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Nietzsche
#16
melek schrieb:Ich glaube, daß ihr Nietzsche ein wenig beschönigt.


Ich selber bemühe mich, ihn in allen seinen Facetten zu erfassen. Ich habe ihn – ist allerdings schon länger her - sehr gründlich studiert, sein (ziemlich umfangreiches) Gesamtwerk inklusive der Briefe in chronologischer Reihenfolge komplett durchgelesen, um herauszufinden, was sein Grundanliegen ist. Diese Prozedur habe ich zweimal gemacht, in Abstand von vielleicht zehn Jahren oder so.

Man muss – wie bei jedem Philosophen – seine Sprache und Begriffswelt erst einmal erfassen, um zu wissen, was er mitteilen will.


Zitat:Seine Lehre war absolut radikal. Er setzte sich nichts anderes zum Ziel als die Umwertung aller Werte.


Doch, er hatte auch andere Ziele. Allein in der von Dir erwähnten „Götzendämmerung“ sind weitaus mehr sichtbar als nur die eine.

Und was Nietzsche mit „Umwertung aller Werte“ meint, ist schon sehr spannend. Ausgangspunkt sind in vielen Fällen bei ihm die christlichen und die christlich-philosophischen Werte.
Es lohnt sich, sich damit zu befassen. In der „Götzendämmerung“ behandelt er das Thema noch einmal, und vielleicht kommen wir darauf noch zu sprechen.


Zitat:Er lehnte jegliche Moral - verstanden als Einschränkung von Trieben, also Zähmung der "Bestie" Mensch - ab.


Er lehnt nicht „jegliche“ Moral ab, sondern die scheinheilige. Das sieht man in fast jeder seiner Schriften. Er lehnt ab, die Menschen zu „bewerten“, sondern versucht philosophisch ein Miteinander zu ergründen, das ohne gegenseitige ständige Abqualifizierung auskommt.
Das ist sozusagen seine Vision, sein Menschenbild.



Zitat:Christliche Ethik,Mitleid, etc. bezeichnete er als lebensfeindlich.


Achten wir auch hier auf den Kontext und seine spezielle Begrifflichkeit.
Weshalb er christliches Mitleid ablehnt, stattdessen eine Begegnung auf Augenhöhe und Gleichberechtigung für zwingend hielt, haben wir ja schon im Thread angeschnitten. Ich werde darauf später zurückkommen und das auch belegen.

„Lebensfeindlich“, so aus dem Kontext gerissen, suggeriert etwas, was Nietzsche nie gemeint hat.
Er wirft dem Christentum Leibfeindlichkeit vor, eine verklemmte Sexualmoral, eine Weigerung, den Leib – und die Erde - zu lieben, stattdessen sich nur auf den Himmel vorzubereiten.

Was Nietzsche vehement vertritt, ist, dass die menschliche „Wirklichkeit“ nicht im Jenseits liegt, sondern auf dieser Erde. Die Kasteiung des Leibes – in der Kirche gefordert – ist für ihn ein Verbrechen am Menschen, eine Verstümmelung.
In diesem Sinne ist das Christentum „lebensfeindlich“.

Und lesen wir das, was Evangelikale und christliche Fundamentalisten heute in den Foren schreiben, dann sieht man ganz genau, wen Nietzsche vor Augen hatte und wogegen er anschrieb.

Und was er unter „christlicher Ethik“ versteht, das hat er so oft geschrieben, dass man es schwerlich missverstehen kann, wenn man seine Werke kennt.
Ich werde darauf auch später zurückkommen.


Zitat:Stattdessen befürwortete er das Leben und seine Antriebe vollkommen, egal, wie schrecklich sie aussehen mögen.


Das ist nicht wahr! So kann man mit Nietzsche nicht umgehen.

Dass Nietzsche mitunter polemisch war, dass er auch ausrutschte, ist jedem Nietzsche-Kenner bekannt.
Aber dass er das Leben auf der Erde und nicht das Himmelreich im Jenseits befürwortete, wird man ihm ja nicht zum Vorwurf machen.
Das Ausleben der Triebe, „wie schrecklich sie auch aussehen mögen“, ist nicht die geistige Welt Nietzsches.



