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Hypothese zum Beginn des Christentums
#1
Num 12,6 (EU) und der Herr sprach: Hört meine Worte! Wenn es bei euch einen Propheten gibt, so gebe ich mich ihm in Visionen zu erkennen und rede mit ihm im Traum.

Alle hier kennen, wie die Bibel den Beginn des Christentums beschreibt, aus den Evangelien und der Apostelgeschichte. Wenn wir uns die Buecher des Neuen Testaments genauer anschauen, erzaehlen diese uns aber auch eine andere Geschichte, naemlich, wie die Erzaehlung vom Mensch gewordenen, gestorbenen und wiederauferstandenen Gott aus weitaus bescheideneren Anfaengen mit der Zeit zu dem wuchs, als das sie uns gelaeufig ist. Diese These hat keinen Anspruch auf Originalitaet, da sie schon in dieser und aehnlicher Form von Anderen vertreten wurde, aber sie ist anscheinend nicht jedem hier gelaeufig.

Ich gehe dabei von einigen Punkten aus, die sich in der Neutestamentik breiter Zustimmung erfreuen:
  1. Jesus war ein Wanderprediger und Leiter einer religioesen Gefolgschaft mit Petrus etc., der um 30 n.Chr. von Pontius Pilatus hingerichtet wurde.
  2. Sieben der Paulusbriefe sind authentisch (Roemer, 1 und 2 Korinther, Galater, Philipper, 1 Thessalonicher und Philemon) und stellen die aeltesten ueberlieferten christlichen Texte dar.
  3. Die kanonischen Evangelien wurden ab der Zeit nach dem erste Juedischen Krieg (70 n.Chr.) und Jahrzehnte danach verfasst, wobei das Matthaeus- und das Lukas-Evangelium literarisch vom Markus-Evangelium abhaengen und das Johannesevangelium als letztes kommt.
Das aelteste Evangelium, das Markusevangelium, erzaehlt uns eine Geschichte von einem gerechten Menschen, Jesus, der bei seiner Taufe am Jordan durch Empfang des Geistes Gottes von letzterem zu seinem Sohn erklaert wird, dann, vom Geist getrieben, als Prediger und Wunderheiler durch die Lande zieht, bis er unter Pontius Pilatus hingerichtet wird, wobei ihn der Geist Gottes wieder verlaesst. Zu diesem Zeitpunkt haben ihn alle seine Juenger verlassen, und sein Begraebnis passiert durch einen Aussenseiter. Drei Frauen aus seiner Gefolgschaft finden sein leeres Grab, worin ihnen ein Mann von der Auferstehung Jesu erzaehlt, welcher nach Galilaea gegangen sei, um dort auf seine Anhaenger zu warten. Die Frauen behalten die ganze Geschichte fuer sich. Ende.

Hier gibt es also keine Geburtsgeschichten, keine Auferstehungserscheinungen, keine rehabilitierten Apostel, nur einen von Gott adoptierten Menschen, dem nie jemand zuhoert, vor allen Dingen niemand, der ihm nahe steht. Was die anderen Evangelien daraus gemacht haben, ist klar. Nur, wenn dieses erste Evangelium keinerlei Begegnungen mit dem auferstandenen Christus enthaelt, also hier gar nicht hilfreich ist, sondern das erst die erweiterten Ueberarbeitungen einfuehren, woher kommt diese Geschichte dann?

Hier kommt dann Paulus ins Spiel. Das Kapitel 15 des ersten Korinther-Briefes wird manchmal als das "Evangelium des Paulus" bezeichnet, weil er nirgendwo so wie hier das darlegt, was er den Leuten eigentlich erzaehlt. Von Jesus weiss er nicht mehr, als dass dieser gekreuzigt wurde und auferstanden ist, sowie das Abendmahlgebet. Interessant ist nun, dass er uns ganz am Anfang des Kapitels darueber erzaehlt, welche Leute den auferstandenen Christus gesehen haben. Die Liste geht wie folgt:
  1. Kephas
  2. Die 12
  3. 500 Brueder
  4. Jakobus
  5. Apostel
  6. Paulus
Paulus reiht sich hier nahtlos in die Liste ein, und wir wissen, dass ihm Jesus nur als Vision oder Traum erschienen ist. Da Paulus hier keinerlei Unterscheidung trifft zwischen seiner und den Erscheinungen, die die Anderen gesehen haben, kann man davon ausgehen, dass er hier ganz allgemein von Visionen spricht. Was auch interessant ist, ist, dass die ganze Sache mit nur einer einzigen Person anfaengt: Kephas, also Simon/Petrus. Selbst im Lukasevangelium (Lk 24, EU) ist das noch erhalten: 
"34 Diese sagten: Der Herr ist wirklich auferstanden und ist dem Simon erschienen."

