Hallo!
Epicharm schrieb:Über die Heiligkeit von Schriften
Als ich mich während meiner Studienzeit mit Texten des AT zu beschäftigen hatte, haben diese für mich nach und nach ihre Heiligkeit verloren. Später ging es mir mit den Texten des NT ebenso. Also begann ich, die Inhalte so zu sehen, wie sie – meinem Verständnis nach – zu sehen sind: Als eine Sammlung von Mythen, denen zum Teil ein historischer Kern innewohnt.
Genau dies trifft in das Zentrum meiner Fragestellung. Diesen Prozess, den Du beschreibst, halte ich für "gesund". Und wenn er nicht geschieht, sind Irrationalismen in die Sache eingebaut, die natürlich nie zum Ausbruch kommen müssen, aber von ihrer Substanz her eben können. Sodass da latent ständig eine Gefahr lauert, die im schlimmsten Fall - wirklich jetzt nur im schlimmsten Fall - zum Religionskrieg führen kann. Denn nur dann kann es "Heilige Kriege" und "Heilige Länder" geben. Nur heilig gesprochene Texte - die gegen andere heiliggesprochene Texte angehen - können einen Heiligen Krieg rechtfertigen. Wegen Immanuel Kant führt niemand Krieg.
In meiner Kindheit waren die Fahnen heilig, die roten Fahnen. Man durfte über sie nicht lästern. Man musste sie grüßen. Man musste stolz auf das sein, wofür sie standen. Zu diesem Gefühl der "Heiligkeit" wurde man in der Schule erzogen, beziehungsweise es wurde versucht. Für mich assoziiert sich "Heiligkeit" mit "tabu" (gewisse Dinge dürfen nicht in Frage gestellt werden) und mit Gehorsam gegenüber jemanden, der will, dass manche Dinge tabu sind. Und das ist letztendlich reduzierbar auf das Gespann Macht-Gehorsam. Der eine will Macht und erreicht mittels Erziehung zum Heiligkeitsempfinden den Gehorsam.
Auch der "Führer" war einst heilig. Er ist es in gewissem Sinn noch heute, denn viele flüstern von ihm. Da ist so massiv die Propaganda gelungen, dass ein heiliges Wesen auf Erden wandelte, so die Faszination - nach der offenbar viele ein Verlangen haben -, verankert, dass man sich ihrer nicht erwehren kann, diesem "Zauber" bis heute erliegt. Und sei es ein negativer.
Mir scheint, dass in dem Menschen - und einige sind dafür sehr anfällig - eben dieses Bedürfnis nach Heiligem psychisch vorhanden ist, sodass sie sich den Kreisen anschließen, die dieses anbieten. Und dazu gehören auch christliche Gemeinden, die klar NT und AT als Heilige Schriften bezeichnen, die nicht hinterfragt werden dürfen, da das Numinose selbst dort sich geäußert habe.
Dass im Theologiestudium ein anderes Verhältnis zu AT und NT entsteht, wird von vielen gesagt. Wenn aber nach wie vor - jetzt nun wohl in den Kirchen - darauf bestanden wird, dass in diesem Buch mehr die Wahrheit gesagt wird als im Koran zum Beispiel -, dann birgt dies eine Kollektivverpflichtung, die den Gedanken der Heiligkeit - während der Koran nicht so heilig sei - weiter fortpflanzt.
Ich überlege mir, ob eine Religion zusammenbrechen würde, wenn man ihr die Heiligen Bücher nehmen würde; das heißt, den Büchern die Heiligkeit - expressis verbis - nehmen würde.
Fritz7 schrieb:Ansonsten scheint mir auch in dieser Diskussion einiges in die Richtung zu gehen: "Heiliges wärmt und enthebt uns der Notwendigkeit eigenverantwortlich unseren Verstand zu gebrauchen für Unterscheidungen ..." Das scheint heute wieder mehr Trend zu werden, Bibel im Ganzen fundamentalistisch als buchstabengenaue Gottes-Offenbarung und deswegen ohne jeden Abstrich als absolute Wahrheit Gottes zu sehen. Und dann wird selektiert und harmonisiert ...bis es gar nicht mehr aufgeht ...
Das kann nur schiefgehen, Menschen früher oder irre werden lassen an ihrem verstand und wahrscheinlich auch an ihrem Glauben. Weil es gar keine Hilfe bietet im Umgang mit den Widersprüchen und Befremdenden in der Bibel.
Aber solche Trends sind keine HEILIGEN Regeln sondern menschengemacht aus ihren Bedürfnissen.
Ja, sie sind menschengemacht. Aber "heiligen" ist ohnehin ein menschliches Geschehen. Ich glaube tatsächlich, dass hier ein menschliches Urbedürfnis vorliegt. Aber es kommt alles darauf an, wo ich es hinlenke und wo es nicht missbrauchbar wird.
Ich kann zum Beispiel sagen: Mir ist das menschliche Leben heilig. Ich werde darum nicht töten. Oder: Mir ist alles Leben heilig. Darum werde ich keine Tiere essen.
