18-12-2011, 20:15
(17-12-2011, 12:24)humanist schrieb: Zuersteinmal begeht der Autor einen Kategorienfehler: Der Artikel heißt "Vernunft und Glaube?", handelt jedoch von der Vereinbarung von Vernunft und Theologie.Der Artikel spricht eine Reihe von Themen an, die auch die Stellung der Theologie umfasst. Mit der alltäglichen Verhaltensweise des Gläubigen hat er in der Tat wenig zu tun; dies hat sich der Autor auch nicht vorgenommen.
Die zentrale Aussage kommt erst gegen Ende.
Christian Tapp schrieb:Bei all den Problemen (den Widersprüchen und ihren Lösungsversuchen) könnte man fragen: Warum überhaupt der ganze Aufwand? Warum denn muss der Glaube all seine Widersprüche auflösen? Warum muss Theologie unbedingt auch Wissenschaft sein wollen? Warum sich nicht einfach auf den Standpunkt privater Überzeugungen und weltanschaulicher Entschiedenheit zurückziehen?Demnach ist deine zu Tapp parallele Feststellung zutreffend, dass Vernunftfreundlichkeit zum Glauben gehört. Was also ist mit den Widersprüchen?
Diese Fragen lassen sich nicht mehr von außen beantworten. Denn sie zielen auf das, was jemanden, vom Standpunkt des Glaubens selbst aus betrachtet, so eng an die Vernunft bindet – und die Theologie so eng an die vernunftgebundene Wissenschaftlichkeit. Deshalb muss im Folgenden von innen her argumentiert werden.
Der christliche Glaube verstand sich immer als ein Glaube für den ganzen Menschen. Er ist, in den Worten von Anselm von Canterbury (1033 – 1109), fides quaerens intellectum – Glaube, der nach Einsicht verlangt. Zentraler Inhalt der christlichen Verkündigung ist ein Heilsangebot Gottes, das nicht nur die emotionale Seite des Menschen betrifft oder nur sein Privatleben oder seine moralische Orientierung. Es geht um den ganzen Menschen. Wo Zustimmung "von ganzem Herzen" verlangt ist, lässt sich die Vernunft nicht am Eingang abgeben.
Dabei geht es letztlich um das Suchen und Fragen des Menschen selbst. Wenn wir in unserem Leben einen Sinn suchen, einen letzten Grund, auf den wir bauen können, einen Halt, ein Fundament, etwas oder jemanden, das/der unsere Welt im Innersten zusammenhält (womit hier einmal nicht die starke Kernkraft gemeint ist), dann suchen und fragen wir ja auch als ganze Menschen. Antworten, die nur einen Teil unseres Menschseins ansprechen, werden über kurz oder lang unbefriedigend bleiben.
Vom christlichen Standpunkt aus liegt der Grund für die Vernunftbindung des Glaubens in Gott selbst. "Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott", so beginnt das Johannesevangelium. Es schreibt der göttlichen Schöpfermacht zu, logos zu sein – was nicht nur Wort bedeutet, sondern auch Vernunft oder Sinn. Das nimmt die Aussage von der alles zusammenfügenden, einrichtenden und ordnenden Schöpfermacht Gottes aus der ersten Schöpfungserzählung auf. Der zufolge war die Erde erst "wüst und wirr", dann ordnet Gott sie, schafft Gestirne, Pflanzen, Tiere und den Menschen, "und sah, dass es gut war". Gott ist demnach der Grund für die Ordnungsstrukturen der Welt, sein logos der Grund dafür, dass die Welt für uns verstehbar ist.
(17-12-2011, 12:24)humanist schrieb: (Tapp) versucht diese Widersprüche mit einer Neuinterpretation aufzulösen. Generell kann er die alten Inhalte jedoch nicht einfach ablegen, wie es die Vernunft nahelegt - der Grund, weshalb Theologie keine Wissenschaft ist.Eben weil in den Glaubenstexten "der ganze Mensch" angesprochen wird, genügt es nicht, einfach die teils grundsätzlichen Widersprüche, wie du schreibst, abzulegen, wie es die Vernunft nahelegt. Nein, die Vernunft verlangt danach, die Umstände (möglichst) aller Menschen zu sehen und zu betrachten. Angesichts großer Verluste muss Religion z. B. auch mal auf wissenschaftlich-statistische Aussagen zugunsten der verletzten Psyche verzichten und notfalls Gott anklagen.