Hieraus kann man schliessen, dass alles mit Petrus anfing, der eine Vision hatte. Der ueberzeugte dann seinen inneren Kreis (die 12), und dann hatte man in einer groesseren Zusammenkunft ein gemeinschaftliches Erweckungserlebnis (die 500). Jakobus wird in der Apg als Leiter dieser Gemeinschaft beschrieben, und der musste dann wohl, um seinen Einfluss in der Gemeinschaft nicht zu verlieren, auch eine Vision haben. Dann wurden Missionare ausgesandt, die auch solch ein Auferstehungserlebnis mitmachten (Apostel), und schliesslich hatte Paulus seine ganz eigene Vision von Christus, der in ihm lebte und mit ihm sprach. Er nahm Kontakt zu den Anfuehrern dieser religioesen Gemeinschaft (Jakobus, Petrus und Johannes) auf, kam mit seiner speziellen Lehre dort aber nicht an, weshalb man weiterhin getrennte Wege ging. Der Rest ist dann die uebliche Geschichte von Aufspaltungen und Zusammenkitten, wobei dann irgendwann das Christentum herauskam, wie wir es kennen.

All das hat sicherlich keinen Anspruch darauf, korrekt zu sein, aber so aehnlich stellen ich und eine ganze Reihe andere Leute sich den Anfang des Christentums vor. Mit Sicherheit raeumt solch ein Modell aber mit der Vorstellung auf, es gaebe angeblich so viele Zeugen fuer die Ereignisse, die in den Evangelien beschrieben werden. Weit gefehlt. Ich fand diese Aussage schon immer etwas fragwuerdig, wenn z.B. das Markusevangelium sich grosse Muehe gibt, uns zu erzaehlen, dass fast keins dieser Ereignisse irgendwelche Zeugen hatte. Aber so sehen wir, was ausreicht, eine Weltreligion anzustossen, sind ein Mensch und eine Vision. Und nein, ich rede nicht von Jesus.
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#2
sehr schön ausgeführt und plausibel zusammengefaßt
einen gott, den es gibt, gibt es nicht (bonhoeffer)
einen gott, den es nicht gibt, braucht es nicht (petronius)
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#3
Dem schließe ich mich an. Letztlich sind nicht die Visionen ausschlaggebend sondern, dass und wie sie weiter erzählt wurden. Außerdem scheint mir Paulus für das spätere Christentum die treibende Kraft zu sein, mehr jedenfalls als die jerusalemer Gemeinde um die Jünger mit Petrus.
Mit freundlichen Grüßen
Ekkard
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#4
Danke! Und ja, Paul war hier siegreich, weil er sich die groessere Gruppe als Ziel seiner Mission ausgesucht hat. Ich bin mir sicher, dass erst er die Goettlichkeit Jesu ueberhaupt ins Spiel gebracht hat, und dass Petrus und die Jerusalemer davon nichts wissen wollten. In dem Zusammenhang finde ich die traditionelle Zuschreibung des Markusevangeliums an einen Begleiter von Petrus aeusserst fragwuerdig, denn dieses Evangelium laesst kein gutes Haar an den Aposteln, wobei Petrus am uebelsten wegkommt. Oder er hat seinen Chef wirklich gehasst.

