchtbaren Begegnungen der Vertreter der verschiedenen Religionsparteien berichtet wird, dürfte das für die Karäer fremdartig anmutende sephardische Judentum mit ein Grund gewesen sein, sich in Richtung Krim zurückzuziehen und auch zu einem guten Teil nach Litauen und Russland auswanderten.

Allerdings konnte man fortan auch karäische Kleinstgemeinden innerhalb von sephardischen Gemeinschaften – wenn sie dazu wirtschaftlich in der Lage waren, auch mit eigener Synagoge – bzw. einzelne Gläubige, die vom rabbinischen Judentum abweichende Glaubensinhalte vortrugen und oftmals Karäer (im Sinne von Abweichler) genannt wurden, ausnehmen (Leroy, Die Sephardim, 29).

Vor dem 2. Weltkrieg lebten auf dem Gebiet der Sowjetunion noch etwa 10.000 Karäer, dazu in der übrigen Welt noch etwa 2000. Von den ↗halachischen Juden unterscheiden sie sich im ↗Ritus und ↗Kultus erheblich, manche jüdische Feiertage sind ihnen fremd (zB ↗Chanukka), ihr ↗Sabbat-, ↗Schlacht- und ↗Ehegesetz, ihre ↗Speisegesetze sind noch drückender als die des übrigen Judentums. Kleine karäische Gemeinden gibt es heute noch in Russland, den USA, Polen, der Türkei und  Israel.

Heute weitgehend in Vergessenheit geraten, besteht die religionsgeschichtliche Bedeutung der karäischen Gemeinschaften darin, dass sie – insbesondere im ↗Früh- und Hochmittelalter - den Rabbinen Denkmethoden und literarische Aktivitäten (Sprachwissenschaft und ↗Bibelexegese) aufzwangen, die ohne das selbstbewusste Auftreten dieser Sekte, nicht stattgefunden hätten (J. Maier, Geschichte der jüdischen Religion, 234).


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MfG B.
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