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Tacitus und Sueton - im Mittelalter erfunden?
#5
(09-01-2022, 21:51)Helmut-Otto Manning schrieb: Die Überlieferungen haben einen solchen zeitlichen Abstand zu den behaupteten Autoren, dass Zweifel angebracht sind.
Bei Tacitus hat sich sogar der sensationelle "Fund" in nichts aufgelöst. Nur die "Abschrift" Poggios ist noch da!

Manning

Eine knappe Widerlegung der Fälschungshypothese, was Tacitus betrifft, hat Roger Pearse online gestellt: *https://www.tertullian.org/rpearse/tacitus/ Seine Argumentation ist zwingend; obwohl sie keineswegs alles umfasst, was sich dazu vorbringen ließe, reicht sie doch völlig aus, ein overkill muss nicht sein. Wer einen solchen dennoch für nötig hält, findet das einschlägige Material bei Clarence Mendell: Tacitus, the man and his work, New Haven 1957. Die Vorstellung, dass großer zeitlicher Abstand zwischen der ältesten handschriftlichen Überlieferung und der Lebenszeit des Autors per se einen Grund für Zweifel an der Qualität der Überlieferung und der Echtheit des Werks oder gar der Historizität des Autors bilde, ist methodisch grundfalsch; das ist vor-lachmannsches philologisches Denken und als solches seit mehr als anderthalb Jahrhunderten überholt und aus der philologischen Wissenschaft verbannt. Das Prinzip, das dem wissenschaftlich definitiv etablierten, vielhundertfach als zutreffend erwiesenen Grundsatz recentiores non deteriores zugrunde liegt, ist in einem Fall wie diesem sinngemäß analog anzuwenden. Dass Poggios Fund (der Hersfelder Codex) sich "in nichts auflöste", d.h. verschollen ist, ist nicht verdächtig, sondern ganz normal: Manche Humanisten pflegten eine mittelalterliche Handschrift, nachdem sie den Text kopiert (und emendiert) hatten, wegzuwerfen oder zumindest zu verschlampen, denn die Idee war, dass man den Text ja nun hatte. Unzählige mittelalterliche Handschriften sind aus verschiedensten Gründen noch in der Neuzeit zerstört worden oder verschollen. Somit ist am Verschwinden des Hersfelder Codex gar nichts verdächtig. Außerdem befindet sich die Stelle, wo Tacitus auf Christus und die Christen Bezug nimmt, im 15. Buch der Annales und ist im Text dieses Buchs im Codex Laurentianus 68.2 (fol. 38r) überliefert, der paläographisch ins 11. Jahrhundert datiert werden kann, also keinesfalls von Poggio angefertigt wurde. Was sich "in nichts auflöst", ist somit nicht die Hersfelder Handschrift, sondern die Hypothese, das Werk des Tacitus sei eine Fälschung. Analoges ließe sich für Sueton und Josephus zeigen, aber ich will nicht weitschweifig werden. Das Beispiel Tacitus ist instruktiv genug. Es zeigt (wie so oft): Das seit langem etablierte Standardkonzept der seriösen Forschung ist sehr solid begründet und die Alternativhypothese erweist sich schnell und aus vielen Gründen als Luftschloss.

Wobei übrigens die Idee, nicht einfach nur die Stelle auf fol. 38r als Interpolation zu erklären, sondern gleich alle Werke des Tacitus und ihn selbst als historische Person ins Reich der Fiktion zu verbannen, die Alternativhypothese ganz besonders angreifbar macht. Insoweit es um die Christus-Stelle geht, ist die Interpolationshypothese natürlich weit eleganter, jedenfalls nicht auf Anhieb als absurd abzuweisen; aber auch sie ist widerlegt, siehe die von mir genannte Literatur. 

Es geht mir hier nicht nur um das Spezialthema Tacitus und Annales 15,44. Der Fall ist exemplarisch als "Zusammenstoß" zwischen einem etablierten, von den Fachleuten allgemein akzeptierten Standardmodell und einer neuen Alternativhypothese, die das Standardmodell vom Tisch wischen soll, was bewirken würde, dass Lehrbücher und Schulbücher neu geschrieben werden müssten - eine Revolution. Solche Zusammenstöße enden gewöhnlich mit dem Sieg des etablierten Konzepts. Und das eben nicht, weil die Professorenzunft reflexartig etwas Neues ablehnt, insbesondere wenn es von einem Außenseiter kommt. Vielmehr ganz einfach, weil die Vertreter des etablierten Konzepts die besseren Argumente haben, methodisch sattelfester sind und sich in den Details besser auskennen. Dabei lebt Wissenschaft von Kritik, auch kühner und fundamentaler Kritik, die auch Grundlagen in Frage stellt. Solche Kritik kann durchaus Fortschritt bringen. Daher sollten Außenseiterhypothesen willkommen sein. Das Problem ist nur, dass sie sehr oft - und da ist der Fall Tacitus ein typisches Beispiel - miserabel begründet sind. Da ein Fachwissenschaftler das schnell erkennt, macht er sich gewöhnlich nicht die Mühe einer Widerlegung, denn das erscheint ihm als Zeitverschwendung. Sein Misstrauen gegen Außenseiter wächst durch solche Erfahrungen. Der Außenseiter seinerseits betrachtet das als Arroganz einer Gelehrtenkaste, die keine Irrtümer zugeben wolle und den Dialog verweigere. So verfestigen sich die Haltungen auf beiden Seiten. Wer ist daran schuld? Meines Erachtens hauptsächlich diejenigen Außenseiter, die sich nicht einmal die Mühe machen, die vorhandene Fachliteratur und Quellenlage gründlich und unvoreingenommen zu studieren, aber ihrerseits von den Fachleuten erwarten, dass die sich mit der Außenseiterhypothese gründlich auseinandersetzen.
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RE: Helmut-Otto Manning stellt sich vor - von Apollonios - 10-01-2022, 00:02

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