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Der mesopotamische Ursprung der biblischen Sintflut-Geschichte
#9
(26-02-2022, 02:42)Ulan schrieb:
(26-02-2022, 01:11)Balsam schrieb: Aber eben nur fast. Der Sinngehalt von Gen 8,21 hat sich gegenüber Gen 6,5 geändert, den dieses "von Jugend an", welches hinzugekommen ist, gibt einen Hinweis darauf, womit das zusammenhängt, was Gott hier als das böse Trachten des Menschen ansieht. Der Mensch an sich trachtet nicht "immer" nach dem Bösen, der Mensch ist also nicht an sich böse - was man in Gen 6,5 noch vermuten könnte - sondern jetzt erfährt der Leser vom Autor, dass der Mensch nur "von Jugend an" nach dem Bösen trachtet.

David Clines hat sich schon mit typischen theologischen Erklaerungsversuchen in den Kommentaren auseinandergesetzt (in dem spezifischen Fall zitiert er Skinner), und er haelt diese Unterscheidung in der Tat fuer bedeutungslos, da die Aussage immer noch ist, dass der Mensch ganz allgemein boese ist.
Mein Erklärungsversuch gehört nicht in die Kategorie typischer, theologischer Erklärungsversuch, weil er neu zu sein scheint. Jedenfalls konnte ich in typischer, theologischer Literatur nichts finden, das meiner Argumentationslinie nahe kommt. Zum Menschen ganz allgemein gehört auch der Mensch als Kind vor der Geschlechtsreife.
Zitat:Gen 6,9
Das ist die Geschlechterfolge nach Noach: Noach war ein gerechter, untadeliger Mann unter seinen Zeitgenossen; er ging mit Gott.

Hier steht die Aussage dass Noach ein gerechter, untadeliger Mann unter seinen Zeitgenossen war im unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Geschlechterfolge (3. Toledotformel im AT, "amtlich" formuliert, ohne namentliche Erwähnung von Frauen), die im Gegensatz zu Kains Stammbaum steht (keine Toledotformel, nicht in "amtlicher" Form verfasst, mit namentlicher Erwähnung von Frauen).

Es geht allein schon wegen dem Stammbaum Kains und der Geschlechterfolge Adams (2. Toledotformel im AT) nicht mehr um den
Menschen an sich. Kain gehört nicht zur Geschlechterfolge Adams, obwohl er der erstgeborene Sohn Adams ist. Biologisch, genetisch, ethnologisch müsste er im Geschlechtsregister Adams stehen - so ist es aber nicht. Er bekommt vom Autor aus theologischen und aus literarischen Gründen einen eigenen Stammbaum verpasst, um das Thema "Mischehe und ihre Folgen" einzuführen. Die Situation vor und nach der Sintflut hat sich nicht nur in Bezug auf die Ursache der kultischen Unreinheit im Land verändert, sondern auch in Bezug auf die Folgen: Vor der Sintflut gibt es Polytheismus im Land danach den Monotheismus.

Es geht nicht um die Schöpfung der Welt, des Universums, des Kosmos oder der Erde - sondern um die Schöpfung des Menschen und seiner Frau im Land des Judentums - eretz jisrael. Das AT beginnt mit den Worten: Im Anfang schuf Gott Himmel und Land (eretz). Von unserer modernen "Erde" kann zur Zeit der Abfassung nicht die Rede sein, nirgends im Altertum, auch nicht in Mesopotamien. Ich wundere mich immer über die Historiker, die bei allen Schöpfungserzählungen der Welt durchgängig von "der Erde" sprechen, ohne zu merken, dass sie da ihr eigenes Weltbild in die alten Erzählungen hineintragen.

Eretz ist das Land im Gegensatz zum Himmel und dem Wasser (Meer) im dreiteiligen Weltbild des alten Orients. "Gottes Geist schwebte über dem Wasser" hat natürlich auch mesopotamischen Ursprung: Man braucht sich nur Marduk ansehen, wie er über der von ihm besiegten Tiamat, dem Meer, Ur- bzw. Chaosozean "schwebt". Aus christlicher Sicht ist eretz als Land zu wenig universal - nur gab es die christliche Weltreligion damals noch lange nicht, sondern nur Volksreligionen. Für viele mag die Sintfluterzählung ein ethisches Problem aufwerfen, für eine Volksreligion gibt es dieses ethisches Problem aber gar nicht.

Genozide sind das tägliche Brot einer Volksgottheit damals, business as usaual, denn wenn es einem Kriegsgott gelingt, ein feindliches Volk zu vernichten, ist er für das eigene Volk die Barmherzigkeit in Person und niemand würde ihm ethische oder moralische Vorwürfe machen, dass er das Land in dem man wohnt erfolgreich verteidigt oder vergrößert hat.

