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beschneidungsverbot, die dritte - wieviel pluralismus ist es, bitte?
#1
ich habe bereits einmal aus der taz zitiert, möchte das hier noch einmal machen. die autorin der folgenden zeilen ist hilal sezgin, türkischstämmige säkulare muslima, profilierte journalistin und jeglichen fundamentalismus unverdächtig:

Für den WDR hatte ich einen Kommentar zur Beschneidungsfrage geschrieben. Ich begann damit, dass seit einigen Jahren alles, was muslimischer Brauch sei, mit Verdacht überschüttet und sorgfältigst auf seine Verbietbarkeit geprüft wird. Dann fuhr ich im zweiten Absatz fort: „...die Sitte der Beschneidung empfinden viele christlich oder atheistisch sozialisierte Menschen als ,barbarisch'. – Dieser Vorwurf des Barbarismus wird immer gern da erhoben, wo man den Balken im Auge des anderen sieht und im eigenen nicht.

Es soll Leute geben, Christen!, die sich regelmäßig treffen, um vom Leichnam ihres Heilands zu essen. Es soll Leute geben – normale Bürger! – die tote Kuh- und Schweinebabies auf den Grill werfen! Es soll Leute geben, die zu unbekannten sehr jungen Frauen in einen Wohnwagen gehen und denen für wenig Geld ihren (unbeschnittenen oder beschnittenen) Penis reinrammen. Meine Güte, was finde ich nicht alles barbarisch! Ich fürchte nur, in einer pluralistischen Gesellschaft kann das allein kein Argument sein. Kommen wir also zu den Argumenten?“

Der Redakteur rief an und teilte mir etwas verlegen mit, dass es da ein gewisses Problem gebe. Ich hatte es schon fast befürchtet: Sicher mochte man den Satz mit dem Rammen nicht. Auch ich selbst hatte gezögert: War diese Sprache nicht etwas obszön? Andererseits: Obszön war doch eigentlich nicht das von mir verwendete Wort, sondern die Praxis, um die es geht. Aber das war gar nicht die problematische Stelle.

Der Satz, der gestrichen werden musste, war der mit dem Abendmahl. Es gibt nämlich in NRW ein Gesetz über den Westdeutschen Rundfunk Köln von 1985, wo es heißt: „Die sittlichen und religiösen Überzeugungen der Bevölkerung sind zu achten.“

Diese hängen mit der „besonderen Bedeutung des Rundfunks, speziell des öffentlich-rechtlichen, für die Gesellschaft“ zusammen. Und leider könnte ein Hörer aus meinen Sätzen schließen, dass ich das Abendmahl barbarisch fände. Nun, eigentlich ist unschwer zu erkennen, dass es sich um eine Polemik handelt, eine Kaskade zugespitzter Behauptungen.

Tatsächlich finde ich das Abendmahl nicht barbarisch, ja, nicht einmal unappetitlich. Erstens habe ich in katholischer Religion Abitur gemacht und zweitens ist mir ganz grundsätzlich klar, dass zu einer Religion Geschichten und Riten gehören und dass nicht jeder Ritus einen allgemein erklärlichen „Sinn“ ergeben muss.

Riten sind Riten. Man verleiht ihnen Sinn, indem man sie wiederholt ausführt; nur ganz schlechte Ethnologen stehen vor einem ihnen unbekannten Volksstamm und sagen: Mein Gott, können sich diese Wilden denn nicht etwas Ordentliches anziehen?!