Zitat:Seine Devise war völlige Freiheit .


Nicht die „völlige“ Freiheit. Sondern die Freiheit von den Vorurteilen. Dass man nicht fremdbestimmt wird, sondern sich selber seine Ziele setzt. Er setzt auf den innerlich freien Menschen.


Zitat:Er befürwortete auch z.B. den Trieb nach Macht und bewunderte Personen, die aus einem Machttrieb heraus den Rest der Gesellschaft bezwangen (z.B. Napoleon).


Auch hier muss korrekt untersucht werden, was unter „Macht“ verstanden wird von ihm.
Hier kommt ins Spiel, dass seine Schwester sein Werk verfälscht hat, damit der „Machtgedanke“ an erster Stelle steht.
Inzwischen sind seine Werke neu herausgegeben worden, das also ist korrigiert.
Weiter muss unterschieden werden, welche Werke er selber herausgegeben hat, welche nicht. Es sind jede Menge Aphorismen erst im Nachlass erschienen, und wir können nicht beurteilen, was er davon veröffentlichen wollte.
Es kommt noch etwas hinzu, das weiter unten.


Zitat:Alle Moralisten und Idealisten - angefangen von Sokrates und Platon bis eben zu christlichen Vertretern - bezeichnete er als Niedergangstypen. Schwächlinge, die dem Untergang geweiht waren, und deshalb die Propagierung von Moral nötig hatten.


Er begründet gerade in der „Götzendämmerung“ sehr genau, warum er Sokrates für einen unredlichen Dialektiker hält.
Wenn man Platons Dialoge liest, kann man das auch nachvollziehen.
Was Nietzsche vor allem unmoralisch bei Sokrates hält, ist seine Art, auf den Straßen Athens die Leute anzureden und sie mittels seiner geschulten rhetorischen Tricks öffentlich zu blamieren. Er „zeigt“ ihnen, dass sie von nichts eine Ahnung haben, ihr ganzes Leben falsch geführt haben und Sokrates das erkannt habe.

Das ist das, worauf Nietzsche immer wieder den Finger legt: dass der andere nicht beschämt werden darf, sondern ihn als gleichwertig anzusehen habe. Selbst und gerade, wenn er „Feind“ ist.
Man muss stolz auf seine Feinde sein können, schreibt er irgendwo.



Zitat:Seiner Meinung nach hat aufstrebendes Leben Moral nicht nötig, und soll durch solche keineswegs gehindert werden, während niedergehendes Leben ruhig untergehen soll.


Aufstrebendes Leben hat nach Nietzsche jede Menge Moral nötig, nur nicht die christliche Moral, die nach Nietzsche den Menschen in seiner Seele zerstört.


Zitat:Er hielt sich also stark an Vorgaben aus der Natur und sprach viel von Instinkten.


Auch hier ist unerlässlich, die Begrifflichkeit von Nietzsche zu studieren und nicht zu unterstellen, dass er primitive Instinkte proklamiert.
Das tut er nie. Was er stattdessen tut, will ich lieber belegen, falls wir soweit kommen.


Zitat:Sein Werk "Also sprach Zarathustra" ist ja sehr poetisch gehalten, da kann man auch ruminterpretieren.
Viel klarer drückt er sich z.B. in "Götzendämmerung" aus, und da bringt er m.E. seine Philosophie ohne Umschweife auf den Punkt.


Warum gerade in der „Götzendämmerung“? Seine Philosophie ist verstreut in allen seinen Werken. Was macht dieses Spätwerk für Dich so besonders?


Nun kommt noch etwas sehr Wichtiges hinzu.
Nietzsche hat in den ersten Januartagen des Jahres 1889 bekanntermaßen einen geistigen Zusammenbruch erfahren, aus dem er geistig nicht mehr erwacht ist. Die letzten elf Jahre seines Lebens hat er in geistiger Umnachtung verbracht und wusste nichts mehr von seinem früheren philosophischen Leben.

