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bibel - wichtig und unwichtig
#10
(25-06-2010, 08:28)petronius schrieb: es stimmt schon, daß jeder text nur interpretiert werden kann. der unterschied zwischen "textkritisch" und "textsklavisch" besteht im wesentlichen darin, sich dieser tatsache bewußt zu sein, sie zuzugeben, oder sie zu leugnen

allerdings gibt es natürlich texte, die von vornherein normativ angelegt sind (z.b. das bgb), und andere, denen eine solche bedeutung erst nachträglich zugeschrieben wird. goethes zauberlehrling etwa könnte man ja auch als normative anleitung zu magischen handlungen auffassen, wenn man denn unbedingt will - nur wird das keiner tun und ihn im bereich der poesie verorten. was natürlich in den augen vieler so auch auf die bibel (jedenfalls zum größten teil) zutrifft

dann stellt sich die frage, wie die dem text zu entnehmende "norm" (im sinne allgemeiner verbindlichkeit - für sich privat darf ja jeder normen aufstellen, wie er lustig ist) in der praxis zu verstehen ist. beim explizit normativ angelegten text bgb gibts dazu eine entsprechende judikatur, d.h., es gibt menschen/instanzen, die nach festgelegten regeln (und dennoch menschlichem ermessen) die praktische "interpretation" vornehmen. das ist ein unterschied zu religiös normativ verstandenen texten, wo man sich meistens doch fragt, woher denn der etwas für verbindlich erklärende eigentlich seine legitimation haben will. welch wacklige basis dafür natürlich nicht immer so offenkundig und lächerlich daher kommt wie bei bestimmten diskutanten hier

inwiefern tatsächlich "Menschen sind nunmal hierarchische soziale Individiuen" sind in dem sinne, daß sie sich nach bevormundung sehnen, erscheint fraglich. klar, im tierreich (aus dem wir menschen hervorgegangen sind) bewährt sich das "führerprinzip", und dieser ansatz zieht sich ja auch (durchaus blutig) durch die geschichte von homo sapiens. dennoch: die "soziale evolution" hat uns darüber hinaus geführt, wir verstehen es heute, mit pluralen ansätzen umzugehen und nach konsensbasierten normen zu leben, sodaß der ansatz, es gelte sich nach einer unverrückbaren und ewig gültigen norm zu orientieren, uns archaisch und obsolet erscheint - bis hin zur weitgehend übereinstimmend so emfundenen lächerlichkeit der in solchem denken verhafteten

Meine Ansichten über das menschliche Sozialverhalten und unsere Neigung unseren Instinkten zu folgen sind eher abwertend und pessimistisch, so gesehen bin ich sicher kein besonders neutraler Beobachter. Aber ich glaube daß viele Menschen durchaus dazu neigen sich eher einem Führer unterzuordnen als selbst Verantwortung zu übernehmen und alle Entscheidungen selbst zu treffen. Ich selbst stehe hier auf zwei Seiten, einerseits halte ich von Führerfiguren wenig, selbst wenn es sich nicht um Persönlichkeiten sondern um Konzepte handelt, eine Mitgliedschaft in einer Partei ist für mich beispielsweise undenkbar, genauso wie das Engagement für eine Wahl, wie es viele zumeist junge Menschen in den USA bei der letzten Präsidentenwahl an den Tag gelegt haben. Ich ordne mich niemandem unter, und ich nehme keine Befehle entgegen, höchstens Bitten. Mir etwas zu befehlen ist der einfachste Weg mich zum Nachdenken zu bringen und die Gefahr daß ich im Zweifel erst einmal auf stur schalte ist recht hoch, weshalb eine Karriere beim Militär für mich ebenso undenkbar ist.

Andererseits übernehme ich diese Verantwortung auch ungern selbst, ich führe nicht gern, sei es nun im Beruf oder im Spiel, obwohl ich dazu durchaus in der Lage bin. Meine Zeit beim Wehrdienst, den ich absolvieren mußte weil der Zivildienst zu lange gedauert hätte und das finanziell schwierig geworden wäre, habe ich gehasst, vor allem die Zeit in der ich eine Pseodo-Anführerrolle spielen mußte für mein Zimmer.
Wenn ich allerdings dazu gezwungen bin, weil niemand anderes da ist der ähnlich kompetent und integer erscheint oder ich einfach dazu gedrängt werde, dann mache ich das und versuche es für alle Beteiligten so fair wie nur möglich zu gestalten. So versuchte ich beispielsweise den Dienstplan für die Reinigungsarbeiten so zu gestalten daß alle möglichst diesselbe Belastung erfuhren, was Dauer und Beliebtheit der einzelnen Aufgaben anging, und übernahm im Zweifel die unangenehmsten Arbeiten lieber selbst als anderswo jemanden zu benachteiligen. Diese Einstellung teilt aber scheinbar nicht jeder, und der Zimmerkommandant meines Zuges in den ich nach der Grundausbildung kam hat sich selbst einfach mal nonchalant von allen Arbeiten permanent befreit, was mich in Wut versetzte, der Rest des Zimmers -der schon länger beieinander war- aber scheinbar als gottgegeben hinnahm.

Wäre er jedoch so vorgegangen wie ich wäre ich froh gewesen die Verantwortung, obwohl sie lächerlich gering war, abzugeben.

