06-02-2014, 11:04
(06-02-2014, 00:01)Ulan schrieb: Das ist so nicht korrekt, zumindest fuer mich. Ich z.B. benutze den Begriff "Wahrheit" in diesem Zusammenhang nicht, weil er, wie Du korrekt anmerkst, etwas anderes meint als ob der Text historische Begebenheiten beschreibt. Insofern hat das "wahr" in "wahre Begebenheiten" nichts mit dieser Art Wahrheitsbegriff zu tun, wie er fuer die Ermittlung von Glaubensinhalten benutzt wird.Darum hatte ich das Wort auch in Gänsefüßchen gesetzt. Gerade narrative Texte in heiligen Schriften z.B. werden ja schlicht dadurch wahr, daß man als Leser in den Text hineingenommen wird. Das geht ja in der Bibel selbst schon los (z.B. Anweisungen für den Maggid).
Wahrheit ist also ein vielschichtiger und -deutiger Begriff, und eine Einengung auf die Frage der Historizität dient weder der Verifikation noch der Falsifikation von Glaubensinhalten. Das ergäbe ja auch kaum einen Sinn. Schließlich kenne ich niemanden, der mal von dem Wein probiert hätte, von dem Jesus auf der Hochzeit zu Kana aus Wasser große Mengen hergestellt haben soll. Das Zeug ist also längst ausgetrunken oder schlecht geworden. Was also hätten wir davon, wenn der Bericht der historischen Wahrheit entspricht?
Zitat:Das war dann nicht mehr moeglich, sobald ein Text einen Status als "heilige Schrift" erreicht hatte. Aus einer "heiligen Schrift" loescht man nicht einfach etwas heraus. Das kann man nur machen, bevor sie diesen Status erreicht hat.Völlig richtig. Aber nun können wir ja kaum davon ausgehen, daß die diversen Phasen der Redaktion jeweils mit dem Ziel einer Kanonbildung erfolgten.
Zitat:Das Diatesseron war so lange okay, als die Texte des spaeteren Neuen Testament noch keinen hohen Stellenwert hatten. Sie wurden geschaetzt, aber waren keine "heilige Schrift". Dass das Diatesseron aus der Mode kam, hatte schlicht Legitimationsgruende. Sobald man den Anspruch erhob, dass nur Texte von tatsaechlichen Zeugen oder ihrer mutmasslichen Schreiber erlaubt waren, musste Tatians Text verschwinden, da hier offensichtlich war, dass dieser keinen apostolischen Ursprung hat. Das ist reine Religionspolitik, sonst gar nichts.Momeeent! Nicht so schnell! Das Diatessaron war mehrere Jahrhunderte lang in der syrischen Christenheit die Normalversion des Evangeliums, bis es wahrscheinlich von Bischof Rabbula (im Amt 411/2-435) abgeschafft wurde. Dafür kursieren zwei Erklärungen: Entweder eben, daß Tatian als Häretiker galt und sein Diatessaron darum nicht mehr tragbar war, oder ein Bestreben Rabbulas, den in Edessa gängigen Kanon an den der Gesamtkirche anzugleichen. Wobei das eine das andere ja nicht ausschließt. Um 423 soll dann Theodoret von Kyrrhos ca. 200 Diatessaron-Manuskripte gesammelt und vernichtet haben, weil er darin einen häretischen Text erblickte.
So weit, so gut. Klar, die Ereignisse in Edessa stehen in einer gewissen zeitlichen Nähe zum Abschluß der neutestamentlichen Kanonbildung in der zweiten Hälfte des 4. Jh., aber als Reaktion auf diese Entwicklung könnte man höchstens Theodorets Aktion betrachten. Die vorher schon von Edessa ausgehende Zurückdrängung des Diatessarons dürfte eher darin begründet sein, daß Rabbula ganz allgemein versuchte, die in der Region herrschenden Häresien zurückzudrängen. Und dazu gehörte dann anscheinend eben auch alles, was nach Tatian roch, obwohl der ja eigentlich nie offiziell als Häretiker verurteilt wurde.
Zitat:Wie gesagt, wenn Du fuer das Lukas-Evangelium nicht ein Entstehungsdatum in der spaeten zweiten Haelfte des 2. Jahrhunderts annimmst, stammt auch dies noch aus einer Zeit, als an den spaeteren NT-Texten noch heftig herumeditiert wurde, im Kampf um die Deutungshoheit.Eine Entstehung des Lk-Ev in der späten Hälfte des 2. Jh. ist allein schon wegen des Markion-Kanons kaum wahrscheinlich.
Zitat:Es gab nur eine heilige Schrift: die Septuaginta. (...) Wenn also irgendjemand um diese Zeit etwas schrieb, so war er sich sicherlich dessen bewusst, dass das Rennen darum, was irgendwann fuer die noch werdende Kirche mal heilige Schrift werden koennte, noch voellig offen war.Das setzt voraus, daß die neutestamentlichen Autoren mit der Intention schrieben, den etablierten Kanon (also die Septuaginta) zu erweitern. Was legt eine solche Annahme nahe? Wenn ich richtig sehe, entsteht die Idee eines spezifisch christlichen, über LXX hinausgehenden Kanons doch erst bei Markion.
Zitat:Die Spaerlichkeit der Texte, die Du erwaehnst, hatte ja auch umgekehrt den Vorteil, dass man Missliebiges recht einfach aus der Zirkulation entfernen konnte. Die gegenseitigen Verfaelschungsvorwuerfe der verschiedenen Lager im spaeten 2. Jahrhundert sprechen Baende.Ganz so einfach stelle ich es mir nicht vor, spärlich kursierende Texte zu eliminieren. Dazu braucht es schon einen langen Arm. Wer soll den im 1. Jh. gehabt haben? Und Fälschungsvorwürfe aus dem späten 2. Jh. liegen auch lange nach der Abfassung der Evangelien, sagen also nichts über die Intention der Autoren aus.