Aber dann ist das meine eigene Entscheidung. Wenn aber "heilige Texte" das von mir verlangen, dass ich weder Menschen noch Tiere töte, dann wird es theoretisch möglich, dass ich - pervers, wie das dann auch ist -, Krieg führe gegen die, die diese heiligen Texte nicht als Basis respektieren.
Ich glaube ja auch, dass - zumindest in den protestantischen Kirchen, die ich nun kenne - nicht so heiß gegessen wird, wie gekocht wird. Und es gibt ja gerade in diesem Forum einige hier, die vieles in der Bibel hinterfragen. Aber - nach meiner Beobachtung - wird der letzte Schritt nicht getan: man sieht das, was man in der Heiligen Schirft zu sehen meint, dennoch als verpflichtend an. So wie Epicharm es oben beschrieben hat: es werden dennoch - für alle Christen - verpflichtende Handlungen, und seien es ethische, daraus abgeleitet.
Zitat:Niemand sollte sich den Gebrauch seines eigenen Verstandes schlechtreden lassen ... oder seine Zweifel ... auch die Glaubenszweifel. Bibel ENTHÄLT für mich WAHRHEIT, aber sie ist NICHT die absolute Wahrheit ... und schon gar kein papierener Gott.
Ich gebe Dir da Recht, natürlich. Aber wir nehmen uns diese Freiheit. Wir achten nicht so darauf, dass ja eigentlich bestimmte Dinge als verpflichtend erklärt wurden.
Ich weiß nicht, ob Du schon mal Forums-Diskussionen mit erklärten Atheisten geführt hast, vornehmlich solchen, die früher mal christlich erzogen und dann dagegen allergisch geworden waren. Sie scheuen keine Mühe, um Dir nachzuweisen, dass laut allen Statuten und Erklärungen das und das nicht zu hinterfragen sei. Und dass gefälligst der die Kirche zu verlasen habe, der sich jenseits dieser Statuten und Erklärungen eine eigene Meinung gebildet habe. Gerade diese "Lauheit", "Halbherzigkeit" und "Feigheit" prangern sie ohne Ende an, wenn jemand diese "Heiligkeit" der Schrift nicht mehr teilt und trotzdem in der Kirche bleibt.
Mir muss man nicht sagen, dass in protestantischen Kreisen diese knallharte Verpflichtung auf Glaubenssätze nicht existiert. Ich weiß, dass sie nicht existiert, jedenfalls nicht existierte, als ich noch in der Kirche war. Aber da fällt dann Schein und Sein auseinander. Und wenn dann Menschen den Schein mal wieder aufgreifen und ihn in die Tat umsetzen, also die Heiligkeit der Schrift nicht einfach unterlaufen, sondern sie im Gegenteil wieder betonen, dann war da wohl eine Unterlassungssünde gewesen, oder? Man hat den Schein gelassen - also die Heiligkeit der Schrift -, aber de facto nicht mehr danach gehandelt. Jedenfalls nicht in allen Punkten. Ein "bisschen" Heiligkeit wollte man nie aufgeben. Weil man dann vielleicht so gar keine Rechtfertigung mehr für den Begriff "Christentum" hätte finden können.
Zitat:Und es gibt KEINE Hierarchie der Fähigkeiten, in der Bibel zu lesen und zu verstehen. Jeder Bibelleser ist da (auch religiös) eigenverantwortlich und nicht weisungsgebunden. Verwerfungen, Drohungen mit schlimmen Gottesstrafen oder sonstige Angstmache ist Missbrauch von Amtautorität, ganz bestimmt nicht heilig oder Gott gefallend. Für mich zeigts eher theologische Inkompetenz.
Ich gebe Dir auch da ja recht, dass jeder seinem Gewissen verantwortlich ist. Wo aber ist das geschrieben in den "Statuten"? Wo steht, dass ich Buddha aussagekräftiger finden kann als Jesus? Oder dass ich beide für aussagekräftig halte? (Ich rede hier nicht von mir selber, das "ich" ist nur ein generalisierendes Ich.)
Theologische Inkompetenz, gut. Aber was konkret sollen sie tun? Wie können sie erreichen, dass die Offenheit festgeklopft wird?
Flat schrieb:Ich sehe z.B. nahezu jede Auslegung der christlichen Bibel für falsch an. Wo ist das Problem?
Da ist dann gar kein Problem. Das Problem beginnt dort, wo seit tausend Jahren die Heiligkeit der Bibel nie abgeschafft wurde und darum immer wieder Menschen nachwachsen, die das wörtlich nehmen. Und wieder Gewalt lehren (wenn es stimmt, dass die Fundamentalisten ein Drittel der derzeitigen Christen ausmachen, dann sind es bereits ein Drittel von ihnen, die eine latente Gefahr für die Demokratie bedeuten).
Zitat:Probleme gibt's erst, wenn dritte ins Spiel kommen (aggressive und (oder unfaire Missionierung)
Ja, genau. Und wie wollen wir das verhindern? Keiner wird, wie oben gesagt, wegen Immanuel Kant aggressive Missionierung in Angriff nehmen. Weil seine Texte nie heilig gesprochen wurden.
