(10-04-2013, 21:31)Ekkard schrieb: Niemand verlangt Vernunft von den Opfern, solange sie nicht in der Lage sind, das Leid zu verarbeiten. Aber das ist es ja gerade: Das Leid muss bearbeitet, die Trauer geleistet und der momentane Hass gemildert werden. Dem Täter muss Gelegenheit zur Sühne gegeben werden - natürlich im Rahmen seiner Möglichkeiten und nicht durch ein staatlich verordnetes Verbrechen, das absolut gar nichts bringt. Denn weder Geld noch diese "Strafe" führen zu einem modus vivendi von Opfer und Täter. Beide verharren in gegenseitiger Schuldzuweisung und Hass ohne die geringste Chance von Aussöhnung und (partieller) Wiedergutmachung.
Das ist nun das andere Extrem, das leider in unserer Rechtsprechung sehr beliebt ist und sicher mit dafür sorgt, dass viele Leute solche Praktiken wie die Scharia in anderen Ländern gutheißen.
Wieso sollte der Täter (!) in Schuldzuweisung und Hass gegenüber dem Opfer verharren? Wer hat den wen geschädigt, und wer hat denn überhaupt das Recht, auf den anderen wütend zu sein? Ich verstehe nicht, warum du hier Täter und Opfer auf eine Stufe stellst! Der Täter hatte (es gibt sicher Ausnahmen, aber diese festzustellen, ist Aufgabe des Gerichts) die Wahl, das Opfer dagegen ist plötzlich in die Situation gekommen und war ihm ausgeliefert. Das sollte doch wohl nicht weggeredet werden! Auch wenn es gerade modern ist, bei Konflikten jeder Art die Schuld auf beide zu verteilen.
Und warum „muss“ das Opfer das Leid verarbeiten und seinen Hass „mildern“, soll sich also mit Gewalt zur Vergebung und „Verarbeitung“ zwingen? Weil Psychologen das behaupten? Oder weil (was wahrscheinlicher ist) die Umwelt nicht wahrhaben will, dass viele Täter nur aus Langeweile oder aus Spaß an der Freude handeln und sie nicht immer irgendwelche tiefenpsychologischen Gründe haben, für die jeder (Nichtbetroffene) Verständnis hat – und weil es die heile Welt der Nicht-Betroffenen ins Wanken bringt, nach der jeder, auch der größte Sadist, eigentlich lieb und gut ist und nicht der Täter, sondern das Opfer stört? Sei es, weil es nicht verhindern konnte, dass es zum Opfer wurde, oder weil es sich darüber aufregt?
Diese Sicht ist leider in unserer Gesellschaft sehr verbreitet und fängt spätestens im Kindergarten an. Dabei ist sie genauso unfair und menschenfeindlich wie die Rechtsprechung mit Körper- und Todesstrafen. Nur gegenüber der anderen Partei, dem Opfer.
Der Täter hat das Recht auf menschenwürdige Behandlung und Schutz vor Lynchjustiz. Darum bin ich gegen solche Praktiken wie die Scharia. Trotzdem muss klar bleiben, dass er ein Verbrechen begangen hat, für das er – möglichst mit Wiedergutmachung – geradezustehen hat. Und genauso sollte es klar sein, dass das Opfer jedes Recht auf Wut und Kummer hat, und dass es seine (des Opfers) Entscheidung sein sollte, ob und wann es dem Täter verzeihen will (oder auch nicht) und nicht die der Umwelt. Psychischer Druck durch die Umwelt auf das Opfer, weil diese Umwelt mit der Wahrheit, dass es eben Gewalt und Grausamkeit gibt, nicht fertig wird, ist eine zusätzliche Demütigung des Opfers.