Und die „Götzendämmerung“ ist drei Monate vorher abgeschlossen worden, sie trägt – wie noch weitere Schriften, die Nietzsche in diesen Monaten hektisch geschrieben hat – bereits die Spuren des Wahnsinns.

Diese Spuren drücken sich zum einen in einer gewissen Enthemmung aus – er spricht nicht mehr „bescheiden“, gelinde gesagt -, zum anderen wächst seine Polemik rapide.

Es ist dennoch erstaunlich, dass diese letzten Schriften trotzdem seine Grundgedanken noch einmal zusammenfassen, im „Antichrist“ zum Beispiel sein Verhältnis zum Christentum zum erstenmal vollkommen transparent machen. Dort spricht er meines Wissens zum ersten Mal und auch zum letzten Mal von der Person Jesu im Vergleich zu der Kirche.
Ich werde darauf, hoffe ich, auch noch zurückkommen können.


Zum Schluss tippe ich noch aus der rororomonographie „Nietzsche“ ab, was uns über den Moment seines geistigen Zusammenbruchs überliefert ist und mehr über seine inneren Intentionen sagt als seine kämpferische Sprache:

„Der Zusammenbruch erfolgte am 3. Januar in Turin auf der Piazza Carlo Alberto. Als Nietzsche gerade seine Wohnung verlassen hatte, sah er, wie ein brutaler Droschkenkutscher sein Pferd misshandelte. Unter Tränen und Wehklagen warf er sich dem Tier um den Hals und brach zusammen. Wenige Tage später holte Overbeck ihn ab und brachte den Kranken in die Basler Nervenklinik.“

Nietzsche war zu diesem Zeitpunkt etwas über 44 Jahre alt.

So weit erstmal.
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#17
Und nun sind wir an einem - eigentlich dem - Punkt angekommen, der in der Auseinandersetzung eine Wende initiiert und alles Vorhergedachte, auf den Kopf stellt.
In "Also sprach Zarathustra", ist immer die Rede vom neuen Menschen und Begriffe wie Macht, Grösse ect., bekommen ihren positiven Sinn, da der Mensch "gross gedacht und so gewollt ist" und nicht "klein und ohnmächtig".
Was mir seit sehr langer Zeit aufgegangen ist, wie "klein" Menschen gehalten werden können (siehe Rede/Rhethorik) und über Generationen, ja Jahrhunderte hinweg, eine angelernte Hilflosigkeit in das Bewusstsein und Verhalten der Menschen - "der kleine Mann" (welch absurde Idee) - eingezogen ist.

"Der kleine Mann, die kleine Frau" kann halt eh nichts machen".

Dieser leidige Satz, den höre und lese ich immer und immer wieder. Sogar in soziologischen Auswertungen, Kommentaren finden sich derartige Sätze. Wir sollten auf die Sprache achten, die diese Ideen weiter transportieren, bis in die heutige Zeit. Das schwächt viele Menschen und entmachtet sie, bevor überhaupt ein Bewusstsein der eigenen Macht entstehen kann. Ich kreide es den Wortführern an, wenn bewusst mit den Mitteln der Rhethorik eingeschüchtert wird.

Nietzsche fordert den Leser heraus, und das ganz und gar. Nietzsche übt eine harsche und tiefbegründete Kritik an den vorherrschenden Zuständen und System(en) von Macht, auch die der Kirche.

Und was Saldo zuletzt beschreibt, den Zusammenbruch eines Menschen, der tatsächlich ein Mitgefühl mit der Kreatur in seinem Herzen trägt, zeichnet ihn als Menschen und Glaubenden aus. Er hält die Grösse des Lebens hoch.
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#18
Was Saldo und Marlene hier schreiben, gibt genau das wieder, was ich von dem Wenigen mitgenommen habe, was ich von N. direkt gelesen habe. Anscheinend fällt das Werk gar nicht so weit auseinander. Ihr beide habt das so gut zusammen gefasst, dass ich mich nur herzlich bedanken kann für die Bereicherung des Philosophie-Forums!
Mit freundlichen Grüßen
Ekkard
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