Was die spaetere Entwicklung angeht, habe ich ja schon mal die LDS (Mormonen) als Beispiel genannt. Zu einer sehr erfolgreichen Sekte machte das auch dort erst die zweite Fuehrungsfigur, Brigham Young, der den Grossteil der Glaeubigen der Familie des Gruenders, Joseph Smith, nach dessen Tod entriss und den Mormonen dann seinen ganz eigenen Stempel aufdrueckte. Die Gruenderfamilie behielt die Kontrolle ueber eine ziemlich kleine Kirche, und diese entwickelte sich nach und nach wieder in die Richtung einer ganz normalen protestantischen Kirche, ging also wieder im Mainstream auf. Wer weiss, vielleicht ist das aehnlich auch mit den vebliebenen Jerusalemern und dem spaeteren Judentum passiert.
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#5
(15-08-2025, 09:44)Ulan schrieb: Danke! Und ja, Paul war hier siegreich, weil er sich die groessere Gruppe als Ziel seiner Mission ausgesucht hat. Ich bin mir sicher, dass erst er die Goettlichkeit Jesu ueberhaupt ins Spiel gebracht hat, und dass Petrus und die Jerusalemer davon nichts wissen wollten. In dem Zusammenhang finde ich die traditionelle Zuschreibung des Markusevangeliums an einen Begleiter von Petrus aeusserst fragwuerdig, denn dieses Evangelium laesst kein gutes Haar an den Aposteln, wobei Petrus am uebelsten wegkommt. Oder er hat seinen Chef wirklich gehasst.

Was die spaetere Entwicklung angeht, habe ich ja schon mal die LDS (Mormonen) als Beispiel genannt. Zu einer sehr erfolgreichen Sekte machte das auch dort erst die zweite Fuehrungsfigur, Brigham Young, der den Grossteil der Glaeubigen der Familie des Gruenders, Joseph Smith, nach dessen Tod entriss und den Mormonen dann seinen ganz eigenen Stempel aufdrueckte. Die Gruenderfamilie behielt die Kontrolle ueber eine ziemlich kleine Kirche, und diese entwickelte sich nach und nach wieder in die Richtung einer ganz normalen protestantischen Kirche, ging also wieder im Mainstream auf. Wer weiss, vielleicht ist das aehnlich auch mit den vebliebenen Jerusalemern und dem spaeteren Judentum passiert.

für mich ist es mehr als plausibel, daß paulus als clevere unternehmerpersönlichkeit und marketing-guru sich hier einen vielversprechenden startup einverleibt hat, dessen potentiellen marktwert er als erster und einziger (noch nicht mal die startup-gründer und -betreiberhaben das) erkannt hat. jetzt nur noch die möglichst große zielgruppe anvisieren und gezielt ansprechen - voila, wir haben eine neue weltreligion

so weit die technische beschreibung. inwieweit dem ganzen vielleicht auch persönliche überzeugung zugrunde lag - wer weiß das schon?
einen gott, den es gibt, gibt es nicht (bonhoeffer)
einen gott, den es nicht gibt, braucht es nicht (petronius)
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#6
Ja, so in etwa. Paulus redet ja dauernd von Geld und wie bescheiden er doch sei. Deshalb halte ich auch nichts von der Idee, die Paulus-Briefe waeren eine spaetere Erfindung. Da spricht ein echter Sektenfuehrer, wie man sie auch heute noch erlebt, aus diesen Briefen.
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#7
Bemerkenswert ist jedenfalls, dass die Idee der Weltmission, die trotz Widerstands der Urgemeinde betrieben wurde und auch die Einrichtung einer ersten Schülergeneration, die diese Mission vorantrieb, von Paulus stammten bzw. durch ihn erfolgten. Auch die hellenistische Einfärbung der Theologie des Christentums ist Paulus geschuldet.

Ebenso bemerkenswert ist, dass mit der Einrichtung der Weltmission durch Paulus die Jerusalemer Gemeinde die Trennung vom gemeinsamen Tisch mit den Heidenchristen einforderte (vgl. Gal 2,11ff.) und damit die Entfremdung der paulinischen Gemeinden von der Jerusalemer Muttergemeinde und das Bekenntnis der Trennung des Paulus vom Judentum auslösten (Gal 2,19-20 Ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben,… Ich bin mit Christus gekreuzigt worden; nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir).
MfG B.
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#8
Gerade die letzte Aussage von Paulus ("nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir") macht deutlich, warum die Gruendung des Christentums auch mit einer mythischen Christusfigur funktionieren wuerde, egal was man von der These selbst haelt. Bei Paulus findet man den historischen Jesus jedenfalls nicht.

