(05-09-2024, 20:08)Geobacter schrieb: Was sind freie Entscheidungen? Jeder Vogel stirbt, wenn er kein Futter findet. Keine Frau wird sich aus freiem Willen dafür entscheiden, überfallen und vergewaltigt zu werden. Aber sie wird sich vielleicht entscheiden, alle möglichen Vorkehrungen zu treffen, nicht in eine solche Notsituation zu geraten. Nur ist das in jedem Fall zu 100% ihre freie Entscheidung.
Du wirst jetzt sicher sagen, ja aber...
....weil sie doch wisse, dass die Wahrscheinlichkeit als Frau Opfer einer Vergewaltigung zu werden relativ hoch ist, ist ihre Entscheidung dennoch nicht frei.
Ich meine... dass weil es aber doch wieder auch sehr viele Frauen gibt die viel zu wenig, oder überhaupt keine solche Vorkehrungen treffen, kann man sich jetzt zu 100% frei für die eine oder andere Meinung entscheiden...
Dazu ein Schopenhauer-Zitat:
"Jedem Willensakt geht ein zureichender Grund voran. Jedes Wollen hat Ursachen und ist somit kausal bedingt. Ohne einen zureichenden Grund kann der Willensakt nicht eintreten und ist der zureichende Grund da, dann muss der Willensakt eintreten".
Dieses Zitat ist in dem Sinne genial, als dass es wirklich das ganze Problem der (nicht vorhandenen) Willensfreiheit sehr anschaulich auf den Punkt bringt. Jede Entscheidung basiert auf einer Kausalkette, die wie weit zurück reicht? Bis vor zwei Stunden? Bis vor zwei Wochen? Bis vor zwei Jahren? Bis zu unserer Geburt? Bis zur Geburt unserer Eltern? Unserer Großeltern? ... und so weiter, bis wohin? Zur Entstehung der Menschheit? Entstehung der Erde? ... Letztlich bis zum Urknall. Erst dort trifft man auf eine Singularität, was keineswegs bedeutet, dass dort die Kausalkette beginnt. Vielleicht können wir einfach ab dort keine Kausalkette mehr erkennen, aber sie geht dennoch weiter.
Der zweite Teil des Zitats beschreibt dann sehr anschaulich, warum die Entscheidung nicht nur auf einer sehr langen, vielleicht sogar endlosen bzw. anfangslosen Kausalkette beruht, auf die wir keinen Einfluss haben, sondern dass sie auch in keinem Fall als "frei" bezeichnet werden kann: Denn ohne einen zureichenden Grund kann keine Entscheidung getroffen werden, aber ist der zureichende Grund da, dann muss der Willensakt eintreten. Wo ist da die Freiheit?
Ich denke, es läuft immer wieder darauf hinaus, dass die Leute den Begriff "frei" hier leichtfertig verwenden. Niemand stellt in Abrede, dass es so etwas wie persönliche Entscheidungen oder individuelle Entscheidungen gibt. Der eine plant stets alles millimetergenau voraus, der andere ist ein Chaot und lebt in den Tag hinein. Beide werden sehr, sehr unterschiedliche Entscheidungsprozesse haben, die zu ihren Willensakten führen, aber Freiheit ist da nirgends, ganz im Gegenteil. In diesem Beispiel diktiert der Charakter (Vorausplaner oder Chaot) die Willensentscheidung. Den Charakter sucht man sich nicht aus, der ergibt sich aus der angeborenen Genetik, der elterlichen Erziehung, der Kultur, in der man aufwächst und darüber hinaus aber auch individuellen Erlebnissen und eventuellen Schicksalsschlägen. Ich kann einfach nirgendwo Freiheit in der Willensbildung erkennen und je genauer man sich damit befasst, umso weniger Freiheit findet man da.