04-04-2021, 12:01
(04-04-2021, 11:01)Geobacter schrieb: Darin, auch in unserer Zeit noch immer eine kosmisch hehere Ordnungstheorie (Gerechtigkeitsprinzip in dem sich ein göttlicher Wille offenbart) erkennen zu meinen, ist nichts anderes als Ausdruck einer besonders außergewöhnlichen "bescheuert-Seins" (oftmals Künstler).. oder auch eines ansonsten (außerhalb der Kunst) geistig wenig überzeugenden Da-Seins im Hier und Jetzt (Gegenwart/Realität)
Hallo Geobacter,
... wer von Gegenwart/Realität sprechen will, sollte beachten, dass dieses Thema sehr umfassend ist!
Thilo Hagendorff meint dazu:
Was gibt es? Was existiert? Was ist real?
Diese Fragen scheinen auf den ersten Blick einfach zu beantworten. Real ist das, was ich anfassen und wahrnehmen kann. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass es sich mit der Frage nach der Realität viel komplizierter verhält. Ist das, was ich wahrnehme, auch gleichzeitig die Realität, oder nur ein gefühltes, subjektives Phänomen?
Es gibt im Alltag durchaus eine grobe Übereinkunft darüber, was Realität sein könnte. Haben wir damit bereits eine Definition von Realität gefunden? Keineswegs. Zwei Phänomene haben in den vergangenen Jahren neue Fragen aufgeworfen, die unser alltägliches Verständnis von Wirklichkeit an seine Grenzen bringen: Zum einen gibt es nun die virtuelle Realität. Technologische Entwicklungen ermöglichen es, digitale Wirklichkeiten so zu simulieren, dass wir sie so real wie die nicht-virtuelle Welt erleben können. Eine ganz andere, gesellschaftlich höchst brisante Entwicklung ist die Verbreitung von sogenannten Fake News, die zwar auf Fiktionen beruhen, medial aber neue Wirklichkeiten kreieren.
Die virtuelle Realität (VR) und ihre Technologie ist seit ihrer Entwicklung verstärkt auch Gegenstand philosophischer Überlegungen geworden. Dabei geht es primär um die Frage, was es eigentlich bedeutet, dass Realität virtuell ist. Mit dem Adjektiv virtuell soll typischerweise eine künstliche, nicht-reale Realität beschrieben werden. Diese virtuelle Realität hat lediglich den Status einer ergänzenden Repräsentation von Realität. Was virtuell ist, ist vermeintlich nicht real, sondern eine Simulation oder ein Modell von Realität.
Faktisch ist die Idee der Ununterscheidbarkeit zwischen nicht-virtueller und virtueller Realität noch ein bloßes Gedankenspiel, dessen technische Realisierung rein spekulativ ist. Jeremy Bailenson, einer der bekanntesten Forscher auf dem Gebiet der virtuellen Realität, geht dennoch davon aus, dass bereits in zehn bis zwanzig Jahren die visuelle Differenzierung zwischen virtueller und nicht-virtueller Realität kaum noch möglich sein wird. Auch der VR-Forscher Michael Heim spricht vom „Paradox der Virtualität“: Demzufolge ergibt der Ausdruck „virtuelle Realität“ auf einer sensorischen Ebene umso weniger Sinn, je mehr sich diese der natürlichen Realität angleicht.
Heutzutage ist die Aufforderung, die Pluralität der Realitätsentwürfe zu steigern, medial realisiert worden – und die Folgen des Relativismus zersetzen weltweit die Errungenschaften demokratisch verfasster Staaten. Verzerrte, falsche oder ideologisch verdrehte Nachrichten, die über Messenger, Groups oder automatisiert durch Bots und Personalisierungsalgorithmen verbreitet werden, werden millionenfach abgerufen und gelesen.
Bei Diskussionen um Fake News erlangt die alte philosophische Idee einer tatsächlichen, eigentlichen Realität, die lediglich angemessen erkannt werden muss, um Fakt von Fiktion trennen zu können, wieder an Relevanz. Allein schon die Bezeichnung Fake News belegt eine Perspektive, aus der vermeintlich objektiv erkannt werden will, wie es um die Tatsachen bestellt ist.
Wie so häufig ist die Antwort also weder schwarz noch weiß: Menschen leben weder – wie im Film Matrix dargestellt – ahnungslos in verschiedenen virtuellen Realitätssimulationen, noch können sie qua Sprache oder Beobachtung eindeutig auf eine objektive Realität zugreifen. Stattdessen bedarf es eines pragmatischen Ansatzes, in welchem zwei fundamentale Sachverhalte anerkannt werden: Erstens, dass Wirklichkeit gesellschaftlich konstruiert ist. Und zweitens, dass es dennoch nicht völlig beliebig sein darf, was Wahrheit und was Fiktion sind. Anders als relativistischen Positionen postulieren, braucht es einen gewissen Bestand kollektiv geteilter Auffassungen über das, was wirklich und real ist.
(Thilo Hagendorff ist Medienethiker und arbeitet als Postdoc am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften an der Universität Tübingen.)
Gruß von Reklov