Was die Trennung der Gemeinden angeht, so hatte ich schon mal den Verdacht geaeussert, dass die Geschichte mit dem Martyrium des Stephanos etwas seltsam wirkt. Sie beginnt mit dem Zerwuerfnis zwischen Juden- und Heidenchristen in Jerusalem und endet mit dem Tod des Stephanos. Wer weiss, ob da nicht ein handfester Sektenkampf dahinter steckt. Aber das ist jetzt reine Spekulation.

Der Kitt, der die widerstreitenden Positionen im fruehen Christentum dann durch eine idealisierte Erzaehlung verknuepfen will, ist dann die Apostelgeschichte. Als literarisches Werk ist sie schon geschickt gemacht. Aber auch dort verschwindet der gefeierte Gruender, Petrus, dann in der Mitte sang- und klanglos aus der Erzaehlung, und es wird zur Paulus-Show mit wechselnden Sidekicks.
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#9
Gott sei dank, dass wir diese historischen Erklärungen haben. Ich dachte schon für einen bangen Moment, dass ich die Geschichten aus der Bibel glauben müsste...
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#10
(14-08-2025, 22:02)Ekkard schrieb: Dem schließe ich mich an. Letztlich sind nicht die Visionen ausschlaggebend sondern, dass und wie sie weiter erzählt wurden. Außerdem scheint mir Paulus für das spätere Christentum die treibende Kraft zu sein, mehr jedenfalls als die jerusalemer Gemeinde um die Jünger mit Petrus.

... für mich ist die Wandlung des Saulus "wundersam"! Erst verfolgt er die Christen im Stil eines Geheimdienst-Agenten, ist wahrscheinlich auch bei manchen Hinrichtungen zugegen - und dann wandelt er sich zum Paulus.
Das WARUM darf sich nun jeder selbst beantworten!
Je nach innerem Kompass wird er zu dieser oder jener Antwort neigen.

Gruß von Reklov
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#11
(15-08-2025, 15:31)Ulan schrieb: Ja, so in etwa. Paulus redet ja dauernd von Geld und wie bescheiden er doch sei. Deshalb halte ich auch nichts von der Idee, die Paulus-Briefe waeren eine spaetere Erfindung. Da spricht ein echter Sektenfuehrer, wie man sie auch heute noch erlebt, aus diesen Briefen.

... nun - auch die Jünger Jesu hatten in Judas einen Kassenwart, denn schließlich musste schon damals alles Lebensnotwendige mit barer Münze bezahlt werden: Essen, Kleidung, Gerätschaften, Reittiere ... etc.

Gruß von Reklov
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#12
(20-08-2025, 20:17)Reklov schrieb: ... für mich ist die Wandlung des Saulus "wundersam"! Erst verfolgt er die Christen im Stil eines Geheimdienst-Agenten, ist wahrscheinlich auch bei manchen Hinrichtungen zugegen - und dann wandelt er sich zum Paulus.
Das WARUM darf sich nun jeder selbst beantworten!
Solche plötzlichen Wandlungen sind bekannt aus der Psychologie vor allem bei manischen Charakteren. Beachte, wie die Geschichte entwickelt wird und mit welchem politischen Geschick dieser Saulus in den Ablauf eingreift. Im Gegensatz zu uns normalen Heutigen beschäftigt sich hier jemand intensiv damit, wie man die Jesus-Geschichte so darbringt, dass man damit Anhänger bindet. Die sollen sich in den von Paulus erzählten Geschichten (Berichte genannt) wiederfinden und über möglichst keine Details "stolpern". Selbst die Leiden des Paulus werden eingespannt: Er erscheint hilflos (blind), wird gesund gepflegt usw.. Beachte, dass das Narrativ von Paulus selbst und von niemand sonst stammt!
Mit freundlichen Grüßen
Ekkard
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