Es gab damals keine Planeten und darum war das Land unter den Füßen der Menschen kein Planet Erde. Unsere Planeten gehörten zu den Sternen der damaligen Menschen - auch im AT ist eretz - "die Erde" in unseren deutschen Übersetzungen - kein Teil des Himmels, eretz ist kein Himmelskörper sondern das Land - zuerst in der Tiefe des Urozeans, des Chaoswassers das nasse Land, später nach der Erschaffung des Himmels das trockene Land (Gen 1,10). Es gibt im AT nur darum eine "weltweite" Sintflut, weil wir unser modernes Weltbild beim Lesen nicht aus den Köpfen bekommen, und darum eretz häufig mit Erde statt Land übersetzen. Wir wollen es theologisch auch universal verstehen. Schließlich haben Christen den Auftrag alle Völker zu Jüngern zu machen - im Gegensatz zur Volksreligion Judentum, dessen Heilige Schrift nur einem einzigen Volk die theologische Grundlage für seinen Glauben liefern sollte. 

Im Mythos der biblischen Sintflutgeschichte wird ein wichtiger Teil der Geschichte des Judentums dargestellt. Das babylonische Exil und der Übergang vom Polytheismus zum Monotheismus theologisch verarbeitet - und das hat mit den aus Mesopotamien stammenden Bildern bestimmt nichts mehr zu tun. Darin liegt meiner Meinung nach der Sinn dieser Erzählung. Vor dem Exil (im Bild der Arche) war die Religion im Land Israel polytheistisch, später höchstens eine Monolatrie aufgrund der vielen Mischehen und daher kultisch unrein. Nach dem Exil wurden die Mischehen im Land aufgelöst (Esra, Nehemia) und im Land erstmals eine monotheistische Religionsform gelebt. Der Haken am Monotheismus ist, dass dieser Gott den Ausgang aller Kriege bestimmt, und daher muss unbedingt eine Erklärung her, warum das Land erst von den Assyrern, später von den Babyloniern "überflutet" wird, und dadurch alle Kultstätten auf den höchsten Bergen der Erde des Landes "untergehen" - die Kulthöhen im Nordreich Israel und der 1. Tempel in Juda auf dem Tempelberg in Jerusalem, in welchem der Name des Höchsten wohnte. 

JHWH ist gerecht, daher die Strafe der "Sintflut" aber er ist auch barmherzig, indem er sein auserwähltes Volk sogar noch fern des eigenen Landes rettet (Arche bzw. Exil). Schuld an den verlorenen Kriegen hatte immer das eigene Volk, welches durch seine kultische Untreue den gerechten Zorn Gottes auf sich zog - Gott ist seinem Volk barmherzig, rettet es durch das Exil und bringt es wieder ins verheißene, trockene Land zurück und lässt es den 2. Tempel bauen. Das Problem mit mehr als einer Kultstätte auf der Erde im Land beginnt vor der Sintflut schon bei Kain und Abel, gelöst ist es nach der Sintflut beim Opfer Noachs für alle, da es nach der Sintflut nur eine einzige Kultstätte auf der Erde im Land gibt. So wird in der biblischen Urgeschichte in mythologischen Bildern, die historische, theologisch gedeutete Geschichte des Judentums transportiert - als Einleitung ins AT. 

So verstanden ist die Urgeschichte kein Mythos der historisiert wurde, sondern umgekehrt historische Geschichte, die mythologisiert wurde um die eigene Situation verstehen und zu erklären, so gut es eben gerade mit den zur Verfügung stehenden Mitteln der Zeit geht. Jeder Mythos hat insofern einen Wahrheitsgehalt in Bezug zur erlebten Realität der jeweiligen Kultur, die er trägt. Ich finde die Sintfluterzählung ziemlich genial - aus Sicht dieser Volksreligion. Das ethische Problem dieses Gottesbildes existiert für uns nur deshalb, weil wir es nicht im historischen Kontext der damaligen Zeit und der ihr eigenen Weltanschauung und Ethik verstehen. Ist es sinnvoll aus der Sicht einer aktuellen Weltanschauung - welcher auch immer - den Stab über Weltanschauungen der Vorzeit zu brechen? Diese Menschen taten auch nichts anderes als wir heute: versuchen zu verstehen, was gerade abgeht in der eigenen Lebensgemeinschaft im Kontext zur sie umgebenden Umwelt. Jede Ethik scheint mir immer kontextbezogen zu sein. Sie bewährt sich da, wo sie zum Tragen kommt - oder auch nicht mehr, weil sich die Umstände geändert haben. 

Religionsgeschichtlich finde ich das interessant, wie sich aus Stammesreligionen Volksreligionen, und aus diesen Weltreligionen entwickelt haben. JHWH ist Derselbe aber das Gottesbild ist nicht das Gleiche. Im selben Maße änderten sich auch die ethischen Werte. Aus der Perspektive von übermorgen, werden wir mit all unseren unterschiedlichen Weltanschauungen und Ethiken heute vermutlich auch ziemlich fragwürdig erscheinen.

Soweit ich das Forum bisher mitbekommen habe, dreht es sich um weltanschauliche Fragestellungen auf der Suche nach Antworten. Eine allgemein akzeptierte Antwort scheint sich partout nicht herauskristallisieren zu wollen. Hoffentlich bleibt das so, dass jeder und keiner Recht behält im Dialog, der unabhängig von einem einvernehmlichen Ausgang selbst einen Wert darstellt.


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RE: Der mesopotamische Ursprung der biblischen Sintflut-Geschichte - von Balsam - 26-02-2022, 16:13

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