Tapp legitimiert diese Hermeneutik mit der Ansicht, die alten Texte erheben keinen wissenschaftlichen Anspruch, sondern enthalten eine zeitlose Wahrheit. Kann man machen, ist jedoch willkürlich.
Also, es wird gar nicht darauf ankommen, die im Text genannten Widersprüche vollkommen zu beseitigen, sondern als (durchaus unangenehme, existenzbedrohende) Vielfalt des Lebens zu begreifen.
Deshalb der Theologie die Wissenschaftlichkeit abzusprechen, ist weitgehend unberechtigt. Denn überall dort, wo ein Thema ergebnisoffen erforscht werden kann, ist Theologie durchaus (staatlich zu fördernde) Wissenschaft bzw. Wissen schaffend. Und, so stellt Tapp fest, auch notwendig für die religiöse Offenheit, damit eben keine "abgeschotteten Sonderwelt aus Fideismus, Biblizismus, Kreationismus, Traditionalismus oder gar Fundamentalismus" innerhalb der Gesellschaft entsteht. Dem stimme ich durchaus zu.
(17-12-2011, 12:24)humanist schrieb: Die Frage nach Vernunft und Glaube muss man anders angehen:Muss man? Ich behaupte: nein. Man kann selbstverständlich andere Aspekte des sicher schwierigen Verhältnisses zwischen den verschiedenen in der Gesellschaft kursierenden Grundüberzeugungen und der Vernunft hervor heben. Da ist Tapp nicht der Einzige.
Hitchens hatte sich nicht mit der Beweisbarkeit der Existenz eines Gottes rumgeschlagen, sondern die realen Auswirkungen religiösen Handelns moralisch bewertet.
Hier geht es aber um die Mühe, die Vielfalt des Erlebens auf der Sachebene einerseits und der psychischen Ebene, zu der auch die jeweilige Grundüberzeugung gehört, andererseits verständlich, d. h. der Vernunft zugänglich, zu machen.
Der recht viele Themen anpackende Artikel gibt eine gute Übersicht und vermeidet viele Einseitigkeitsfallen, in die man selbst so gerne tappt. (Ich schließe mich da gar nicht aus).
Den Schlussabsätzen kann ich mich anschließen:
Christian Tapp schrieb:Inkompatibilität zwischen dem Glauben und einer bestimmten Art von Philosophie liegt meist weniger an der philosophischen Methodik oder dem Arbeitsstil als vielmehr an Inhalten. So ist der ontologische Naturalismus, der behauptet, dass es nur dasjenige gibt, was naturwissenschaftlich fassbar ist, wohl unvereinbar mit dem Glauben. Anders der methodische Naturalismus, der nur fordert, sich in der Naturwissenschaft auf das empirisch Fassbare zu beschränken: Damit sollte eigentlich kein Gläubiger ein Problem haben.
Auf den Punkt gebracht: Eine Religion, deren Gott vom Wesen her vernünftig ist, wird sozusagen von ihrer höchsten Instanz her auf ein positives Verhältnis zur Vernunft festgelegt. Dieses ist freilich kein gemütliches Ruhekissen, sondern dauernder Anspruch, Widersprüche zu beseitigen und Verstehen zu ermöglichen. Der Gläubige muss stets aufs Neue die Spannung aushalten zwischen der Treue zu den Wurzeln und dem Anspruch auf Vernunftmäßigkeit, der zum Kern des christlichen Gottesbilds gehört.
Im Grunde spielt auch der (religiöse) Glaube keine so große Rolle, wie es hier scheinen mag. Denn das soziale Leben des Menschen schließt eine Reihe von Widersprüchlichkeiten ein, die nur nicht so wie eine Bibel niedergeschrieben werden.
Mit freundlichen Grüßen
Ekkard
Ekkard