://www.taz.de/Schlagloch-Beschneidung/!96591/

eigentlich habe ich dem nicht mehr viel hinzuzufügen. für meine ohren klingt in dieser "beschneidungsdebatte" ein unangenehmer sarrazinesker unterton an, so ein bißchen nach "wenn die ihren pimmel nur anständig waschen würden, bräuchten sie ihn nicht zu beschneiden", eine (mehrheits)kulturelle überheblichkeit über diese dahergelaufenen, archaischen kulten anhängenden barbaren, die erst mal nicht zu uns gehören und die zweitens, wenn sie uns dennoch ihre unerwünschte anwesenheit aufzwingen, sich gefälligst kulturell unsichtbar zu machen hätten

so in der art von "nur wer bier trinkt und einen schweinsbraten ißt, ist auch als jude oder muslim ein guter deutscher"

ok - auch ich bin schon wieder polemisch geworden. scheint das thema so mit sich zu bringen. aber bin ich denn wirklich der einzige, der auch als vertreter der mehrheitsgesellschaft (deutschsprachige ahnen, christlich geprägter atheist, allesfresser und -trinker, politisch unauffällig und zumindest dem wort nach für die gleichberechtigung aller, sogar der frauen...) das gefühl hat, die gesellschaft verengt sich, setzt immer mehr auf zwang und kontrolle, will einheitlicher und stromlinienförmiger werden?

wo ist denn heute noch platz für das anderssein, ja vor allem für das anderssein wollen? wir werden doch ständig vor allem möglichen "geschützt", nicht zuletzt vor uns selber - und damit eingeengt

rauchen? schadet der gesundheit, gehört daher verboten

radfahren? ja, ist gesund, gut für die umwelt - aber so verdammt gefährlich! am besten nur noch mit helm

kopftuch? ist zeichen der unterdrückung von frauen durch männer, muß daher verboten werden

sympathie für solidarität und soziale sicherheit, die es - neben der unbestrittenen willkür und unterdrückung - in der ddr eben auch gab? führt zwangsläufig zu eben jener willkür und unterdrückung und ist daher zu ächten

berufung auf einen gott, der regeln vorgibt und die man daher befolgt? gut, muß man noch akzeptieren, solange und wo die bataillone des papsts und der protestantenbischöfe noch so mächtig sind - ist aber doch anzeichen eines auszurottenden vormodernen gesellschaftsverständnisses und daher zu bekämpfen - am härtesten bei jenen, die sich (mangels entsprechender bataillone) am wenigsten wehren können

und beschneidung? ha, da haben wir jetzt endlich den hebel gefunden, wo wir ansetzen können. dabei fließt blut! also handelt es sich um körperverletzung. und man begründet das noch nicht mal medizinisch, sondern religiös! das reinste mittelalter also. hier also kann man draufhauen, hier kann man reinsten gewissens den anderen zeigen, wer zu uns gehört und wer nicht. und vor allem können wir wieder mal eine gruppe menschen schützen vor etwas, das sie selber gar nicht bedrohung empfinden


ich weiß schon, die siebziger sind vorbei. heute proklamiert niemand mehr das "lebe frei, wild und gefährlich". aber tut es der mehrheit denn wirklich so weh, wenns auch ein paar weniger oder anders angepaßte gibt, die so manches anders sehen, handhaben und leben? sind wir ein volk von blockwarten geworten, ängstlich darauf bedacht, jegliche abweichung von der norm sofort festzustellen, zu melden und zu unterdrücken?

ich wünsche mir eine gesellschaft, in der jeder tun und lassen kann, was er will - solange er das nicht auch anderen vorschreibt oder diesen die auswirkungen zumutet. der mehrheit seltsam erscheinende riten gehören dazu, sei es das verbrennen und inhalieren von pflanzen, die ausübung selbstgefährdender sportarten, die überzeugung von unüblichen gesellschaftsmodellen, der rituelle kannibalismus mit ersatzlebensmitteln oder eben eine abweichende körperästhetik

wo etwas davon zu weit geht, etwa in der auswirkung auf sich dem allem nicht in mündiger entscheidung selbst unterworfen habende, hat die gesellschaftliche debatte und konstruktive auseinandersetzung mit dem ziel der überzeugung durch argumente den vorrang einzunehmen gegenüber dem diktat der mehrheit durch verbote

jus' my 2 cents, so far
einen gott, den es gibt, gibt es nicht (bonhoeffer)
einen gott, den es nicht gibt, braucht es nicht (petronius)


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beschneidungsverbot, die dritte - wieviel pluralismus ist es, bitte? - von petronius - 08-07-2012, 15:09

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