Insofern verstehe ich die Neigung dazu einerseits, andererseits aber überhaupt nicht. Aber beobachten kann man es auch heute noch, die Neigung sich Führerpersönlichkeiten unterzuordnen und dann einfach mitzuschwimmen ist mit den Nazis nicht untergegangen, die gibt es meiner Ansicht auch heute noch. Auch wenn wir mit demokratischen Wahlen, Gewaltenteilung und einem mehr oder minder unabhängigen Rechtssystem dafür zu sorgen versuchen daß die Auswüchse die sich ergeben können wenn einzelne zuviel Macht besitzen etwas eingeschränkt werden, die Überzeugung daß wir Anführer brauchen und wollen scheint nahezu unbestritten zu sein. Lediglich über die Personalie, die Art und Weise wie die Aufteilung der Verantwortung geschieht und die Machtbefugnisse einzelner sind die meisten unterschiedlicher Auffassung, die generelle Notwendigkeit und der Wunsch nach einem Anführer oder eben mehreren spezialisierten Anführern ist scheinbar, wie es im englischen so schön heißt, ein no-brainer.

Daß es der Effizienz einer menschlichen Gruppe zuträglich ist einen Anführer zu haben ist auch empirisch belegbar, und scheinbar ist darüber hinaus auch der Wunsch danach in der menschlichen Psyche zumindest angelegt, wenn auch manche Menschen kritischer mit diesem Instinkt umzugehen scheinen oder durch ihre Persönlichkeit, zumindest in unserer sichereren Gesellschaft, diese Neigung negieren oder gar ins Gegenteil verkehren können, wie ich beispielsweise.
Aber Du hast natürlich auch recht, wir legen diesen Drang mit zunehmendem Maße ab, ganz loswerden werden wir ihn aber vermutlich nie, von der Notwendigkeit die hierarchische Strukturen für die menschliche Gesellschaft haben ganz zu schweigen. Schließlich und endlich ist der pluralistische Ansatz nichts grundsätzlich antiauthoritäres, im Gegenteil, es ist nur eine Weise die größten Gefahren die in hierarchischen Strukturen lauern zu minimieren. Die Gemeinsamkeiten zwischen der Diktatur einzelner und der "Dikatur" des Konsens ist immer dann direkt erfahrbar wenn man sich als Mensch ausserhalb der üblichen Kreise bewegt, nämlich beispielsweise in der Psychiatrie. Der gesellschaftliche Konsens lautet nämlich, suizidgefährdet ist gleich depressiv ist gleich nicht voll entscheidungsfähig ist gleich Zwangseinweisung/-behandlung und damit in letzter Konsquenz verbunden vorsorglicher Freiheitsentzug. Für einen Lebensmüden durchaus eine Anmaßung sondergleichen.

Insofern ist auch ein dem mehr oder minder dem Konsens entsprungener und von vornherein normativer Text dessen Wirkungs- und Geltungsbereich exakt definiert wurde und der nach Ansicht des Einzelfalles jeweils angepasst wird nicht so weit weg von dem Anspruch den viele orthodoxere Gruppierungen an ihre religiösen Schriften richten. Der wirkliche Unterschied liegt hier meiner Ansicht nach in der an rationaleren, Argumenten zugänglicheren Methodik nach der die einzelnen Passagen eines Gesetzbuches der Lebenswirklichkeit und dem sich im Wandel befindlichen Konsens angleichen lassen. Dem klar der eigenen Gesellschaft verorteten Ursprung des Textes mag es zu verdanken sein daß, bedingt durch die klare Zweckgebundenheit des Textes, hier viel eher und viel rationaler versucht wird ihn den Gegebenheiten anzupassen, während viele heiligen Schriften duch ihren angeblich göttlichen Ursprung zum Versuch anstiften die Realität ihnen anzupassen solange das nur irgendwie geht und selbst wenn Anpassungen in die andere Richtung vorgenommen werden dabei oft lediglich um eine oder mehrere Annahmen und Prämissen herumgearbeitet wird, da sie unantastbar sind.

Nichtsdestotrotz ist dieser Unterschied einem Psychiatrieinsassen oder eben einem Angehörigen einer von der Vorgabe abweichenden Interpretation erstmal egal, er wird eingeschränkt.


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bibel - wichtig und unwichtig - von petronius - 11-06-2010, 13:05
RE: bibel - wichtig und unwichtig - von Ekkard - 12-06-2010, 00:28
RE: bibel - wichtig und unwichtig - von indymaya - 23-06-2010, 19:02
RE: bibel - wichtig und unwichtig - von Bion - 24-06-2010, 08:43
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RE: bibel - wichtig und unwichtig - von indymaya - 24-06-2010, 23:01
RE: bibel - wichtig und unwichtig - von indymaya - 24-07-2010, 15:45
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RE: bibel - wichtig und unwichtig - von Hikikomori - 25-06-2010, 20:02
RE: bibel - wichtig und unwichtig - von indymaya - 26-06-2010, 22:18
RE: bibel - wichtig und unwichtig - von indymaya - 27-06-2010, 11:04
RE: bibel - wichtig und unwichtig - von indymaya - 03-07-2010, 19:29
RE: bibel - wichtig und unwichtig - von Romero - 04-07-2010, 11:28
RE: bibel - wichtig und unwichtig - von indymaya - 03-07-2010, 20:50
RE: bibel - wichtig und unwichtig - von Fritz7 - 04-07-2010, 12:50
RE: bibel - wichtig und unwichtig - von Ekkard - 24-07-2010, 23:35

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