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Die Evangelien als historische Quellen der Kreuzigung
#4
(16-11-2015, 22:33)Kunigunde Kreuzerin schrieb: Über den historischen Wert des Lukasberichtes urteilt die Göttinger Professorin für Alte Geschichte, Helga Botermann, wie folgt:
*http://www.ejwue.de/aktuell/news/jesus-ist-realitaet/....

Meine wirklich sachlich gemeinte Frage lautet:

Was sind diese Schriften als angebliche historische Quellen wert, wenn selbst bei dem wichtigsten Ereignis im Leben Jesu offenbar jeder frühchristliche Autor nach seinem Gutdünken (hier möglicherweise seinem Antisemitismus) schreiben konnte.

Nun ja, Du hast die fragwuerdigen Aeusserungen von Fr. Prof. Botermann ja freundlicherweise schon fett markiert. Allein das "Augenzeugen"-Problem verraet eine etwas unkritische Herangehensweise an den Text; was sie als "Augenzeugen"anmerkt, kann genau so gut bedeuten, dass der Autor schon bestehende Texte gelesen hat; womit die ganze Argumentationskette zusammenbricht. Und wie Bion anmerkt, der Prozess Jesu (in allen seinen Teilen) hatte ja gar keine Augenzeugen; kein einziges Evangelium behauptet so etwas. Alle Schilderungen dieses Prozesses sind also zwangslaeufig literarische Erfindungen. Insofern findet sich auch in jedem Evangelium eine deutliche, persoenliche Faerbung dieser Schilderungen.

Auch wuerde ich sagen, dass man die uns vorliegenden Fassungen der Evangelien ein wenig von der Frage ihrer urspruenglichen Entstehungszeit abkoppeln sollte. Der Text des Lukas-Evangeliums, wie wir ihn vorliegen haben, ist meiner Ansicht nach (wie von mehreren Forschern vorgeschlagen) als Reaktion auf den Markionismus ueberarbeitet worden, also in der letzten groesseren Redaktion recht spaet. Als Entstehungsort schlagen, aus textinternen Gruenden, Neutestamentler wie Peter Pilhofer das makedonische Philippi vor, eine roemische Stadt mit roemischen Buergern, was auch erklaert, warum hier die Verantwortung der Roemer heruntergespielt und die der "Juden" betont wird. Wenn die letzte groessere Ueberarbeitung tatsaechlich in die markionitische Zeit faellt, erklaert das auch den antijuedischen Ton, da das Ansehen der Juden nach drei grossen, blutigen Aufstaenden in verschiedenen Reichsteilen einen neuen Tiefpunkt erreicht hatte.

Da gibt es also bessere Beurteilungen der Texte als die von Fr. Prof. Botermann. Ein schoener Text zu einer Sonderfrage (Jesus Barabbas) des Oxforder Philosophie-Professors John R. Lucas geht auf die Prozesse ein und zeigt sehr deutlich auf, wie die einzelnen Evangelien-Autoren die Texte umarbeiten, um bestimmte Inhalte rueberzubringen:
*http://users.ox.ac.uk/~jrlucas/theology/barabb4.pdf
Der Text ist sehr lesenswert und auch gut geschrieben, und dies von jemandem, der dem christlichen Glauben durchaus zugetan ist. Er versucht auch eine historisch einleuchtende Deutung der Barabbas-Geschichte.

Gibt es also in den Evangelien historische Kerne? Moeglich. Ob das aber darueber hinausgeht, dass irgendein im Prinzip unbedeutender Wanderprediger von den Roemern hingerichtet wurde, ist sehr fraglich. Wenn das eine bedeutende Gruppe gewesen waere, haetten die Roemer alle, auch die Anhaenger Jesu, summarisch ohne Prozess hingerichtet, wie sie das zu tun pflegten. Was, als Detail, uebrigens gegen eine grundsaetzliche roemische Verantwortung spricht. Im Prinzip braucht man aber keine historische Jesus-Figur fuer das Markus-Evangelium, was meist als das aelteste gilt; was jetzt nicht mehr heisst als genau das.
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RE: Die Evangelien als historische Quellen der Kreuzigung - von Ulan - 17-11-2015, 14:43

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