Zitat:Nach meiner Erfahrung, und die ist nun wirklich kritisch, sind die meisten Christen recht vernünftige Leute. Das Problem ist eine Minderheit, aber die kann reichlich Probleme verursachen.
Es ist keine Minderheit mehr. Fanatisch reden heute schon Achtzehnjährige - vor zwanzig, dreißig Jahren bei uns in Deutschland ganz undenkbar. Du solltest mal lesen, wie in Narnia-Foren ("Narnia" ist ein Kinderbuch von Lewis und wurde vor einem Jahr verfilmt) die Gewalt verteidigt wird, wenn
sie von Christen ausgeht. Das sind Kids, die da diskutieren. Sie glühen für Narnia und den Löwen, der für sie Christus verkörpert. Sie finden es in Ordnung, dass in dieser Geschichte schon die Kinder zur Waffe erzogen werden. Man kann sie auf dieser Ebene gar nicht erreichen, sie haben kein Gespür dafür, was da ethisch abläuft, wenn man die Regeln unserer Demokratie aufs Spiel setzt. Es ist ja Gott, der da spricht. Es ist dieses verdammte tabu, das greift und diese Menschen verzaubert.
Zitat:Zitat:Für mich selber entsteht nicht erst das Problem, wenn man jemandem seine Ansicht "aufzwängt". Das tut bei uns ohnehin niemand, kann es auch gar nicht. Aber es verhindert den Gedanken, dass ich, wenn ich mit Nietzsche mehr anfangen kann als mit der Heiligen Schrift, mich nicht mehr als Christ sehen darf.
Wer kann Dir das verbieten?
Niemand, wie gesagt. Aber das ist ja nicht mein Punkt. Der Punkt ist, dass es gemeinhin so aufgefasst wird, dass Christentum ein Verein mit Regeln ist. Und ich wüsste nicht, dass irgendwo steht, dass die Bibel nicht mehr die Basis ist. Und zwar die verpflichtende Basis.
Egal, wie verschieden sie ausgelegt wird.
Lea schrieb:Als ich deinen Eingangstext wiederholt überdachte, wurde mir klar, was dein Motiv gewesen sein könnte - nämlich, der Mißbrauch, die Unterjochung des Menschen per verordneter Heiligung. Das ist seelisch-geistiger Mißbrauch, Vergewaltigung. Von dem will ich tatsächlich nichts wissen und distanziere mich von jeglicher Bevormundung, die offensichtlich nichts Gutes im Sinn hat, ausser Machterhalt; was aber nicht unbedingt sein muß - ausser Menschen lassen das zu (!).
Aber eben das ist ja meine Frage. Menschen lassen es zu. Ich kann sie doch nicht überspringen, ich kann ihre psychische Struktur doch nicht außer Acht lassen. Wenn alle Menschen gereift wären, wäre alles kein Problem. Aber wir bauen unsere Staatsformen und Schulen nach den Menschen, so wie sie realiter sind und nicht, wie sie idealiter sind. Meine Grundfrage bezüglich der Kirchen ist da, ob noch immer nicht nach tausend Jahrend Missbrauch begriffen wurde, dass die Masse der Menschen nach Suggestion schreit. Wir sollen AUCH Konzepte entwickeln, wie man das verändern kann - aber mir ist keins gerade gegenwärtig, das funktioniert... Das doch Effizientere und auch leichter zu Erreichende ist doch, dass man das abschafft, das auf Menschen verheerend wirkt. Innere und äußere Veränderung müssen beide angegangen werden. Ein Führerkult beispielsweise wird meist auch so gelöst, dass man den Führer der Heiligkeit entkleidet und nicht nur, dass man die ihm Verfallenen erst mal umerzieht.
Gestern habe ich in einem stark frequentierten Tolkienforum gelesen, dass irgend ein Schriftsteller öffentlich was gegen "Herr der Ringe" von Tolkien gesagt hat, und einer der Tolkienfans rief, dass er von nun an den Schriftsteller und seine Verfilmungen "boykottieren" werde, und er rufe alle "Tolkienjünger" auf, ihm zu folgen.
Das ist der Punkt. Man will Jünger sein, egal von was. Hauptsache, man kann sich gegen andere abgrenzen, kann die eine Wahrheit verteidigen (und sei sie noch so läppisch).
Und wenn die Kirchen diesem Urbedürfnis Vorschub leisten und das NT und das AT für heilig erklären, dann ist der Völkermord für einige damit gerechtfertigt. Denn auch Gott hat gemordet, und es ist mit dieser Heiligen Schrift begründet und gerechtfertigt. Da haben alle aufgeklärten Theologen keine Chance mehr, sie werden als vom Teufel besessen erklärt (ich übertreibe nicht).
Weshalb also schafft man die Heiligkeit der Schrift nicht offiziell ab, wenn sie (die Heiligkeit) nachweislich nur Unheil angerichtet hat und jetzt schon wieder anfängt, Unheil anzurichten (indem man wieder beginnt, die Kinder zu schlagen, weil das so in der heiligen Bibel steht)?