06-02-2014, 11:57
(06-02-2014, 11:04)Scheingreis schrieb: Völlig richtig. Aber nun können wir ja kaum davon ausgehen, daß die diversen Phasen der Redaktion jeweils mit dem Ziel einer Kanonbildung erfolgten.
Kanonbildung ist zweitrangig, erst einmal geht es um Deutungshoheit (wie gesagt, der Hauptstreitpunkt zwischen den kanonischen Versionen ist die Christologie). Wer es schafft, die bevorzugte Version zu erstellen, wird es irgendwann mal dazu gebracht haben, bei einer eventuellen Kanonwahl ganz vorne mitzuspielen, egal welches formale Kleid diese Kanonwahl jetzt hat. Dass dann Irenaeus es irgendwie schaffte, seine Vorstellung einer Vierzahl durchzusetzen, konnte beim Schreiben ja noch niemand wissen; ausser vielleicht dem Schreiber des Johannes-Evangeliums, der sich zumindest Muehe gab, es von den simpleren Editierungen abzuheben.
(06-02-2014, 11:04)Scheingreis schrieb: Die vorher schon von Edessa ausgehende Zurückdrängung des Diatessarons dürfte eher darin begründet sein, daß Rabbula ganz allgemein versuchte, die in der Region herrschenden Häresien zurückzudrängen. Und dazu gehörte dann anscheinend eben auch alles, was nach Tatian roch, obwohl der ja eigentlich nie offiziell als Häretiker verurteilt wurde.
Religionspolitik eben, wie gesagt.
(06-02-2014, 11:04)Scheingreis schrieb: Eine Entstehung des Lk-Ev in der späten Hälfte des 2. Jh. ist allein schon wegen des Markion-Kanons kaum wahrscheinlich.
Ich sehe es auch als unwahrscheinlich an, das Lukas-Evangelium in die 2. Haelfte des 2. Jahrhunderts zu verlegen, obwohl ich Deine Begruendung nicht teile. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das Lukas-Evangelium, zumindest in seiner kanonischen Form, nach Markions Evangelikon geschrieben wurde, auch wenn Markion wahrscheinlich schon eine Vorlage hatte, die er seinerseits editiert hatte. Markions Beschwerde, die Orthodoxen haetten seine Texte genommen und umgeschrieben, hat wahrscheinlich einen wahren Kern; Lk-Apg liest sich einfach zu sehr als eine Reaktion auf Marcionismus. Dass die Vulgate noch ewig Marcions Vorworte zu den Paulus-Briefen enthielt, weist auch in die Richtung, dass seine Texte vollstaendig (ausser den Antithesen natuerlich) in den Kanon integriert wurden, nach heftigem Editieren, versteht sich. Falls Du dann Schwierigkeiten mit der Datierung siehst, nimm einfach mal an, dass Marcions Schriften wahrscheinlich schon geschrieben waren, als er in Rom vorstellig wurde.
(06-02-2014, 11:04)Scheingreis schrieb:Zitat:Es gab nur eine heilige Schrift: die Septuaginta. (...) Wenn also irgendjemand um diese Zeit etwas schrieb, so war er sich sicherlich dessen bewusst, dass das Rennen darum, was irgendwann fuer die noch werdende Kirche mal heilige Schrift werden koennte, noch voellig offen war.Das setzt voraus, daß die neutestamentlichen Autoren mit der Intention schrieben, den etablierten Kanon (also die Septuaginta) zu erweitern. Was legt eine solche Annahme nahe? Wenn ich richtig sehe, entsteht die Idee eines spezifisch christlichen, über LXX hinausgehenden Kanons doch erst bei Markion.
Klar, Marcion war der Ausloeser. Deshalb war meine Formulierung etwas vorsichtiger, und bei "Kanon" geht's zunaechst erst einmal darum, was in den Gemeinden vorgelesen wurde, ob nun hl. Schrift der nicht.
(06-02-2014, 11:04)Scheingreis schrieb: Ganz so einfach stelle ich es mir nicht vor, spärlich kursierende Texte zu eliminieren. Dazu braucht es schon einen langen Arm. Wer soll den im 1. Jh. gehabt haben? Und Fälschungsvorwürfe aus dem späten 2. Jh. liegen auch lange nach der Abfassung der Evangelien, sagen also nichts über die Intention der Autoren aus.
Du kannst zunaechst einmal dadurch eliminieren, dass Du konkurrierende Texte im Gebrauch verdraengst, was dazu fuehrt, dass diese nicht mehr kopiert werden. Der andere Punkt ist einer, wo wir schlicht anderer Meinung bezueglich der Form und der Konstanz der Ueberlieferung sind. Ich gehe, wie gesagt, davon aus, dass die Texte bis mindestens Mitte des 2. Jahrhunderts im Fluss waren und staendig geaendert wurden, je nach Absicht des Autor-Kopisten. Matthaeus und Lukas sind ja die besten Beispiele von Kopisten, die dem Text ihre eigene Form gaben, und Marcion gehoert auch dazu, wie auch viele andere, z.B. das Petrusevangelium, das wohl auch meist viel zu spaet datiert wird.