08-02-2022, 01:15
(05-02-2022, 21:04)Geobacter schrieb:Natürlich sind meine Aussagen über die religiöse bzw. nicht- oder antireligiöse Disposition Verallgemeinerungen, die nicht jeder individuellen Position gerecht werden können. Das gilt ebenso für deine Aussagen zum Ich des Religiösen und zum Narzissmus.(05-02-2022, 18:13)Apollonios schrieb: Das ist der Kern des religiösen Bedürfnisses. Da nun die empirisch erkundbare Natur diesbezüglich nichts hergibt, wird Religion eingeführt und für notwendig erklärt.Schön, gut, böse... sind keine Eigenschaften der Welt, sondern Kategorien des Empfindens. Dass die Natur dafür nichts her gäbe, ist eine glatte Lüge. Was also im Umkehrschluss bedeutet, dass es hier halt nur keine universelle Regel dafür gibt, was dann der oder die Einzelne in seinem/ihrem Empfinden so alles in der Natur zu erkennen oder nicht zu erkennen meint.
(05-02-2022, 18:13)Apollonios schrieb: Dagegen kann der Naturalist einwenden, dass die objektive Fundierung von Werten auch nur ein mentales Konstrukt ohne Korrelat in der Wirklichkeit sei...
Aus dieser Behauptung, die übrigens noch im diametrale Widerspruch zu einigen deiner vorhergehen Aussagen steht, lässt sich jetzt messerscharf herauslesen, dass du selber wohl kein solch besonders ehrlicher "Naturalist" bist, welcher erst mal begriffen haben muss, dass alle Lebewesen, einschließlich uns Menschen, Empfindungs- und Erfahrungswelten sind, mit auch einer ganz eigenen biografischen Entwicklungsgeschichte. So dass da eine objektive Verallgemeinerung, wie die, oder jene die Welt sehen, gar nicht möglich ist. Man kann da höchsten an ihrem beobachtbaren Verhalten in welchem sich ihre Gefühle und Emotionen äußern und auch anhand intersubjektiver Erfahrungswerte, Rückschlüsse ziehen, die dann aber von Fall zu Fall genau zu unterscheiden sind.
Das gilt dann auch für Naturalisten.
Religiös veranlagte Menschen wollen – abgesehen von allem anderen, was sie auch wollen – gut und böse als Eigenschaften der außermentalen Wirklichkeit auffassen. Dieses Bestreben ist eines ihrer Hauptmerkmale. Dafür bietet sich die Gottesvorstellung in Verbindung mit einem Offenbarungstext an, weil der Objektivität der vom Individuum geschätzten Werte dort explizit behauptet wird. So werden die Werte objektiviert und über ihren Status als bloße Urteile des Subjekts hinausgehoben. Auch für das wertende Subjekt bedeutet das eine Aufwertung. Für die Erfüllung dieses Bedürfnisses ist man dann Gott bzw. Jesus dankbar und nimmt die weniger angenehmen Aspekte der Lehre in Kauf.
Die Natur bietet zwar für das, was Menschen als gut bzw. böse empfinden, Anschauungsmaterial, doch sie enthält nichts, was derartige Bewertungen als objektiv richtig und notwendig erweisen könnte. Dem religiösen Menschen geht es aber gerade um die objektive Existenz seiner Wertordnung. Er will die Einstufungen als gut oder böse nicht subjektiver Willkür überlassen, sondern sie in einer äußeren Realität verankern, die mindestens so real sein soll wie die sichtbare Natur. Daraus entspringt auch das christliche Jenseitskonzept: Was die Natur nicht leistet, sollen Himmel und Hölle leisten, nämlich die mentalen Konzepte "gut" und "böse" zu unumstößlichen Tatsachen machen, zu Kriterien, an denen sich die sichtbare Wirklichkeit zu orientieren hat (wie es im "Jüngsten Gericht" geschieht). Das ist das Prinzip, um das es geht – der ursprüngliche Impuls. In den Details der Lehre des kerygmatischen Jesus über Himmel und Hölle wird das dann im damaligen Stil umgesetzt. Diese Lehre krankt an den gravierenden charakterlichen Defiziten ihres Urhebers und seines kulturellen Milieus. Daher sind sein Himmel und seine Hölle – beide gleichermaßen – so scheußlich ausgefallen wie sie sind. Bei der Umsetzung kommt außerdem – nicht überraschend – heraus, dass die eigenen Leute gut sind und am Ende gewinnen, während die Anders- oder Nichtgläubigen böse sind und schließlich besiegt werden. Das ist bei solchen Lehren Standard. Diese primitiven Aspekte bieten der Kritik breite Angriffsflächen. Das sollte aber nicht den Blick darauf verstellen, dass der ursprüngliche Impuls, schon im Tanach, die Objektivierung von damaligen – aus heutiger Sicht natürlich fragwürdigen – Werten ist. Das ist der gemeinsame Nenner der mannigfaltigen religiösen Bestrebungen innerhalb und außerhalb des Christentums. Wenn der Nichtreligiöse das erkennt, kann er in einen sinnvollen Dialog mit dem Religiösen eintreten, weil es dann zumindest eine schmale Gesprächsgrundlage gibt. Damit kommt man über die ansonsten (auch und besonders hier im Forum) übliche gegenseitige Polemik hinaus.
Meine Aussage, dass aus naturalistischer Sicht die objektive Fundierung von Werten nur ein mentales Konstrukt ist, soll nur die naturalistische Position wiedergeben. Diese steht, wie du richtig festgestellt hast, tatsächlich in diametralem Gegensatz zu dem, was ich zuvor bei der Erläuterung der religiösen Position geschrieben habe. Ich wollte eben nur die Unterschiede beschreiben, nicht eine eigene Meinung und Bewertung vortragen.
Persönliche religiöse oder nichtreligiöse Ansichten von Diskursteilnehmern sind hier zwar irrelevant, aber da du das angesprochen hast: Ich selbst bin kein Naturalist, sehe aber im Naturalismus eine Position, die man aus beachtlichen Gründen vertreten kann und die daher ernst genommen werden sollte. Was speziell den Atheismusaspekt betrifft, hat bekanntlich Stendhal festgestellt: "Die einzige Entschuldigung Gottes ist, dass er nicht existiert." Tatsächlich: Wenn man die Welt als Schöpfung betrachtet, ergibt sich gerade daraus schon ein gewichtiges Argument gegen ihren Schöpfer. Er hat ja dann keine Entschuldigung dafür, dass er als intelligent designer so ein stupid design produziert hat. Das ist zwar nicht das letzte Wort zur Kontroverse zwischen Theismus und Atheismus, aber wer eine religiöse Position konsistent begründen will, hat sich damit auseinanderzusetzen, das heißt: mit dem vollständigen Scheitern der Theodizee.